Profilbild von Winter-Chill

Winter-Chill

Lesejury Profi
offline

Winter-Chill ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Winter-Chill über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.06.2017

Flucht vor der Wirklichkeit

Der unsichtbare Gast
0

Sie wollen vor der Wirklichkeit fliehen und werden dann härter den je von ihr überrollt – Mit „Der unsichtbar Gast“ ist der schwedischen Autorin Marie Hermanson ein vielschichtiger, packender und stimmungsvoller ...

Sie wollen vor der Wirklichkeit fliehen und werden dann härter den je von ihr überrollt – Mit „Der unsichtbar Gast“ ist der schwedischen Autorin Marie Hermanson ein vielschichtiger, packender und stimmungsvoller Roman gelungen, der lange in einem nachklingt.

Der Leser begleitet Martina, die die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt. Bei Martina läuft es momentan nicht gerade rund: In ihrem derzeitigen Job als Zimmermädchen wird sie ausgebeutet und dann wird ihr auch noch die Wohnung gekündigt. Da trifft Martina ihre alte Freundin Tessan wieder. Tessan erzählt von ihrer Arbeit als Haushälterin bei Florence Wendman, einer alten Dame, die auf Gut Glimmenäs lebt. Kurzerhand begleitet Martina Tessan
auf das Gut und ist begeistert: Auf dem ganzen Anwesen scheint die Zeit stehen geblieben zu sein und Martina kommt sich vor wie in einem Film, der in den 1940er spielt. Doch nicht nur das Haus hat sich seitdem nicht verändert, auch Florence lebt geistig im Jahr 1943 – da war sie ein junges Mädchen. Tessans Aufgabe als Haushälterin besteht im Endeffekt darin, die Vergangenheit aufrecht zu erhalten. Auch Martina findet eine Anstellung auf dem Gut, als Florences Sekretärin. Die beiden jungen Frauen glauben im Paradies angekommen zu sein: ein
angenehmer Job, ein gutes Taschengeld sowie freie Kost und Logis. Doch Martina bleibt nicht der einzige Neuzugang auf dem Gut, es gesellen sich bald noch drei weitere junge Menschen dazu. Alle haben sie eines gemeinsam: Sie sind nicht richtig in der Gesellschaft angekommen und wollen ihren Alltagsproblemen entkommen. Dass diese weltfremde Idylle, in die sich die fünf jungen Menschen flüchten, aber nicht für immer Bestand hat, liegt auf der Hand. Und eines Tages geschieht tatsächlich etwas, das eine Lawine ins Rollen bringt.

Hermanson hat ihren Roman sehr raffiniert konstruiert. Von Anfang an wird angedeutet, dass diese Idylle nicht lange währen wird. Über der Szenerie schwebt die ganze Zeit etwas Surreales, aber auch Beklemmendes und Bedrohliches. Wie Hermanson diese unheilverkündende Atmosphäre entwickelt und aufbaut, ist wirklich großartig. Dazu kommt ein flüssiger, klarer Schreibstil, der einen sofort in die Geschichte hineinzieht. Auch die Charaktere sind sehr lebendig und detailliert gezeichnet. „Der unsichtbare Gast“ ist ein kurzweiliger, spannender Roman, der aber auch verdeutlicht, wie empfänglich gescheiterte junge Menschen für Fluchtmöglichkeiten aus der Realität sind und was Gruppendynamik anrichten kann. Gerade die Beschreibung der Gruppendynamik im Buch war sehr gelungen. Eine absolute Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Aufrüttelnd

Im Westen nichts Neues
0

Aufwühlend, verstörend, unendlich traurig und gerade deswegen so aufrüttelnd – müsste ich „Im Westen nichts Neues“ mit nur wenigen Attributen beschreiben, wären es diese. Remarque erzählt in seinem Roman ...

Aufwühlend, verstörend, unendlich traurig und gerade deswegen so aufrüttelnd – müsste ich „Im Westen nichts Neues“ mit nur wenigen Attributen beschreiben, wären es diese. Remarque erzählt in seinem Roman die Geschichte des Schülers Paul Bäumer, der im Ersten Weltkrieg als Soldat an der Westfront kämpft. Die patriotischen Reden seines Lehrers hatte die komplette Klasse dazu gebracht, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Doch statt eines kurzen Abenteuers erlebt Paul nur die Brutalität und den ganzen Schrecken des Krieges. Immer wieder fragt er sich dabei auch, wie seine Generation – sollte der Krieg irgendwann vorbei sein – sich je wieder in die Gesellschaft einfinden soll. Dieses Buch zu lesen ist kein Vergnügen – es ist gnadenlos, es bietet keine Hoffnung, es macht einem das Herz schwer. Dennoch konnte ich den Roman kaum aus der Hand legen. Zu großen Teilen lag das an Remarques Schreibstil: seine Sprache ist lebendig, lebensnah und direkt. Vor allem die Gefühle und Gedanken von Paul beschreibt er so authentisch, dass man sich geradezu an Pauls Stelle fühlt.

Ja, es gibt viele Bücher über Kriege bzw. die Weltkriege – keines ist aber wie dieses. Ein erschütternd ehrliches Buch, das zeigt, wie sinnlos der Krieg ist. Ein Buch, das jeder Mensch einmal in seinem Leben gelesen haben muss. Ich selbst bin fast ein wenig bestürzt, dass ich das Buch erst jetzt gelesen habe und ich werde mir auf jeden Fall auch noch die anderen Werke von Remarque anschauen.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Der wahre Kern der Weihnachtsgeschichte

Hilfe, die Herdmanns kommen 1
0

Zum ersten Mal habe ich die Geschichte über die Herdmanns in der Grundschule gehört. Jetzt hab ich das Buch wiederentdeckt und natürlich gleich nochmal lesen müssen. Und: „Hilfe, die Herdmanns kommen“ ...

Zum ersten Mal habe ich die Geschichte über die Herdmanns in der Grundschule gehört. Jetzt hab ich das Buch wiederentdeckt und natürlich gleich nochmal lesen müssen. Und: „Hilfe, die Herdmanns kommen“ ist nach wie vor ein tolles Weihnachts-Kinderbuch – witzig und berührend. Worum geht´s? – Die Herdmann-Kinder, sechs Stück an der Zahl, sind die schlimmsten Kinder in der ganzen Stadt. Sie prügeln, stehlen, fluchen und rauchen Zigaretten. Im Prinzip sind die Herdmanns also eine richtig asoziale Familie. Ausgerechnet diese Kinder ergattern nun aber die Hauptrollen für das alljährliche Krippenspiel der Kirchengemeinde. Natürlich erwarten nun alle das schlimmste Krippenspiel aller Zeiten. Doch die Herdmann-Kinder schaffen durch ihre ganze Art etwas, was noch nie zuvor jemand geschafft hat: Sie wecken bei den Zuschauern ein ganz neues, viel realistischeres Verständnis für die Weihnachtsbotschaft. Barbara Robinsons Schreibstil ist sehr spritzig und humorvoll, stellenweise muss man wirklich laut lachen. Zum Ende hin geht die Geschichte dann aber sehr ins Herz und stimmt nachdenklich. Eine tolle Weihnachtsgeschichte für Jung und Alt.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Der einsame Killer

Blood on Snow. Der Auftrag
0

Olav Johansen ist ein Auftragskiller – zwar einsam, aber in seinem Job auch sehr erfolgreich­. Doch dann bekommt er ein delikates Problem: Er soll die Frau seines Chefs töten und verliebt sich in sie. ...

Olav Johansen ist ein Auftragskiller – zwar einsam, aber in seinem Job auch sehr erfolgreich­. Doch dann bekommt er ein delikates Problem: Er soll die Frau seines Chefs töten und verliebt sich in sie. „Der Auftrag“ ist der Auftakt einer neuen Thriller-Reihe von Jo Nesbø, die unter dem Haupttitel „Blood on Snow“ erscheinen wird. Die Bücher sollen aber in sich abgeschlossen und nur lose miteinander verbunden sein. Ihre Gemeinsamkeit: Es geht um harte Kerle mit weichem Herz. Im ersten Teil ist das nun Olav, der Auftragskiller. Gleichzeitig sind die Bücher eine Hommage an die Pulp- und Noir-Romane früherer Zeiten: Ein Grund wohl auch, weswegen Nesbø den Thriller in der Vergangenheit angesiedelt hat. Die Geschichte spielt im Oslo der 1970er – eine Zeit, als das Heroin begann, in der Stadt zum Problem zu werden. Und auch das Format erinnert an die alten Pulp-Romane: Der Thriller hat nicht mal 200 Seiten. Mich hat dieses Buch extrem positiv überrascht. Das liegt zum einen an Nesbøs Erzählton: schlicht und präzise, aber auch melancholisch, düster, poetisch. Wirklich faszinierend wird der Roman aber durch seinen Protagonisten und dessen instabile Gefühlswelt: Da tötet Olav gerade noch einen Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken und bekommt dann im nächsten Moment sentimentale Anwandlungen. Er stalkt einer jungen Frau hinterher, die er einmal vor der Zwangsprostitution gerettet hat und dichtet in einsamen Nächten an einem Liebesbrief herum. Und bald merkt der Leser: So wie Olav die Geschichte darstellt, kann es nicht sein. Obwohl die Geschichte so kurz ist, vermisst man nichts und sogar Olavs Charakter bekommt sehr viel Tiefe. Ein wirklich überraschend guter Thriller, mit einem verblüffenden Twist auf sprachlich hohem Niveau.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Wir sind die Toten

1984
0

In seinem dystopischen Roman „1984“ entwirft Orwell eine schreckliche Zukunftsvision: Die Welt ist aufgeteilt in die drei Supermächte Ozeaninen, Eurasien und Ostasien, die ständig Krieg miteinander führen. ...

In seinem dystopischen Roman „1984“ entwirft Orwell eine schreckliche Zukunftsvision: Die Welt ist aufgeteilt in die drei Supermächte Ozeaninen, Eurasien und Ostasien, die ständig Krieg miteinander führen. England und somit auch London – Handlungsort des Romans – gehören zu Ozeanien – ein totalitärer Präventions- und Überwachungsstaat. Die Menschenrechte sind dort rigoros eingeschränkt, es herrscht permanenter Mangel an allen möglichen Waren, die Bevölkerung wird in ständiger Angst gehalten und jeder bespitzelt jeden. Das System geht sogar so weit, die Gedankenfreiheit der Menschen zu beschneiden. An der Spitze des Systems steht ein scheinbar unsterblicher Führer – der große Bruder. Der Leser folgt nun Winston Smith, ein einfaches Parteimitglied, der im Wahrheitsministium arbeitet. Dort sorgt er dafür, dass die Vergangenheit der gegenwärtigen Parteilinie angepasst wird. Insgeheim hasst Winston die Partei aber und er beginnt immer öfter, das System zu hinterfragen. Sein innerer Widerstand bleibt aber nicht unbemerkt.

„1984“ ist für mich ein Klassiker, den jeder einmal gelesen haben sollte. Mich zumindest hat der Roman sehr beeindruckt und nachdenklich gestimmt. Orwell hat den Roman Ende der 40er Jahre, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben und man merkt, dass der Roman unter dem Eindruck des Nationalsozialsmus, aber vor allem des Kommunismus entstanden ist. Orwell geht aber noch einen Schritt weiter und entwirft ein System, das noch diktatorischer und radikaler ist als alle Systeme zuvor. Es gibt überhaupt keine Privatsphähre mehr, sogar die Gedanken der Menschen werden überwacht und alles ist auf reinen Pragmatismus ausgelegt. Sogar die Sprache soll langfristig durch den sogenannten Neusprech ersetzt werden. Eine Sprache, die die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter reduzieren soll, mit dem Ziel die Kommunikation noch besser kontrollieren zu können. Für Schönheit und Emotionen ist in dieser Sprache kein Platz mehr.

Extrem faszinierend fand ich die Atmosphäre, die Orwell in seinem Roman aufbaut: düster, beklemmend, eindringlich. Die ganze Zeit ahnt man, weiß man, dass es keine Hoffnung, kein happy End geben wird – auch wenn man sich das noch so sehr wünscht. Die Sprache ist sehr flott und modern, wenn auch anspruchsvoll. Obwohl das dramaturgische Tempo eher langsam ist und es längere Passagen zu gesellschaftstheoretischen Überlegungen gibt, fand ich den Roman durchgehend fesselnd. Am Ende steht man als Leser ein wenig allein gelassen da, mit vielen Fragen über die Gesellschaft, in der man lebt, im Kopf.

„Sie werden sich daran gewöhnen müssen, ohne sichtbare Ergebnisse und ohne Hoffnung zu leben. […] Es besteht keine Möglichkeit, daß zu unseren Lebzeiten eine sichtbare Veränderung eintritt. Wir sind die Toten.“