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Veröffentlicht am 05.05.2022

So muss Urban Fantasy sein

Die Silberkammer in der Chancery Lane
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Will man sich detailliert über die Geschichte Londons informieren, gibt es drei Möglichkeiten, die ich allesamt nachdrücklich empfehlen kann. Erstens: Vor Ort bietet sich das informative und sehr gut kuratierte ...

Will man sich detailliert über die Geschichte Londons informieren, gibt es drei Möglichkeiten, die ich allesamt nachdrücklich empfehlen kann. Erstens: Vor Ort bietet sich das informative und sehr gut kuratierte Museum of London an. Zweitens: Peter Ackroyds brillantes Buch „London – Die Biographie. Und dann gibt es noch die dritte Möglichkeit für all diejenigen, die Historisches am liebsten verpackt in einer spannenden Story lesen. Denen empfehle ich die Rivers-of-London Romane von Ben Aaronovitch, in der man gemeinsam mit Peter Grant, Bobby bei der Metropolitan Police, tief in die Geschichte der englischen Metropole eintauchen kann. In „Die Silberkammer in der Chancery Lane“, dem aktuellen Band dieser Urban-Fantasy-Reihe, wird der Radius sogar erweitert, denn Peter muss im Zuge der Ermittlungen nicht nur in den englischen Norden reisen, sondern kommt auch in Kontakt mit Ereignissen, die bis ins Mittelalter und zu Oliver Cromwell zurückreichen.

Die unterirdischen „London Silver Vaults“ beherbergen die größte Silbersammlung der Welt. 1885 ursprünglich als Tresorräume für Privatleute konzipiert, wurden die sicheren Räumlichkeiten im Lauf der Jahre zunehmend von Silberhändlern genutzt und sind mittlerweile quasi eine Shopping Mall für Silberwaren. Als von dort ein versuchter Raubüberfall mit Todesfolge gemeldet wird, der eindeutig übernatürliche Züge zeigt, wird das Team von Thomas Nightingale, Inspektor und letzter Zauberer Englands, sein Protégé Peter Grant, der mittlerweile auch als Ausbilder tätig ist, die Praktikantin Danni Wickford und DS Sahra Guleed zum Tatort gerufen. Nicht nur, dass der Tote ein riesiges Loch in der Brust hat, bei der Autopsie findet Dr. Walid in dessen Körper einen Metallzylinder mit einer Vestigia-Signatur. Mit dieser Art Magie können weder Nightingale noch Grant etwas anfangen. Erst die Befragung der Ex-Frau des Ermordeten weist die Richtung, aber noch ist nicht allen Beteiligten klar, worum es letztlich geht. Vor allem rechnet niemand damit, dass dieser Ring noch weitere Todesopfer fordern wird.

Aaronovitch verbindet in dieser Reihe die Merkmale des klassischen Polizeiromans mit jeder Menge Fantasyelementen, verortet dies an realen Locations, webt interessante Hintergrundinformationen ein und garniert das alles mit einer unterhaltsamen Prise englischen Humors, die an Monty Python erinnert. So muss Urban Fantasy sein: Spannung, Fantasy, Historie und Witz, eine absolut gelungene Mischung, die immer wieder eine höchst vergnügliche Lektüre garantiert. To be continued…ich freue mich darauf.

P.S. Das Gendern in der Übersetzung hätte man sich schenken können.

Veröffentlicht am 27.04.2022

Die Macht der Sprache

Die Sammlerin der verlorenen Wörter
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„Wörter definieren uns, sie erklären uns, und manchmal dienen sie auch dazu, uns zu kontrollieren oder zu isolieren.“ (S. 505)

Kein Internet, keine Wikipedia, deshalb waren während Schulzeit und Studium ...

„Wörter definieren uns, sie erklären uns, und manchmal dienen sie auch dazu, uns zu kontrollieren oder zu isolieren.“ (S. 505)

Kein Internet, keine Wikipedia, deshalb waren während Schulzeit und Studium das Oxford Dictionary neben Duden und Brockhaus meine ständigen Begleiter. Gedanken darüber, wie die Wörter und Definitonen in die Nachschlagewerke gekommen sind, habe ich mir aber nie gemacht. Diese Leerstelle, zumindest im Hinblick auf das englische Wörterbuch, füllt die Sozialwissenschaftlerin Pip Williams mit ihrem ersten Roman „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“, in dem sie dessen Entstehung aus der Sicht von Esme Nicoll begleitet.

Esme ist die Tochter eines alleinerziehenden Lexikographen, der als Mitarbeiter von Sir James Murray an der Erstellung der ersten Ausgabe des ersten Oxford English Dictionary mitarbeitet. Der Vater ist einer von vielen Helfern, sammelt und katalogisiert die auf Zetteln eingesandten Worte samt Definitonen. Interessanterweise wird aber nicht jedes dieser Worte wichtig genug, um einen Platz im OED zu finden. Das merkt auch Esme ziemlich schnell, die ihren Vater bei seiner Arbeit begleitet und ihm die vom Tisch heruntergefallenen Einsendungen reicht. Auf einem dieser Zettel steht „Bonemaid“ (= Magd, im weitesten Sinn), ein Wort, das sie ihr Leben lang begleiten wird und Antrieb für all ihre Bemühungen ist, hat ihr Vater diesen Zettel doch umgehend entsorgt.

Und so fängt sie an, diese ausrangierten Begriffe zu sammeln und stellt fest, dass sie alle eine Gemeinsamkeit haben. Bei ihnen geht es ausnahmslos um Erfahrungen und Dinge des täglichen Lebens der Frauen und der einfachen Bevölkerung. In ihr reift der Plan, aus diesen „verlorenen“ Worten ihr eigenes Wörtbuch zu schaffen, damit auch diese Menschen gehört werden. Aber dafür muss sie zuerst einmal den Universitätskosmos verlassen und in deren Welt eintauchen.

Die zeitliche Einordnung ist immens wichtig für diesen Roman, der 1887 beginnt und weit bis ins zwanzigste Jahrhundert hineinreicht. Das Viktorianische Zeitalter neigt sich dem Ende zu, die Industrialisierung nimmt Fahrt auf, es ist eine Zeit des Wandels, die ganz allmählich gesellschaftliche Veränderungen einläutet. Die bestehenden Klassenunterschiede werden thematisiert, die Rolle der Frauen hinterfragt, die Suffragetten fordern das Wahlrecht und gehen auf die Barrikaden und der Erste Weltkrieg steht vor der Tür. All dies wird aus Esmes Sicht beschrieben und festigt sie in ihrer Meinung, dass es die Sprache der Männer ist, die die Gegenwart regiert, Geschichte schreibt, die Stimmen der Frauen außen vor bleiben.

Ein berührender, und ja, auch ein feministischer Roman über die Macht der Sprache, der Anstösse gibt und zum Nachdenken anregt.

Veröffentlicht am 24.04.2022

Brisantes Thema, hochspannend umgesetzt

Mörderische Witwen
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Mein Interesse an skandinavischen Krimis hat in den vergangenen Jahren spürbar abgenommen. Zum einen liegt das an der Vielzahl der mittelmäßigen Autoren, die den Buchmarkt überschwemmt haben, zum anderen ...

Mein Interesse an skandinavischen Krimis hat in den vergangenen Jahren spürbar abgenommen. Zum einen liegt das an der Vielzahl der mittelmäßigen Autoren, die den Buchmarkt überschwemmt haben, zum anderen an der Banalität der Themen, die sich kaum noch von denen der üblichen Massenware unterscheiden.

Einer der wenigen Autoren, die aus dem Angebot herausstechen, ist Pascal Engman, ein ehemaliger Journalist, der in seiner Vanessa-Frank-Reihe mit kritischem Blick auf sein Heimatland Schweden schaut und in seinen Romanen Themen aufgreift, die an den Pfeilern der schwedischen Gesellschaft rütteln. Rechtsnationalismus, Misogynie und nun IS-Terrorismus in „Mörderische Witwen“.

Die Prostituierte Molly bewegt sich in einflussreichen Kreisen und hört zufällig ein Gespräch mit brisantem Inhalt an.

Der Sohn des IT-Experten Axel wird bei einem Unfall mit Fahrerflucht lebensgefährlich verletzt, woraufhin dieser alles daran setzt, den Verantwortlichen ausfindig zu machen.

Nicolas Paredes arbeitet mittlerweile als Bodyguard für eine vermögende Familie, deren Oberhaupt in dubiose Geschäfte verwickelt ist.

Zwei Tote im Park. Ein Polizist, erschossen. Eine weibliche Unbekannte, erstochen. Als klar ist, um wen es sich bei ihr handelt, bricht für Vanessa Frank eine Welt zusammen. Obwohl sie von dem Fall abgezogen wird, ermittelt sie weiter und fördert Informationen zutage, die ihr den Boden unter den Füßen wegziehen.

Europäische Frauen, verheiratet mit aktiven IS-Kämpfern und nach deren in ihre Heimatländer zurückkehren, um dort den Kampf weiterzuführen. Ein aktuelles, politisch brisantes Thema, das in den zurückliegenden Monaten vielfach durch die Presse gegangen ist. Authentisch und realistisch.

Viele Handlungsstränge, anfangs sauber getrennt, die sich im Verlauf der Story schlüssig verbinden. Unterschiedliche Perspektiven, die parallel abwechselnd in kurzen Kapiteln geschildert werden. Nicht verwirrend, sondern logisch aufeinander aufgebaut und sich allmählich verzahnend. Hohes Tempo, keine Längen. Spannung, die kontinuierlich wächst und das Interesse hoch hält. Das beherrscht kaum ein Thrillerautor so perfekt wie Pascal Engman.

Veröffentlicht am 11.04.2022

Leander Losts Extratour

Einsame Entscheidung
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Leander Lost, ursprünglich von seinem deutschen Arbeitgeber im Rahmen eines Austauschprogramms nach Portugal abgeschoben, hat sowohl beruflich als auch privat seinen Platz im portugiesischen Fuseta gefunden. ...

Leander Lost, ursprünglich von seinem deutschen Arbeitgeber im Rahmen eines Austauschprogramms nach Portugal abgeschoben, hat sowohl beruflich als auch privat seinen Platz im portugiesischen Fuseta gefunden. Seine Teamkollegen von der Policia Judiciaria mögen und respektieren ihn, schätzen die besonderen Fähigkeiten, die er als Asperger-Autist mitbringt und die so manches Mal für die Auflösung eines Falls entscheidend sind.

Der Leichenfund in einem Ferienhaus lässt ein Beziehungsdrama vermuten, denn die weibliche Begleitung des toten Briten ist spurlos verschwunden. Einzig Leander Lost hegt Zweifel an dieser einfachen Erklärung, denn warum ist der Leichnam barfuß und seine Schuhe nirgends zu finden? Zwar erntet er für sein Insistieren auf dieser Besonderheit das Kopfschütteln seiner Kollegen, aber da er in der Vergangenheit durch seine besondere Beobachtungsgabe und Detailbesessenheit schon oft zur Lösung der Fälle beigetragen hat, lässt Graciana das Team in alle Richtungen ermitteln. Die Hauptverdächtige, Antonia, kann schnell gefunden werden. Bei ihrer Befragung stell sich heraus, dass sowohl sie als auch ihr toter Kollege für einen Chemiekonzern tätig sind, dessen neuestes Produkt kurz vor der Markteinführung steht. Ein Düngemittel, das weltweit und gerade im südeuropäischen Raum, in dem durch die intensive Nutzung der Agrarflächen Raubbau mit der Natur betrieben wird (wer schon einmal in Almeria war, weiß wovon ich rede), für die Produzenten von unschätzbarem Vorteil, aber für die Konsumenten mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden wäre.

Ein brisanter Fakt, der nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll, weshalb das Unternehmen mit Hilfe von Sonderermittlern aus Lissabon Antonia mundtot machen möchte. Eine Vorgehensweise, die Leander, der sich immer und überall der absoluten Wahrheit verpflichtet fühlt, nicht tolerieren kann. Und so trifft er eine „Einsame Entscheidung“, handelt, zumindest für Außenstehende, entgegen jeder Logik.

Auch dieser fünfte Band der Leander Lost-Reihe hält das für einen Urlaubskrimi ausgesprochen hohe Niveau, das Gil Ribeiro aka Holger Karsten Schmidt bereits in den Vorgängern gezeigt hat, denn das Thema, das dem Kriminalfall diesmal zugrunde liegt, ist aktueller, politischer, und geht uns alle an. Aber dennoch lässt die Rahmenhandlung rund um das Team von Sub-Inspektorin Graciana Rosado (und deren Familie) den gewohnten Charme nicht vermissen.

Eine Krimireihe mit schöner portugiesischer Atmosphäre, in der die Menschen und ihre Beziehungen untereinander ein elementarer Faktor sind, aber die jeweiligen Fälle nicht in den Hintergrund gedrängt werden. Hier erkennt man deutlich die Qualität des Drehbuchautors. Liebenswerten Protagonisten, die man gerne in Aktion sehen möchte. Es wird uns vergönnt sein, denn Band 1 „Lost in Fuseta“ ist bereits abgedreht und wird im Herbst 2022 als Zweiteiler in der ARD ausgestrahlt. Ich freue mich darauf!

Veröffentlicht am 07.04.2022

Freud und Leid einer Hobbygärtnerin

Neulich im Beet
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„Auf dem Boden der Tatsachen“ heißt die Kolumne der Journalistin Stefanie Flamm in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT, in der sie die Leser*innen regelmäßig mit Informationen über ihren Garten in der Uckermark/Brandenburg ...

„Auf dem Boden der Tatsachen“ heißt die Kolumne der Journalistin Stefanie Flamm in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT, in der sie die Leser*innen regelmäßig mit Informationen über ihren Garten in der Uckermark/Brandenburg versorgt und gleichzeitig durch das Gartenjahr führt. Nun gibt es in dem Buch „Neulich im Beet“ die gesammelten Artikel mit wunderschönen Illustrationen von Monika Dietrich-Bartkiewicz.

Flamm lebt mit ihrer Familie in Berlin, aber wie so viele Hauptstädter haben sie sich ein Wochenendgrundstück in der nahegelegenen Uckermark gekauft. Und was machen die Städter am Wochenende auf dem Land, wenn die Angebote zur Freizeitgestaltung dünn gesät sind? Richtig, sie buddeln in der Erde, beschließen, das Grundstück in die Gärten von Sanssouci zu verwandeln und träumen von einem Leben als Selbstversorger. Mit der Bodenqualität könnte man das zur Not ja noch realisieren, aber zu dumm, dass die Uckermark die regenärmste Gegend Deutschlands ist. Aber probieren kann man es, gibt ja sonst nicht viel zu tun. Also Ärmel hochkrempeln und ran an den Spaten-

Ein Blick auf den Untertitel verrät es schon: „Alles dauert ewig, und die Hälfte misslingt“. Die Pflänzchen dienen den Schnecken als Imbiss, die Krokuszwiebeln holen sich die Wühlmäuse. Und dann wagt sie sich auch noch an so exotische Pflanzen wie Artischocken und Radicchio, auch mit mäßigem Erfolg, dafür von den Einheimischen misstrauisch beäugt. Einzig die Kürbisse gedeihen auf dem Komposthaufen in Mengen, so dass sie die prächtigen Exemplare freigiebig an die Dorfbewohner verteilen kann und sich so deren Anerkennung verdient.

Es ist kein Gartenbuch, bietet keine Anleitungen für erfolgreiches Gärtnern, dafür aber jeder Hobbygärtnerin unzählige und äußerst unterhaltsame Genau-so-ist-es Momente. Und so kann man der zweiten Hälfte des Untertitel bedenkenlos und uneingeschränkt zustimmen: „Aber es gibt nichts Schöneres als Gärtnern“.