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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.06.2017

Verlogene Welt

Schreiben Sie Miss Lonelyhearts
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Auf die Scheinheiligkeit, Heuchelei und Doppelmoral der amerikanischen Gesellschaft hat es Nathanael West in seinem 1933 erschienen Roman „Schreiben Sie Miss Lonelyhearts“ abgesehen. Die Schlüsselfigur ...

Auf die Scheinheiligkeit, Heuchelei und Doppelmoral der amerikanischen Gesellschaft hat es Nathanael West in seinem 1933 erschienen Roman „Schreiben Sie Miss Lonelyhearts“ abgesehen. Die Schlüsselfigur seiner Gesellschaftskritik, Miss Lonelyhearts, ist eigentlich ein Mann. Als Kummerkastentante bei einer New Yorker Zeitung beantwortet er Briefe seiner verzweifelten Leser – meist traurige Briefe voller Leid und Elend. In Wirklichkeit ist Miss Lonelyhearts aber selbst eine sehr trübsinnige Figur, ausgestattet mit einem überchristlichen Helfersyndrom, die ein sehr trostloses Leben führt und von seinen Kollegen verspottet wird. Weil sein Job ihm immer mehr zur Bürde wird, verfällt Miss Lonelyhearts immer mehr dem Wahnsinn. Die Sprache des kurzen Romans ist recht einfach und lakonisch. Den Stil könnte man durchaus als surreal bezeichnen, manche Szenen erinnern auch an Screwball-Komödien. Stilistisch und dramaturgisch ist West mit „Schreiben Sie Miss Lonelyhearts“ gewiss ein brillantes Werk gelungen. Dennoch konnte mich der Roman nicht begeistern. Wahrscheinlich waren mir Thematik und Umsetzung einfach viel zu amerikanisch. Vor allem hatte ich aber nicht das Gefühl, dass West mit diesem Roman wirklich ein System aufdeckt, in dem Menschen für dumm verkauft werden.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Derb und donnernd

Mittelreich
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Als Theater- und Filmschauspieler ist Josef Bierbichler vor allem für seine eigenwilligen und kantigen Darstellungen bekannt. Eigenwillig und kantig ist auch sein vom Feuilleton hochgelobter Roman „Mittelreich“. ...

Als Theater- und Filmschauspieler ist Josef Bierbichler vor allem für seine eigenwilligen und kantigen Darstellungen bekannt. Eigenwillig und kantig ist auch sein vom Feuilleton hochgelobter Roman „Mittelreich“. Ein durchaus sprachgewaltiges Werk, in dem Bierbichler mit offener Brutalität gegen Bigotterie und Nationalsozialismus wettert. Erzählt wird die Geschichte einer Bauern- und Gastwirtsfamilie an einem See im bayerischen Voralpenland – vom Ersten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre. Im Mittelpunkt steht der Seewirt Pankraz – Wirtshauserbe wider Willen. Sein Vater hat das Gasthaus zur Jahrhundertwende mit eigener Kraft von einem kleinen Saisonlokal zu einer großen Ausflugswirtschaft hochgewirtschaftet. Aus einst armen Bauern wurden mittelreiche Bürger. Im Ersten Weltkrieg wird aber der älteste Sohn des alten Seewirts und eigentlicher Erbe des Hofs so schwer verletzt, dass sein Bruder Pankraz in die Fußstapfen des Vaters treten muss. Dabei wäre er doch lieber Künstler geworden. Als ihn später sein eigener Sohn Semi anfleht, ihn nicht auf das katholische Internat zu schicken, macht er die gleichen Fehler seines Vaters. Die fast 80 Jahre Familien- und auch deutsche Geschichte schildert Bierbichler sehr imposant und dicht. Sein Hauptaugenmerk liegt aber deutlich auf der Zeit um den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegsjahre. So erzählt er, wie der Nationalsozialismus gerade in der bayerischen Idylle auf fruchtbaren Boden fällt und auch noch bis weit in die 60er Jahre hinein beinahe verklärt wird. Erst kommen die Sommerfrischler, dann die Flüchtlinge und schließlich die Hippies aus der Stadt. Und immer wird die tiefsitzende Abneigung der Landbevölkerung gegenüber dem Fremden deutlich. Was den Roman ausmacht und auch einzigartig macht, ist seine Sprache: kraftvoll, derb, donnernd – oft aber auch sehr poetisch, fast schon sprachverliebt. Bierbichler ist kein Erzähler, der sich zurücknimmt. Er steht mächtig und selbstbewusst mitten in seiner Geschichte. Das ist aber auch ein Nachteil, denn neben der markigen Sprache wirken die Charaktere fast schon schlicht und die Handlung driftet zu oft ins Episodenhafte ab. Nicht richtig anfreunden konnte ich mich mit dem Schreibstil. So verwendet Bierbichler fast ausschließlich verschachtelte, verschwurbelte Partizipialsätze. Dazu kommen befremdlich viele sexuelle Szenen, die alle irgendwie brutal oder abartig sind. „Mittelreich“ ist ein bedrückender Antiheimatroman, der all das hervorholt, was sonst so gerne unter den Teppich gekehrt wird. Es gibt auch sehr viele intelligente und auch poetische Sätze. Oft erschien es mir aber so, als ob Bierbichler mit aller Gewalt versucht, Tabus zu brechen und seine Hasstiraden gegen alles und jeden geradezu mit dem Vorschlaghammer auf den Leser einprügelt. Ein interessanter Roman, der aber keine leichte Kost ist und ganz sicher kein Roman für zwischendurch.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Schwache Fortsetzung

Sterne über der Alster
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Die Saga über die Hamburger Reederfamilie Dornhain geht weiter: „Sterne über der Alster“ ist die Fortsetzung des Romans „Das Haus am Alsterufer“ und knüpft direkt an den ersten Band an. Der Erste Weltkrieg ...

Die Saga über die Hamburger Reederfamilie Dornhain geht weiter: „Sterne über der Alster“ ist die Fortsetzung des Romans „Das Haus am Alsterufer“ und knüpft direkt an den ersten Band an. Der Erste Weltkrieg ist fast vorbei und die Revolution von 1918/19 steht bevor. Kaiser Wilhelm II. erklärt seinen Rücktritt und beendet somit die Monarchie in Deutschland. Arbeiter- und Soldatenräte bilden sich, Philipp Scheidemann ruft die Republik aus und es kommt zu Machtkämpfen zwischen verschiedenen Parteien. Inmitten dieser politisch unruhigen Zeit haben die drei Dornhain-Schwestern mit ihren ganz eigenen Problemen zu kämpfen. Das Hausmädchen Klara wartet indes immer noch auf ihren Verlobten, der im Ersten Weltkrieg in russische Gefangenschaft geraten ist.

Nachdem ich vom ersten Band „Das Haus am Alsterufer“ sehr begeistert war, hatte ich ziemlich hohe Erwartungen an die Fortsetzung. Leider kommt der Roman aber nicht an seinen Vorgänger heran. Natürlich, Micaela Jarys Schreibstil ist wiedermal sehr toll: Sie schreibt vereinnahmend, flüssig und sehr bildlich. Ich war wieder von der ersten Seite an in der Geschichte drin und hab das Buch recht schnell durchgehabt. Es gab aber trotzdem so einige Dinge, die mich gestört haben: Keinen richtigen Draht konnte ich diesmal zu den Protagonisten finden. Die drei Schwestern, allen voran Nele, mit der ich im ersten Band so mitgelitten habe, bleiben erstaunlich blass. So richtig weiterentwickelt haben sie sich irgendwie auch nicht und ihre Schicksalsschläge konnten mich nicht richtig berühren. Das Hausmädchen Klara, die eigentlich eine relativ große Rolle spielt, kommt zudem viel zu kurz. Dafür waren mir die Beziehungs- und Liebesdramen der drei Schwestern viel zu prominent. Vor allem die erste Hälfte des Romans dreht sich ja fast nur darum, wer gerade mit wem zusammen ist beziehungsweise zusammen sein will. Weil es dann auch noch relativ viele Rückblicke zum ersten Band gibt, hatte ich irgendwann das Gefühl, dass die Geschichte gar nicht richtig weitergeht.

Der geschichtliche Hintergrund und auch die Beschreibung Hamburgs sind eigentlich wieder sehr gelungen – man merkt, dass Jary recht gut recherchiert hat. Vor allem die gesellschaftliche Einstellung der Hamburger Oberschicht kommt gut rüber. Dennoch hat sie es diesmal nicht richtig geschafft, die sozialen Gegebenheiten und Probleme zu jener Zeit mit den Schicksalen der Familienmitglieder zu verknüpfen. Da nützt es auch nichts, dass eine der Schwestern live dabei war, als der Kaiser abdankt. Am Ende ging dann alles viel zu schnell und abrupt. Summa summarum: Ein Buch für nette Lesestunden, der erste Teil hat mir aber mit Abstand besser gefallen.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Außergewöhnliche Familiengeschichte

Die Monster von Templeton
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Hinter dem Titel „Die Monster von Templeton“ versteckt sich kein Schauerroman, sondern eine etwas andere Familiengeschichte. Genau diese Andersartigkeit ist der große Pluspunkt des Romans – so richtig ...

Hinter dem Titel „Die Monster von Templeton“ versteckt sich kein Schauerroman, sondern eine etwas andere Familiengeschichte. Genau diese Andersartigkeit ist der große Pluspunkt des Romans – so richtig überzeugen konnte mich der Roman am Ende dennoch nicht. Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive, zumeist von Wilhelmina „Willie“ Upton. Gleich am Anfang kehrt sie nach einer folgenschweren Affäre mit ihrem Professor überstürzt in ihren Heimatort Templeton, zu ihrer Mutter Vi zurück. Templeton ist ein bezauberndes amerikanisches Kleinstädtchen und die Bewohner halten große Stücke auf die historischen Persönlichkeiten der Stadt, allen voran den Gründer Marmaduke Temple. Willie stammt sogar in direkter Linie von Marmaduke ab, was sie irgendwie zu etwas besonderem in ihrem Heimatort macht. Allerdings weiß Willie nicht, wer ihr Vater ist – nach den Erzählungen ihrer Mutter kommen drei Männer in Frage, mit denen sie damals in einer Kommune gelebt hat. So richtig los geht der Roman, als Willie von ihrer Mutter die Wahrheit über ihren Vater erfährt: Er ist ein angesehener Bürger von Templeton und behauptet, ebenfalls ein Nachfahre von Maramduke zu sein. Wie praktisch, dass Willie angehende Archäologin ist: Mit Feuereifer macht sie sich nun daran ihre Familiengeschichte bis ins 18. Jahrhundert zurück zu erforschen, um am Ende herauszufinden, wer ihr Vater ist. Stückchenweise hangelt sich Willie am Familienstammbaum entlang und deckt vergessene und bislang vertuschte Beziehungen, Begebenheiten und Familiengeheimnisse auf. Nebenbei erfährt man auch, wie die Stadt Templeton aufgebaut wurde und wie sie sich mit den Jahrhunderten entwickelt hat. Bald wird deutlich, dass einige von Willies Vorfahren ziemlich viel Dreck am Stecken hatten (also ziemliche Monster waren).

Die Idee hinter diesem Roman und vor allem den Aufbau finde ich sehr gelungen: Immer wieder gibt es Kapitel im Buch, in denen ein Vorfahr zu Wort kommt. Auch Briefe oder Tagebucheinträge der Vorfahren bekommt man zu lesen. Dazwischen sind alte Fotografien abgebildet. Richtig toll ist die Idee mit dem Stammbaum: Immer wieder wird Willies Familienstammbaum abgebildet und zwar immer dann, wenn Willie eine neue Entdeckung gemacht hat. Das heißt: Der Stammbaum wächst und verändert sich, bis am Schluss der ganze Stammbaum abgebildet ist und die kompletten Verzweigungen der Familie offenlegt.

An sich ist der Roman sehr vielschichtig: Es ist eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine Familiensaga, eine verträumte Kleinstadtgeschichte und ein historischer Roman – man erfährt einiges über die Gründerväter Amerikas. Sogar den Mythos um ein See-Monster – ähnlich wie Loch Ness – hat Lauren Groff in dem Roman verarbeitet. Dazwischen gibt es zahlreiche Anspielungen auf die Lederstrumpf-Romane.

Dennoch: So richtig bannen konnte mich der Roman nicht. Gleich von Anfang an fand ich den Schreibstil sehr zäh, die Sätze zum Teil viel zu verkünstelt. Es hat fast 200 Seiten gedauert, bis ich in der Geschichte drin war. Und auch dann ging es für mich eher schleppend voran, manchmal hab ich mich sogar gelangweilt. Die Geschichte plätschert die meiste Zeit einfach so vor sich hin, hat keine richtigen Höhepunkte. Es ist tatsächlich manchmal so, als würde man eine Chronik lesen. Ein paar weniger Seiten und ein paar weniger Absurditäten wären vielleicht besser gewesen.

Summa Summarum: ein außergewöhnliches Buch, das mich aber nicht so recht überzeugen konnte.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Zwischen Dorfsatire und Alpenkitsch

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam
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In dem kleinen österreichischen Dörfchen St. Peter am Anger – hoch oben in den Alpen – läuft alles ein bisschen anders als im Rest der Welt: Hier hat noch alles eine Kontinuität. Die Kinder übernehmen ...

In dem kleinen österreichischen Dörfchen St. Peter am Anger – hoch oben in den Alpen – läuft alles ein bisschen anders als im Rest der Welt: Hier hat noch alles eine Kontinuität. Die Kinder übernehmen irgendwann den Familienbetrieb der Eltern, Tradition ist immens wichtig und die große weite Welt muss man gar nicht kennenlernen. „Hochgschissene“ braucht es im Dorf nicht. Johannes Gerlitzen widersetzt sich diesem Naturgesetz: Ein Bandwurm führt dazu, dass er sich für Würmer im Speziellen und die Wissenschaft im Allgemeinen zu interessieren beginnt. Eines Tages verlässt er sein Dorf, um in der Stadt ein Doktor zu werden. Das ist im Jahr 1960. Beinahe zehn Jahre später kehrt er in seine Heimat zurück. Als Johannes Großvater wird, nimmt er seinen Enkel unter die Fittiche, um auch aus ihm einen Wissenschaftler zu machen. Und in der Tat: auch den kleinen Johannes drängt es zu mehr als das, was sein Dorf zu bieten hat.

Zunächst einmal: Vea Kaiser hat in ihrem Debütroman bewiesen, dass sie erzählen kann. Sie schreibt sehr flüssig und geschliffen, stellenweise mit viel Sprachwitz. Man gleitet beim Lesen geradezu über die Geschichte hinweg. Allerdings kommt es aber nicht nur darauf an, wie man erzählt, sondern vor allem auch was man erzählt und da liegt der große Knackpunkt. Anfänglich ist der Roman tatsächlich eine ganz nette Satire auf das Dorfleben und Kaiser nimmt mit einem Augenzwinkern die Eigenheiten der Dorfbewohner, deren Angst vor Neuem und die dörfliche Engstirnigkeit aufs Korn. Gerade wenn man selbst auf dem Land aufgewachsen ist, kommt einem einiges doch bekannt vor und lässt einen schmunzeln. Doch irgendwann lässt die Geschichte sehr nach, sie plätschert episodenweise vor sich hin, hat keine Höhen, keine Tiefen. Vor allem ab dem Teil, wenn der junge Johannes im Mittelpunkt steht, wird das Ganze zu einer seltsamen Mischung aus kitschiger Alpensaga und Pennälerroman. Die ständigen Stadt- / Land-Stereotypen und Dorf-Klischees beginnen zu nerven und das geschmierte Ende des Romans will so gar nicht mehr zum Anfang passen. Netter Ansatz, so richtig überzeugt hat mich der Roman letztendlich nicht.