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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.06.2017

Zurück in die 80er

Mofaheld
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Mixkassetten, Rückspulgebühr und Dauerwellen – willkommen zurück in den 80er. Als Marcs Eltern ihr Reihenhaus räumen, taucht auch Marcs alte Schatzkiste wieder auf, prall gefüllt mit Fotos, Konzertkarten, ...

Mixkassetten, Rückspulgebühr und Dauerwellen – willkommen zurück in den 80er. Als Marcs Eltern ihr Reihenhaus räumen, taucht auch Marcs alte Schatzkiste wieder auf, prall gefüllt mit Fotos, Konzertkarten, Kassetten und anderen Dingen. Während Marc seine Schätze durchforstet, reist er in Gedanken zurück in seine Jugend, genauer gesagt ins Jahr 1986: Marc ist 15 Jahre alt und steckt mitten in der Pupertät. Und die ist geprägt von peinlichen Klamotten, ersten sexuellen Probeläufen, Bandproben im Keller seines Freundes Stucki und natürlich Mötley Crüe.

Lars Niedereichholz hat mit „Mofaheld“ einen sehr unterhaltsamen, witzigen Roman vorgelegt, der einen mit einem Schlag zurück in die 1980er katapultiert. Auch das Lebensgefühl pupertierender Jugendlicher bringt Niedereichholz so gut auf den Punkt, dass man sich sofort selbst wieder wie 15 fühlt. Der Schreibstil ist ein bisschen hemdsärmelig, aber auch sehr locker und flockig und eben extrem humorvoll. Ich musste an ganz vielen Stellen echt laut lachen. Die Figuren sind zwar zum Teil ein wenig überzeichnet, aber trotzdem auch authentisch. Marc ist mir sehr ans Herz gewachsen, gerade weil er ein bisschen peinlich und tolpatschig ist und bei ihm recht viel schief läuft. Richtig großartig fand ich aber Marcs Opa mit seinen trockenen Sprüchen und dann babbelt er noch so schön hessisch. Am Ende eines jeden Kapitels schlägt Niedereichholz dann aber ernstere Töne an und nimmt Bezug auf Tschernobyl – denn die Katastrophe hat ja auch das Jahr 1986 geprägt. Natürlich ist die Idee hinter dem Roman nicht besonders neu, trotzdem kann ich das Buch nur weiterempfehlen. Ein Buch voller Witz und Nostaglie – einfach tolle Unterhaltung.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Buch mit Gänsehautfaktor

Der Verehrer
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Nachdem ihr Mann sie für eine andere verlassen hat, flüchtet sich Leona in eine Liebesaffäre mit einer Zufallsbekannschaft: Robert scheint perfekt zu sein – fürsorglich, charmant, aufmerksam, intelligent. ...

Nachdem ihr Mann sie für eine andere verlassen hat, flüchtet sich Leona in eine Liebesaffäre mit einer Zufallsbekannschaft: Robert scheint perfekt zu sein – fürsorglich, charmant, aufmerksam, intelligent. Doch schon bald entpuppt er sich als Psychopath. „Der Verehrer“ ist ein weiteres Buch von Charlotte Link, das mich wieder sehr gut unterhalten hat. Links Schreibstil ist sehr vereinahmend und ich war von der ersten Seite an in der Geschichte drin. Die Figuren sind facettenreich und extrem gut ausgearbeitet, so dass man als Leser einen recht guten Einblick in deren Seelenleben bekommt. Auch wenn man schon recht früh im Buch weiß, dass mit Robert etwas nicht stimmt, ist die Geschichte zu keiner Sekunde langweilig. Im Gegenteil: Es herrscht die ganze Zeit eine gewisse Grundspannung und man wird von den Geschehnissen regelrecht mitgerissen, weil man unbedingt wissen will, warum die Figuren so handeln, wie sie handeln. Und natürlich möchte man auch wissen, ob und wie Leona es schafft, Robert zu entkommen. Ein sehr unterhaltsames, spannendes, kurzweiligs Buch mit Gänsehautfaktor über das Thema Stalking.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Aus dem Leben gegriffen

Das Jahr des Rehs
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Zwei Frauen, ein Jahr und viele E-Mails: 17 Jahre lang haben die ehemals besten Freundinnen Bella und Bine nichts voneinander gehört. Bella lebt als freie Journalistin mit ihrem Sohn in Berlin, Bine ist ...

Zwei Frauen, ein Jahr und viele E-Mails: 17 Jahre lang haben die ehemals besten Freundinnen Bella und Bine nichts voneinander gehört. Bella lebt als freie Journalistin mit ihrem Sohn in Berlin, Bine ist Architektin und samt Mann und Kindern in der hessischen Heimat geblieben. Kurz vor Bines 40. Geburtstag nimmt sich Bella ein Herz und sendet eine Mail an ihre Jugendfreundin. Und Bine antwortet. Sofort ist die alte Vertrautheit wieder da. Über ein Jahr begleitet der Leser nun den E-Mail-Verkehr zwischen den beiden Frauen. Sie berichten sich von ihrem Alltag, ihren Problemen und Ängsten, aber auch von schönen Erlebnissen. Sie durchstehen gemeinsam Höhen und Tiefen, lachen und weinen zusammen.

Mir hat dieser E-Mail-Roman ziemlich gut gefallen. Obwohl es in den Mails doch recht viel um alltägliches geht und hauptsächlich typische Probleme von Frauen in der Midlife-Crisis angesprochen werden, konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Zu sehr haben mich die beiden sympathischen und charismatischen Protagonistinnen gefangen genommen. Und auch der wirklich ansprechende, poetische und warmherzige Schreibstil haben dazu beigetragen, dass ich mich kaum von dem Buch lösen konnte.

Die Handlung war an sich ganz gut, allerdings hat mir da aber ein bisschen der letzte Funke gefehlt. Etwas mehr Abwechslung im Geschehen wäre vielleicht gut gewesen, gerade zum Schluss tritt die Geschichte dann doch ein bisschen auf der Stelle.

Richtig toll fand ich dann aber wieder die Entstehungsgeschichte des Romans, die man im Anhang erfährt: So sind die beiden Autorinnen Stephanie Jana und Ursula Kollritsch tatsächlich ein Jahr lang in die Rollen der Freundinnen Bine und Bella geschlüpft und haben sich aus deren Perspektive E-Mails geschrieben. Und zwar ohne dass sie die Erlebnisse vorher abgesprochen haben. So entstand die Handlung sozusagen improvisiert. Ein Experiment, das meiner Meinung nach in der Summe auf jeden Fall geglückt ist. Herausgekommen ist ein gefühlvoller Briefroman – ehrlich, traurig, lustig, aus dem Leben gegriffen.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Der Untergang einer scheinbar perfekten Familie

Die Geschichte der Baltimores
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Nach seinem erfolgreichen Erstlingsroman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ hat der Schweizer Autor Joel Dicker nun seinen zweiten Roman „Die Geschichte der Baltimores“ vorgelegt. Diesmal weniger ...

Nach seinem erfolgreichen Erstlingsroman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ hat der Schweizer Autor Joel Dicker nun seinen zweiten Roman „Die Geschichte der Baltimores“ vorgelegt. Diesmal weniger ein Krimi, sondern eher ein Familiendrama. Trotzdem zeigen sich Parallelen zum Erstlingswerk – wer also von „Harry Quebert“ begeistert war, wird es auch von diesem Roman sein. Die Parallelen beginnen schon damit, dass Dicker den gleichen Erzähler wählt: Marcus Goldman, ein junger, aufstrebender New Yorker Schriftsteller. Diesmal nur klärt er keinen Mordfall auf, sondern wird von der eigenen Vergangenheit eingeholt und versucht hinter ein dunkles Familiengeheimnis zu kommen.

Marcus hat sich nach Florida zurückgezogen, um eigentlich in Ruhe an seinem neuen Roman schreiben zu können. Aber eine zufällige Begegnung mit seiner Jugendliebe Alexandra lässt die Schatten der Vergangenheit wieder auferstehen und katapultiert Marcus wieder zurück in seine Kindheit und Jugend. Eine Zeit, als er sich für sein mittelständisches Elternhaus in Montclair schämt und nichts sehnlichster wünscht, als zur Familie seines Onkels in Blatimore zu gehören – eine scheinbar perfekte Familie: erfolgreich, wohlhabend, sympathisch. Jede Ferien verbringt Marcus bei seinem Onkel; sein Cousin Hillel und dessen Adoptivbruder Woody werden seine besten Freunde. Doch eines Tages geschieht eine Katastrophe, durch die die heile Welt zerbricht. Erst jetzt, Jahre später, findet Marcus heraus, was wirklich der Auslöser des ganzen Elends war.

Wie schon in seinem Erstling, beweist Dicker auch in seinem zweiten Roman sein Erzähltalent: Mit Hilfe von Rück-, Vorblenden und Cliffhangern baut er eine so immense Spannung auf, dass sich das Familiendrama stellenweise wie ein Thriller liest. Ich war gleich vom ersten Satz an in der Geschichte drin und bin nur so durch die Seiten geflogen. Trotz der verschiedenen Zeitebenen und Nebenstränge verliert Dicker nie den roten Faden und man kann der Handlung gut folgen. Diese Art des Erzählens vertuscht auch ein bisschen die Schwächen des Romans: so waren mir einige Handlungsstränge und Begebenheit doch zu arg konstruiert – wie etwa das Wiedersehen zwischen Marcus und Alexandra. Auch wenn Dicker schon bemüht ist, die Hintergründe für das Handeln seiner Figuren zu erklären, gibt es doch Begebenheiten, die mir am Ende fast zu oberflächlich abgehandelt wurden, wo mir etwas mehr Tiefe gefehlt hat – beispielsweise bei der Geschichte zwischen Saul und Patrick. Relativ gut gelungen wiederum sind Dicker seine Charaktere, sie sind tatsächlich sehr komplex, gefangen zwischen Gefühlen wie Eifersucht, Bewunderung, Hass, Neid und Liebe.

Im Großen und Ganzen ist Dickers Rezept aber aufgegangen: Er hat einen wunderbar spannenden und kurzweiligen Unterhaltungsroman geschaffen und was will man mehr?

Veröffentlicht am 04.06.2017

Portrait einer amerikanischen Kleinstadt

Heartland
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Bashford – ein fiktiver Ort im mittleren Westen der USA. Ein Ort, den man aber trotzdem mühelos überall in den ländlichen Gegenden der USA finden könnte: Ca. 50.000 Einwohner, ein eher unterklassiges College, ...

Bashford – ein fiktiver Ort im mittleren Westen der USA. Ein Ort, den man aber trotzdem mühelos überall in den ländlichen Gegenden der USA finden könnte: Ca. 50.000 Einwohner, ein eher unterklassiges College, ein Wal-Mart-Supercenter und drei McDonalds. Kultur- und Freizeitmöglichkeiten sucht man vergebens. Es gibt ein Villenviertel, in dem die wenigen Reichen der Stadt wohnen, die klassischen Einfamilienhaus-Siedlungen des Mittelstands und den Trailerpark, in dem die unterste Schicht der Gesellschaft haust. Und es gibt den einen großen Arbeitgeber, bei dem die halbe Region beschäftigt ist. In Joey Goebels fiktivem Bashford ist das die Westway Zigarettenfabrik. Die Unternehmerfamilie Mapother ist somit die reichste und einflussreichste Familie im gesamten Umkreis der Stadt. Eines fehlt dem Mapother-Clan aber noch: Ein Sitz im Kongress. Den soll Stammhalter John holen. Doch John ist auch der typische reiche Unternehmersohn, dem vor allem der Zugang zu den unteren Gesellschaftsschichten fehlt – die ja immerhin der Großteil der Wähler sind. Diese zu fangen, dabei soll ihm sein kleiner Bruder Blue Gene helfen. Blue Gene, die Hauptfigur des Romans, hat vor vier Jahren den Kontakt zu seiner Familie vollständig abgebrochen, lebt freiwillig im Trailerpark und verdient sein Geld mit Flohmarktverkäufen. Eher unfreiwillig lässt sich Blue Gene breit schlagen, seinem Bruder beim Wahlkampf zu helfen – dabei macht er eine große Wandlung durch und deckt ein tief vergrabenes Familiengeheimnis auf.

„Heartland“ nur auf ein Genre zu reduzieren wird schwer – Goebel hat zum einen ein gelungenes, scharf beobachtetes Portrait einer typischen Kleinstadt im mittleren Westen vorgelegt. Genauso ist „Heartland“ aber auch eine spannend erzählte Familiensaga, Gesellschaftskritik und politisches Lehrstück mit utopischen Zügen. Richtig gut fängt der Roman die Probleme der amerikanischen „Working Poor“ ein – wie es sich lebt, ohne Krankenversicherung; warum man sich trotz Arbeit keine Wohnung und kein anständiges Essen leisten kann. Auch über die Tricks im Wahlkampf und das Wahlverhalten der Amerikaner erfährt der Leser einiges. Die Charaktere sind extrem gut ausgearbeitet und bleiben im Gedächtnis hängen, weil sie auch sehr außergewöhnlich sind. Am Ende gelingt es Goebel aus der Perspektive der Provinz die Probleme und Politik eines ganzen Landes zu charakterisieren.

Zugegeben, der über 700 Seiten starke Roman hat ein paar unnötige Längen – gerade einige Dialoge drehen sich manchmal etwas im Kreis und so wirkt die Geschichte am Ende etwas überladen. Aus diesem Grund hat mir „Heartland“ nicht ganz so gut gefallen, wie Goebels Romane „Vincent“ und „Ich gegen Osborne“. Trotzdem hab ich den Roman gern gelesen und kann ihn nur weiterempfehlen – gerade auch im Hinblick auf die vergangene Präsidentschaftswahl in den USA. Ein kluges, ernstes Buch.