Wer besondere und fast eigenartige Bücher liebt, muss diese Reihe unbedingt lesen!!!
Wen der Rabe ruftSeit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige ...
Seit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige Mischung von klassischer Urban Fantasy und heimeligem Kleinstadtleben mit Geschichtlichem, Märchen, magischen Traumwelten und einer guten Prise Verrücktheit zu überzeugen. Im Laufe der Zeit habe ich schon eine ganze Menge ihrer Bücher gelesen und beschlossen, anlässlich der heute am 2. Mai erscheinenden wunderschönen Neuausgaben im Knaur Verlag nochmal zu den Raven Boys zurückzukehren und die gesamten vier Bände nochmals zu lesen. Da meine alten Rezensionen von 2016-2018 (diese findet ihr übrigens HIER) zum Teil leicht unvollständig sind und ich nicht ausschließen konnte, dass sich bei einem Reread meine Meinung nochmal leicht verändert hat, habe ich beschlossen, neue Rezensionen zu schreiben.
Bevor ich mein erneutes Loblied auf Maggie Stiefvaters Fantasie beginne, wie immer ein paar Worte zum Cover. Während die 2013 bei script5 erschienenen Ausgaben der Reihe eigene Cover hatten, hat sich der Knaur Verlag bei seiner Neuauflage der Reihe sehr stark an den englischen Originalcovern orientiert. Auf diesen sind die Hauptmotive des jeweiligen Bandes in Aquarell-Optik auf einem weißen Grund abgebildet, welche die verträumte Atmosphäre der Geschichte perfekt einfangen. Auf Band 1 ist ein Rabe zu sehen, der mit seinen ausgebreiteten Flügeln, den verspielten Schnörkeln und den roten und blauen Farbakzenten nicht ganz von dieser Welt erscheint. Der Rabe ist ein Motiv, dass uns über die gesamte vierbändige Reihe hinweg begleitet und der Geschichte somit auch einen perfekten Titel verleiht. Die 48 Kapitelanfänge werden von drei verschränkten Linien eingekreist, welche ebenfalls eine spezielle Bedeutung in der Geschichte einnehmen. Kurzum: ich bin einfach hingerissen von der Gestaltung!
Erster Satz: "Blue Sargent wusste mittlerweile schon gar nicht mehr, wie oft ihr gesagt worden war, dass sie ihrer wahren Liebe den Tod bringen würde."
Auch die Geschichte an sich konnte mich innerhalb kürzester Zeit wieder in ihren Bann ziehen. Zwar ist die Autorin nicht unbedingt für ihre Handlungsdichte bekannt und auch in "Wen der Rabe ruft" steigen wir zunächst sehr gemächlich in das Leben der vier Raven Boys und der jungen Blue ein, dennoch ist von Beginn an eine brodelnde Grundspannung vorhanden, welche auch alltägliche Situationen magisch erscheinen lässt. Ich habe lange überlegt, wodurch die wundervolle und packende Atmosphäre dieser Reihe zustande kommt, und würde sie auf drei Größen zurückführen: das unglaublich magische Kleinstadtsetting, die unverbrauchte Idee und der tolle Schreibstil Maggie Stiefvaters.
Das Setting in der kleinen Stadt Henriette im Herzen des ländlichen Virginias wirkt auf den ersten Blick gar nicht wie ein besonderer Schauplatz. Der Autorin gelingt es jedoch, uns im Laufe der Zeit an verschiedene Handlungsorte innerhalb ihres Settings mitzunehmen, die sich so gegensätzlich gegenüberstehen, dass sie beinahe wie unterschiedliche Dimensionen wirken. So wird schon im Setting deutlich, wie vielseitig diese Erzählung ist, welche mehr wie eine Ansammlung kunstvoll miteinander verwobener Einzelgeschichten erscheint, die mich aufs Neue mit ihrem Ideenreichtum verzaubert hat. Zunächst wäre da der lebendige, durchgeknallte Fox Way - ein kleines Häuschen, das neben Blue, ihrer Mutter, ihren Tanten und ihren Cousinen noch allerlei weitere Wahrsagerinnen, skurrile Gegenständen, Magie und Rätsel beherbergt. Diesem wie ein Hexenhäuschen anmutenden Gebäude voller Stimmen, Musik, Telefonen, alten mystischen Dingen, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart steht die kalte, versnobte Aglionby-Privatschule gegenüber, auf die die Raven Boys gehen. Auch in den Wohnorten der Clique um Gansey gibt es jedoch große Unterschiede. Während Gansey, Ronan und Noah in einem Loft in dem ausgebauten Fabrikgebäude Monmouth Manufacturing wohnen, welches dem Labor eines verrückten Erfinders gleicht, haust Adam in einer heruntergekommenen Wohnwagensiedlung und muss sich sein tägliches Brot mit zahlreichen Nebenjobs verdienen. Das sorgt natürlich immer wieder für Konflikte zwischen den Freunden.
"Irgendwo in der Nähe dufteten zum ersten Mal in diesem Jahr Rosen und gemähtes Grad, während von etwas weiter her der Geruch nach feuchter Erde, die unter dem gefallenen Laub vom letzten Herbst erwachte, und Wasser herüberwehte, das in Gebirgsspalten über Felsgestein plätscherte, wo nie ein Mensch hingelangte. Vielleicht hatte Adam ja recht. Die Nacht schien tatsächlich mit irgendetwas geschwängert zu sein, dachte er. Es war, als öffnete etwas, das sie nicht sehen konnten, gerade die Augen."
Zusätzlich zwischen diesen Gegensätzen lässt die Autorin beständig magische Elemente miteinfließen, die neben dem Arbeitsfeld von Blues Familie auch mit Ganseys Suche nach dem verschollenen walisischen König Owen Glendower zu tun haben. Nach einer Legende erweist der schlafende Rabenkönig denjenigen eine Gunst, der ihn findet und erweckt. Seit seiner Kindheit ist Gansey besessen, den König zu finden und vermutet ihn auf einer sogenannten Ley-Linie, welche direkt durch Henrietta verläuft. Diese unsichtbaren Energielinien verbinden verschiedenste prähistorische Kultstätten und werden in manchen Kulturen als heilig bezeichnet, während die Wissenschaft ihre Existenz bestreitet. In Zeiten von überdimensioniert häufig verwendeten Vampirmythen und Zaubermotiven sind eine Ley-Linie und durch deren Magie erwachende magische Kraftorte wie das geheimnisvolle Cabeswater, eine so originelle und unverbrauchte Idee, dass ich beim ersten Lesen gar nicht wusste, was ich mit dieser anfangen sollte. Auch wenn es also auch in der Raven Boys Reihe um typische Themen wie Liebe, Tod, Magie und Prophezeiungen geht, hat Maggie Stiefvater eine erfrischende und neue Art gefunden, eine mystische Geschichte zu erzählen!
"Immer wenn sie die Sterne betrachtete, schien etwas an ihrem Geist zu zupfen, etwas, das sie drängte, dort mehr als nur Sterne zu sehen, Logik in das Chaos des Firmaments zu bringen, ein größeres Bild daraus zu formen."
Neben dem vielseitigen Setting und der originellen Grundidee trägt auch der leicht verrückte, aber unverwechselbare Schreibstil Maggie Stiefvaters zur Entwicklung der Anziehungskraft des bildgewaltigen Epos´ einen großen Teil bei. Mit ruhigen, aber eindringlichen Worten (für die sie auch oft Klammern und Spiegelstriche verwendet) lässt sie die Charaktere und das Setting für einen kurzen Moment wahr werden und schenkt uns einige Stunden voller Fantasie, Magie, Liebe, Freundschaft und düsteren Geheimnissen. In ganz eigener Handschrift schreibt sie mal erklärend, mal kurz angebunden, mal emotional, mal kalt, mal melancholisch, mal locker, mal traurig, mal glücklich, mal wütend, mal resigniert - ein kunterbuntes Durcheinander, das vor allem eines ist: magisch. Dann noch ein paar skurrile Wendungen und überraschende Gedanken und fertig ist die unkonventionelle, magische und einzigartige Geschichte.
"Heute, dachte Blue, ist der Tag, an dem ich aufhöre, nach der Zukunft zu lauschen und stattdessen anfange, sie zu leben."
Zusätzlich zu Stil und Atmosphäre lebt die Geschichte vor allem von den Charakteren. Blue, ihre Raven Boys, ihre Beziehungen zueinander und ihre Entwicklungen während der Reihe lassen den Leser wirklich jeden kleinen Durchhänger, jedes Logikloch in der Handlung und jede Durststrecke verzeihen und geben dem Plot noch das gewisse Etwas, das das Buch so einzigartig macht. Maggie Stiefvater nutzt hier einen personalen Erzähler (der teilweise eher wie ein auktorialer Erzähler wirkt, weil er absichtlich Dinge zu verschweigen scheint) und mischt die Perspektiven ihrer Hauptfiguren ordentlich durch. Dabei wird ohne dass es eindeutig ausgeschrieben wäre wer in welchem Kapitel erzählt, schon nach wenigen Sätzen klar, aus welcher Perspektive wir die Szene gerade erleben. Im Mittelpunkt der Handlung steht die abenteuerlustige Wahrsager-Tochter Blue, welche als schillernder, selbstbewusster, neugieriger und sehr exzentrischer Charakter auftritt und damit wunderbar in den Fox Way passt. Ihr wurde als Kind schon prophezeit, dass sie ihre große Liebe durch einen Kuss töten würde und dementsprechend hält sie einen großzügigen Sicherheitsabstand zu den Raven Boys der Stadt, unwissend, dass sie in vier von ihnen Freunde fürs Leben finden und ein großes Abenteuer mit ihnen erleben würde...
"Jeder dieser Jungen hatte etwas Eigenartiges, Komplexes an sich, dachte Blue - genau wie das Notizbuch. Ihre Leben waren zu einem Netz verwoben und irgendwie war es ihr gelungen, darin hängen zu bleiben."
Neben Blue betrachten wir außerdem die vier Ravenboys Gansey, Ronan, Adam und Noah, von denen einer spannender ist als der nächst. Gansey, welcher eigentlich Richard Gansey III heißt, wirkt mit seiner geschliffenen, höflichen und oftmals auch ungewollt herablassenden Art und seiner gestörten Beziehung zu Geld zunächst wie ein verwöhnter Schnösel. Bald wird jedoch klar, dass er sich bloß hinter dieser glattpolierten Fassade versteckt und viel zu unsicher ist, um der Welt zu zeigen, was wirklich in ihm steckt. In den wenigen Momenten, in denen er sein großes Herz, seine Loyalität seinen Freunden gegenüber und seine Neugier und Leidenschaft für die Suche nach Glendower zeigt, hat er dann aber doch mein Herz gestohlen. Auch Ronan und Adam konnte ich in Windeseile ins Herz schließen. Während Ronan sich durch einen Wall aus Aggressivität und Kälte vor der Trauer um seinen Vater schützt und ein träumerisches Geheimnis verbirgt, leidet der empfindsame Adam sehr unter der Gewalttätigkeit seines Vaters und seiner Abhängigkeit von Gansey. Komplettiert wird die ungleiche Gruppe vom blassen, immer leicht schmuddelig aussehenden Noah, welcher das wohl unglaublichste Geheimnis von allen vieren verbirgt...
"Adam Parrish zu sein, war eine komplexe Angelegenheit, ein erstaunliches Zusammenspiel von Muskeln und Organen, Synapsen und Nerven. Er war ein Wunder aus beweglichen Gliedern, ein Musterbeispiel des Überlebens. Das Wichtigste für Adam Parrish war jedoch stets der freie Wille gewesen, die Möglichkeit, sein eigener Herr zu sein."
Kurzum: Die Figuren bestehen aus einer bunten Mischung, die seltsamer nicht sein könnte, mir aber das Herz erweicht hat, ohne dass ich es bemerkt habe. Maggie Stiefvater setzt Gefühlsbeschreibungen nur ganz dezent und gezielt ein - ganz im Gegensatz zu manch anderen Romanautorinnen wie zum Beispiel Colleen Hoover, deren Gefühlswucht fast erdrückt. Manchen mag das zu spärlich sein, doch ich finde die zarten Andeutungen und leisen Annäherungen sind viel berührender als brodelnde Leidenschaft. Da sich hier sowohl emotional als auch inhaltlich viele auf der Ebene noch An- und Vorausdeutungen abspielt, kann ich allen zukünftigen LeserInnen dieses Buches nur ans Herz legen, es sehr aufmerksam zu lesen und sich dabei viel Zeit zu lassen, denn es gibt im Laufe der komplexen Erzählung so viele Andeutungen, die ich beim ersten Mal einfach überlesen habe und die später nochmal eine tragende Rolle spielen. Dass "Wen der Rabe ruft" nur der Auftakt einer Reihe ist, merkt man auch dem Ende an, welches uns leider mit vielen unbeantworteten Fragen und einem bösen Cliffhanger zurücklässt, sodass ich am liebsten sofort zu Band 2 greifen würde!
"Gansey blickte zu ihnen auf und sie sah ihm an, wie sehr er diesen Ort jetzt schon liebte. Sein unverstellter Gesichtsausdruck beinhaltete etwas völlig Neues: weder das schiere Entzücken, die Ley-Linie gefunden zu haben, noch das verschmitzte Vergnügen, wenn er Blue aufzog. Sie erkannte das seltsame Glück, das einen durchströmte, wenn man etwas liebte, ohne zu wissen, warum; dieses seltsame Glück, das manchmal so groß war, dass es sich wie Traurigkeit anfühlte. Genauso ging es ihr, wenn sie zu den Sternen hinaufsah."
Fazit:
Maggie Stiefvater überzeugt in "Wen der Rabe ruft" mit einem vielseitigen Setting, einer packenden Atmosphäre, einer unverbrauchten Idee, einem unverwechselbaren Schreibstil und einprägsamen Figuren, die sich rasend schnell ins eigen Herz schleichen.