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Veröffentlicht am 22.05.2022

Anna Burns – Amelia

Amelia
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In Belfast aufzuwachsen und zu überleben erfordert eine gewisse Gelassenheit und Cleverness. Auch wenn man es nicht so nennt, es herrscht Krieg auf den Straßen und in den Häusern und Kinder wie Amelia ...

In Belfast aufzuwachsen und zu überleben erfordert eine gewisse Gelassenheit und Cleverness. Auch wenn man es nicht so nennt, es herrscht Krieg auf den Straßen und in den Häusern und Kinder wie Amelia Lovett lernen schon in jungen Jahren, wer Freund ist, wer Feind ist und wann ein Feind auch mal zu Freund werden kann, weil es einen anderen, gemeinsamen Feind gibt. Gewalt spielt sich tagtäglich vor ihren Augen ab, gehört zu Leben wie die Schule. Da muss man manchmal gedanklich einfach abschweifen, um all das zu vergessen, was sich um einen rum zuträgt, denn sonst schlägt sich das irgendwann nieder.

Ihr Roman „Milchmann“ wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Man Booker Prize, dem National Book Critics Award und dem Orwell Prize, was die nordirische Autorin Anna Burns weit über ihre Heimat hinaus bekannt machte. „Amelia“ ist ihr Debüt aus dem Jahr 2001, welches ebenfalls von den Kritikern begeistert aufgenommen wurde und für zahlreiche Preise nominiert war. Beide Romane haben gemein, dass die Autorin mit einer ungeschönten, direkten Sprache das alltägliche Grauen, dem die Mädchen bzw. junge Frauen ausgesetzt sind, schildert und den Leser damit ins Mark trifft. Es ist manchmal nur schwer auszuhalten – verglichen jedoch mit der Realität, die sie einfängt, ist das Lesen ein Klacks, wenn man es sich realistischer Weise vor Augen führt.

Die Kinder leben während der Troubles eine Normalität, die man sich kaum vorstellen kann. Tote, Blut, Gewaltexzesse – nichts bringt sie mehr aus der Ruhe, weil es so normal ist, dass im Puppenwagen genauso gut eine Bombe wie eine Puppe liegen könnte oder dass der Vater oder Bruder morgen schon zu den Opfern gehören könnte. Die Frauen sind gleichermaßen abgestumpft und tragen ihre Streitigkeiten ebenso gewalttätig aus, wie die Männer. Es wirkt geradezu grotesk, wie Amelia die Tage zählt, bis ihr Elternhaus an der Reihe ist, niedergebrannt zu werden, nun ja, Troubles eben. Dass dies nicht ohne Spuren bleiben kann, gerade auch weil selbst innerhalb der Familie keine Loyalität zu erwarten ist, verwundert nicht. Die Spuren der Verwüstung ziehen sich zwar in anderer Art, aber nicht weniger heftig durch ihr Erwachsenenleben.

Die Geschichte Amelias überspannt mehrere Jahrzehnte, es sind kurze Kapitel, nur Episoden, die jedoch eindrücklich nachwirken. Sie erscheinen wie Flashbacks, böse Erinnerungen, die sich eingebrannt haben und die Amelia nicht mehr los wird. Narben, die sie zeichnen und eine von vielen Geschichten eines Landes im andauernden Ausnahmezustand erzählen.

Veröffentlicht am 17.05.2022

Leonid Zypkin - Die Winde des Ararat

Die Winde des Ararat
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Der Berg Ararat, ein ruhender Vulkan im türkisch-armenisch-iranisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet, ist das Ziel einer Auslandsreise von Boris Lwowitsch und seiner Frau Tanja. Aufgeregt sind sie ob der ...

Der Berg Ararat, ein ruhender Vulkan im türkisch-armenisch-iranisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet, ist das Ziel einer Auslandsreise von Boris Lwowitsch und seiner Frau Tanja. Aufgeregt sind sie ob der Eindrücke der Fremde, wo alles so anders verläuft als in der sowjetischen Hauptstadt, wo der Jurist und die Verwaltungsangestellte angesehene Leute sind. Aber was soll man auch erwarten, fernab des Machtzentrums, wo sich die Menschen verdächtig verhalten und sogar erdreisten Boris und Tanja kurzerhand aus dem Hotel zu werfen. Eine Reise mit Hindernissen, die jedoch auch zeigt, was möglich sein könnte, in einem anderen Land, in einem anderen Leben.

Der russische Mediziner und Autor Leonid Borissowitsch Zypkin schrieb weitgehend für die Schublade, nachdem sein Sohn und dessen Frau aus der Sowjetunion ausgewandert waren und der Autor mit einem Veröffentlichungsverbot belegt wurde. Sein bekanntester Roman „Ein Sommer in Baden-Baden“ musste über Bekannte außer Landes geschmuggelt werden und wurde in New York veröffentlicht, nur eine Woche bevor Zypkin einem Herzanfall erlag. „Die Winde des Ararat“ entstand unter dem Titel „Norartakir“ bereits in den 1970ern, jetzt erstmals in deutscher Übersetzung.

Eines der Kapitel ist mit „Rache“ überschrieben, was symptomatisch für den Roman ist. Boris und Tanja gehören zu jenen, denen es im sowjetischen Moskau gut geht, die sich Auslandsreisen erlauben können. Doch sie können nicht schätzen, welches Glück sie haben und so rächt sich die fremde Welt an ihnen. Das System, das sie noch verteidigen, wendet sich gegen sie und trifft sie mit voller Härte, indem sie ihr Zimmer für eine Gruppe unbedeutender Menschen räumen müssen und zu Bittstellern werden.

Das Buch als Ganzes kann als Rache des Autors gegen das Land gelesen werden, das ihm das Veröffentlichen untersagte. Das Land war festgefahren wie Boris und Tanja, begrenzt im Blick, unfähig sich zu öffnen und zu entwickeln.

Literatur aus dem inneren Exil, da das äußere verwehrt blieb. Heute ein lesenswertes Zeitzeugnis.

Veröffentlicht am 01.05.2022

Francesca Reece - Ein französischer Sommer

Ein französischer Sommer
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Warum er genau sie engagiert, weiß Leah nicht, aber neben den Aushilfsjobs als Englischlehrerin und Bedienung in einem Café ist die junge Engländerin froh, einen echten Job zu finden. Paris war eigentlich ...

Warum er genau sie engagiert, weiß Leah nicht, aber neben den Aushilfsjobs als Englischlehrerin und Bedienung in einem Café ist die junge Engländerin froh, einen echten Job zu finden. Paris war eigentlich nur für ihr letztes Studienjahr gedacht, aber aus Angst vor der Arbeitswelt in London ist sie Frankreich geblieben und treibt seither ziellos durch die Stadt. Der Autor Michael Young stellt sie als Assistentin ein, die seine Tagebücher digitalisieren und seine Korrespondenz bearbeiten soll, damit er wieder die Zeit findet, sich dem Schreiben zu widmen. Gemeinsam mit seiner Familie lädt er Leah ein, den Sommer in der südfranzösischen Villa verbringen. Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein, doch es dauert nicht allzu lange, bis am Sommerhimmel dunkle Wolken aufziehen.

Francesca Reeces Debütroman „Ein französischer Sommer“ spielt zwar im Jahr 2016, erinnert aber stark an das Bohème Leben einer längst vergangenen Zeit. Das kultivierte Nichtstun an der Mittelmeerküste, wo sich die Intellektuellen im Sommer in den Villen niederlassen, entstammt einem anderen Lebensgefühl, dazu passt auch der Schreibstil, der wundervoll fließt und sich stark von dem aktueller Romane abhebt. Auch die Figurenkonstellation ist geradezu typisch mit dem alternden, erfolgsverwöhnten Autor, seinen erwachsenen Kindern, die mit dem goldenen Löffelchen im Mund aufgewachsen sind, und der Außenseiterin, die sich zwar durch das Studium in den erlauchten Kreis der Intellektuellen vorgearbeitet hat, aber ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu und die fehlende Nonchalance im Umgang den Erfolgreichen und Schönen nicht verstecken kann.

Leah ist eine durchaus sympathische Protagonistin, die mit ihrem Verlorensein in der Welt und der Verweigerung eines Karriereplans einen gewissen Typ ihrer Generation repräsentiert. Sie ist in den Gedanken des Bohème-Daseins in Paris verliebt, wie sie es aus der Literatur kennengelernt hat. Die Rolle des Mauerblümchens, vom dem man ahnt, dass es unter die Räder der falschen Gesellschaft gerät, füllt sie hervorragend aus.

Als Kontrast der souveräne alternde Autor, dessen Motive zunächst unklar bleiben. Die Villa füllt sich nach und nach, Leah verliert die Distanz und fühlt sich fast schon in der Gesellschaft angekommen, zu der sie jedoch nicht gehört. Es folgen leider sehr vorhersehbare Versatzstücke – der Streit, der unerwartete Gast, der das Geheimnis lüftet, plötzlich auftauchende alte Fotos, die Fragen aufreißen – die dem Inhalt die Spannung und Originalität nehmen.

Wegen der überzeugenden Atmosphäre und der gelungenen sprachlichen Umsetzung doch noch wohlwollende Leseempfehlung, auch wenn die Geschichte leider nur eine Variante eines unzählige Male bereits erzählten Themas ist.

Veröffentlicht am 27.04.2022

Seraina Kobler - Tiefes, dunkles Blau

Tiefes, dunkles Blau
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Rosa Zambrano hatte die Kripo eigentlich für die Seepolizei in Zürich verlassen, doch nun muss sie die alten Kollegen im Falle des Mordes an Dr. Jansen unterstützen. Er ist just der Arzt, bei dem sie nur ...

Rosa Zambrano hatte die Kripo eigentlich für die Seepolizei in Zürich verlassen, doch nun muss sie die alten Kollegen im Falle des Mordes an Dr. Jansen unterstützen. Er ist just der Arzt, bei dem sie nur wenige Tage zuvor Eizellen hat einfrieren lassen. Neben seiner Praxis hat er Geld in ein Biotech Unternehmen investiert, das eine mögliche Spur in dem Mordfall darstellen könnte, die Chefin erscheint nicht nur abgebrüht, sondern durchaus auch mit Motiv. Aber auch im Privatleben des Opfers gibt es mehr als eine verärgerte Frau: die Noch-Gattin hat nicht vor ihn bei der Scheidung einfach davonkommen zu lassen, die zahlreichen Damen, zu denen er im überregional bekannten Bordell Kontakt unterhielt, verhalten sich ebenfalls verdächtig. Und dann ist da noch eine unbekannte Nummer, die er in den letzten Monaten immer wieder angerufen hat. Ein komplexes Geflecht, das auch immer wieder Rosas Privatleben streift.

Den ersten Fall für die Seepolizistin hat die Journalistin und Autorin Seraina Kobler in ihrer Wahlheimat Zürich angesiedelt und die Handlung stark auch mit den lokalen Örtlichkeiten verbunden. Auch wenn der Schauplatz in der größten Stadt der Schweiz angesiedelt ist, hat man in „Tiefes, dunkles Blau“ doch auch immer wieder das Gefühl eher im ländlich beschaulichen Raum zu sein, vor dem Mord und Totschlag bekanntermaßen auch nicht Halt machen. Und so sind es letztlich auch die bekannten Todsünden Habgier, Neid und Stolz, die maßgeblich die Handlung bedingen.

Vieles findet sich, was typischerweise in den cosy crime Romanen vorkommt: es wird immer wieder ausgiebig gegessen, auch die Landschaft rund um den Zürichsee wird ausführlich bedacht und ihr kommt durchaus auch eine entscheidende Rolle im Fall zu. Die Autorin verbindet dies jedoch mit der hochmodernen CRISPER Technologie und den aus der Erbgutmanipulation entstehenden ethischen Fragen. Dass es ist diesem Bereich nicht nur um wissenschaftliche Ehre, sondern vor allem um sehr viel Geld geht, bereitet den passenden Nährboden für einen unterhaltsamen und komplizierten Fall.

Auch wenn mich selbst die Protagonistin jetzt nur bedingt ansprechen konnte, ist die Geschichte doch insgesamt rund und packend.

Veröffentlicht am 16.04.2022

Keiichirō Hirano - Das Leben eines Anderen

Das Leben eines Anderen
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Die ehemalige Klientin Rie wendet sich an den Scheidungsanwalt Akira Kido. Ihr zweiter Ehemann kam bei einem Unfall ums Leben. Sie hatten nicht viel Zeit miteinander, nicht einmal vier Jahre, und nach ...

Die ehemalige Klientin Rie wendet sich an den Scheidungsanwalt Akira Kido. Ihr zweiter Ehemann kam bei einem Unfall ums Leben. Sie hatten nicht viel Zeit miteinander, nicht einmal vier Jahre, und nach seinem Tod hat sie zunächst den Wunsch ihres verstorbenen Gatten akzeptiert und dessen Familie nicht über das Unglück informiert. Nur wenig wusste sie über sein Vorleben, er hatte damit abgeschlossen und neu begonnen. Zum ersten Todestag jedoch nimmt sie Kontakt mit dem Bruder auf und muss zu ihrem Schrecken feststellen, dass der Mann, mit dem sie glaubte verheiratet zu sein, nicht der war, als der er sich ausgab. Sie beauftragt Kido mit den Nachforschungen, um die Identität des Verstorbenen herauszufinden.

Schon seit über 20 Jahren ist Keiichirō Hirano eine bekannte Größe in der japanischen Literaturszene und er wurde bereits mit zahlreichen Preisen geehrt. „Das Leben eines Anderen“, der mit dem angesehenen Yomiuri Prize for Literature ausgezeichnet wurde, ist sein erster Roman, der in deutscher Übersetzung erschienen ist und der derzeit fürs Kino verfilmt wird. Im Zentrum steht die Suche nach dem Unbekannten und damit eng verbunden die Frage, wie sehr das eigene Leben von der Familie und der Familiengeschichte bestimmt wird oder bestimmt werden darf.

Die langwierige Recherche Kidos ist der rote Faden der Handlung. Bald schon offenbart sich jedoch, dass das zentrale Thema mehrere der Figuren betrifft. Kido selbst ist koreanischer Abstammung, was im Japan der Gegenwart immer noch mit Vorurteilen behaftet ist. Zainichi kamen während der Kolonialzeit als Arbeitskräfte nach Japan, verloren später jedoch die Staatsangehörigkeit, jedoch werden auch zweite und dritte Generation nach wie vor als Fremde betrachtet und sind immer wieder, gerade in Zeiten von wirtschaftlichen Unsicherheiten verschiedenen Formen von Fremdenfeindlichkeit und Verachtung ausgesetzt. Kido ist sich dessen bewusst, auch die Vorbehalte der Familie seiner Frau vor der Heirat waren ihm bekannt. Er kann seine Herkunft nicht abstreifen, hat aber auch gelernt defensiv mit ihr umzugehen.

Genau diese Herkunft ist es auch, die zum Schlüssel für das Auflösen des Mysteriums um den Unbekannten wird. Er hat sich entschieden das Leben eines Anderen anzunehmen und sein eigenes abzustreifen. Auch Ries Sohn hadert im Laufe der Geschichte damit, wer er ist, ob er mehr von seinem leiblichen oder mehr von seinem Ziehvater mitbekommen hat und was deren Familiengeschichten für ihn bedeuten.

Die Vergangenheit kann man nicht ändern – aber die Zukunft liegt in der eigenen Hand. Ein sehr japanischer Roman, der weitere für mich unbekannte Facetten des fernöstlichen Landes offenbart.