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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.05.2022

Handwerklich meisterhafter Histo-Thriller!

Das Mädchen und der Totengräber (Die Totengräber-Serie 2)
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Im kaiserlichen Wien kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts geht es hoch her: Zuerst taucht ein angesehener Archäologieprofessor als mumifiziertes Mordopfer stilecht in einem Sarkophag auf, dann erschüttert ...

Im kaiserlichen Wien kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts geht es hoch her: Zuerst taucht ein angesehener Archäologieprofessor als mumifiziertes Mordopfer stilecht in einem Sarkophag auf, dann erschüttert eine Mordserie an jungen Männern in den eher anrüchigen Vierteln der Hauptstadt die Öffentlichkeit und zu guter Letzt stellt ein bizarrer Raubkatzenangriff die Polizei vor weitere Rätsel. Es wird also erneut Zeit für Inspektor Leopold von Herzfeldt, seine zwischenzeitlich zur Polizeifotografin aufgestiegene Freundin Julia Wolf und den Totengräber Augustin Rothmayer, mit ihren unkonventionellen Ermittlungsmethoden gehörig anzuecken ...

Dass Oliver Pötzsch erfolgreich Bestseller am laufenden Band produzieren kann, hat er spätestens mit der inzwischen acht Bände umfassenden Henkerstochter-Saga bewiesen, die auch international große Beachtung fand. „Das Mädchen und der Totengräber“ ist hingegen die Fortsetzung seiner anderen, erst im vergangenen Jahr begonnenen historischen Krimi-Reihe um den jüdischen Kommissar von Herzfeldt, mit der Pötzsch um ein paar Jahrhunderte nach vorn springt. Das gelingt mit Leichtigkeit, denn man merkt inzwischen deutlich die stetig gewachsene Erfahrung, die der einstige Journalist in den sorgfältigen dramaturgischen Aufbau seiner Geschichte fließen lässt. Natürlich ist all das immer noch lupenreine Unterhaltungsliteratur, aber die handwerkliche Finesse in fast allen Details des beinahe 500 Seiten starken Krimi-Sequels ist gerade für deutsche Verhältnisse schon überragend und braucht den Vergleich mit internationalen Spannungsautoren kaum noch zu scheuen.

Das Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts erwacht in unzähligen kleinen Nebensätzen zu atmosphärischem Leben, während der temporeiche Handlungsverlauf zu keiner Zeit auch nur annähernd zu langweilen beginnt und Pötzsch, gewitzt wie er ist, die nachgesagte Behäbigkeit eines typischen Massenmarkt-Historienschinkens geschickt mit den blutrot grausigen Pathologieschweinereien moderner US-Hardcore-Thriller verwebt. Das ist clever gemacht und wird Teile des Zielpublikums sicherlich verschrecken, sollte dem Autor aber problemlos jede Menge neue Fans erschließen. Stilistisch meisterhaft und ein wohlverdienter Platz in der ersten Liga deutschsprachiger Unterhaltungsautoren – mindestens auf Augenhöhe mit den Fitzeks, Schätzings und Eschbachs dieser Welt.
Definitiv wohl der heißeste Tipp des Thriller-Frühjahrs!

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Veröffentlicht am 14.10.2021

Ein gewaltiges Werk

Gesammelte Werke
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Der Göteborger Verleger Martin Berg steckt in einer Sinnkrise. Sein einst so renommiertes Verlagshaus läuft nicht mehr so, wie es soll, seine Frau Cecilia ist seit Jahren verschwunden, die beiden Kinder ...

Der Göteborger Verleger Martin Berg steckt in einer Sinnkrise. Sein einst so renommiertes Verlagshaus läuft nicht mehr so, wie es soll, seine Frau Cecilia ist seit Jahren verschwunden, die beiden Kinder sind erwachsen geworden und leben ihr eigenes extrovertiertes Leben - und nun bricht auch der Kontakt zu seinem ehemals besten Freund Gustav ab. Während Martin sich wehmütig zurückerinnert an die unbeschwerte Sturm-und-Drang-Zeit seiner Jugend, an jenes in den 70ern und 80ern scheinbar unbesiegbare Trio der Lebensfreude, das aus ihm selbst, Gustav und Cecilia bestand und sich eine Welt eroberte, die sie sich zu eigen machen konnten, stößt seine Tochter Rakel bei der von ihrem Vater selbst bei ihr in Auftrag gegebenen Übersetzung eines deutschen Bestsellers auf Spuren ihrer Mutter und macht sich kurz entschlossen auf die Suche nach dem Autor des Werks.

"Gesammelte Werke" ist zwar unverkennbar ein (wild sprudelnder) Debütroman, aber gleichzeitig eine akribisch ausgearbeitete, epochale Saga von fast 900 Seiten Umfang, die über die volle Länge hinweg tatsächlich etwas zu sagen hat - auch wenn man das oft genug vergisst angesichts der ungeheuer spielerischen Fabulierfreude, die zwischen den Zeilen schwingt.

Lydia Sandgren hält ihre überbordende Liebe zu Sprache, Literatur und Zeitgeist dann tatsächlich über den ausladenden Umfang hinweg aufrecht: Selten fliegt ein Gesellschaftsroman so derart leichtfüßig und dennoch auf tiefgründige Art unterhaltsam vorbei wie diese Meta-Familiensaga, deren Charaktere trotz geballter literarischer Querverweise so real und anfassbar wirken wie unsere eigenen Nachbarn. Atemberaubend selbstsicher und auf trotzige Art stilbewusst - ein junges wildes Debüt, das man nicht mehr aus der Hand legen mag.

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Veröffentlicht am 08.08.2021

Exzellenter African Noir

Wild Card
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Weston Kogi, der sich in London als unterbezahlter Wachmann mehr schlecht als recht durchschlägt, kehrt zur Beerdigung seiner Tante nach Alcacia zurück, jenes von Unruhen geschüttelte westafrikanische ...


Weston Kogi, der sich in London als unterbezahlter Wachmann mehr schlecht als recht durchschlägt, kehrt zur Beerdigung seiner Tante nach Alcacia zurück, jenes von Unruhen geschüttelte westafrikanische Land, das er vor fünfzehn Jahren übereilt verlassen hat. Eigentlich sollte es nur ein kurzer Aufenthalt werden, aber dann flunkert Weston ausgerechnet gegenüber Church, dem Typen, der ihn damals in der Schule gemobbt hat, etwas von seiner angeblich steilen Karriere bei der britischen Polizei vor. Prompt verdonnert ihn Church mit ein paar Drohungen dazu, in einem Jahre zurückliegenden Attentat zu ermitteln, und als Weston widerwillig mit seinen Nachforschungen beginnt, stößt er in ein Wespennest. Bald steht er im Fokus verschiedener miteinander verfeindeter Parteien, und wenn er jemals heil aus Alcacia entkommen will, muss er mit den Wölfen heulen - oder sterben ...

Der eigentlich im Science-Fiction-Genre beheimatete britisch-nigerianische Autor Tade Thompson legt mit "Wild Card" seinen ersten Thriller vor und landet sogleich einen Volltreffer. Sein hitzeschwüler Hardboiled-Krimi steht in der Tradition früher amerikanischer Pulp-Literatur á la Dashiell Hammett und Raymond Chandler und bringt einen multikulturellen Twist in das Genre des postmodernen "crime noir". Sein Protagonist Weston Kogi, Sinnbild viriler Männlichkeit und einer gesunden Portion übersteigerten Egos, betätigt sich seinen Vorbildern gleich als fast schon stoischer Gänger zwischen den Welten, auf einem schmalen Pfad, auf dem die Grenze zwischen Moral und Gesetzlosigkeit permanent zu verschwimmen droht. Alcacia ist ein Albtraumland, in dem Brutalität und Korruption zum alltäglichen Geschäft gehören, und in dem man nur überlebt, wenn man sich den Gegebenheiten anpasst und ebenso brutal auf seine Umwelt reagiert. Das liest sich erschreckend und auch unterkühlt, weil zumindest an der Oberfläche Emotionalität nicht zum Repertoire von Weston Kogi zählt, aber Tade Thompson erschafft hier mit seltener sprachlicher Wucht ein dreckiges Verbrecher-Epos unter der sengenden Sonne Westafrikas, in dem Schlamm und Blut und Schweiß aus jeder Buchseite tropfen. Hier wird auch die Ausweglosigkeit gegenwärtiger Weltpolitik in Entwicklungsländern spürbar, die in ihrer Erlösermentalität meilenweit an den tatsächlichen Verhältnissen vorbeigeht.

Was dagegen bleibt, ist ein Roman, der einen erbarmungslosen Sog entfesselt - mitreißend, spannend und unglaublich atmosphärisch konstruiert und dabei von einer seltenen Klugheit, die sich unter einer ermatteten Abgeklärtheit erspüren lässt. Eine bewegende Sternstunde, bei der man nur hoffen kann, dass sie bald die (angedeutete) Fortsetzung findet! Leser mit einem Faible für erbarmungslos nihilistische Thriller und entsprechend starken Nerven/Mägen haben hier absolut keinen Grund, nicht zuzuschlagen - besser geht es in diesem Genre derzeit wirklich nicht.

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Veröffentlicht am 19.03.2021

Kompromissloser und hochintelligenter Neo-Noir!

Der gekaufte Tod
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August Snow, Ex-Marine und Ex-Bulle, kehrt in seine Heimatstadt Detroit zurück, nachdem er einige Jahre im Ausland verbracht hat. Einst ließ er ein korruptes Polizei- und Verwaltungssystem auffliegen und ...

August Snow, Ex-Marine und Ex-Bulle, kehrt in seine Heimatstadt Detroit zurück, nachdem er einige Jahre im Ausland verbracht hat. Einst ließ er ein korruptes Polizei- und Verwaltungssystem auffliegen und wurde von seinen Kollegen als Verräter gebrandmarkt. Nun kauft er von der Entschädigungssumme ein paar Häuser in seiner Straße und hofft auf ein ruhiges Leben, doch ein paar alte Seilschaften sind immer noch an der Macht - und neue Feinde tauchen auf, als Augusts frühere Auftraggeberin einen neuen Job für ihn hat und kurz darauf angeblich Selbstmord begeht. August sticht in ein Wespennest, und plötzlich führen ihn seine Ermittlungen geradewegs in ein Himmelfahrtskommando.

Stephen Mack Jones' Romandebüt "Der gekaufte Tod" heißt im Original einfach "August Snow" und war der Auftakt zu einer Thriller-Reihe um den gleichnamigen Privatermittler, deren dritter Teil bereits in wenigen Wochen in den USA erscheint. Hierzulande mussten wir vier Jahre auf den Einstieg in die Serie warten, und es bleibt zu hoffen, dass der Tropen-Verlag möglichst schnell mit den weiteren Bänden nachzieht, denn "Der gekaufte Tod" ist ein absolutes Brett! Stilistisch dem Hardboiled (NeNoir verpflichtet, dessen Wurzeln bis zu Dashiell Hammett zurückreichen, hat Jones' Thriller trotz aller testosterongetränkten Brutalität nämlich einiges zu sagen - Detroit selbst, die einst so stolze und nun heruntergekommene Metropole, präsentiert sich als zwielichtige Stadt der Gewalt, als Opfer von rücksichtslosem Machtmissbrauch, waghalsigen Spekulationen und sozialer Misswirtschaft, und die Menschen, die hier wohnen, werden zum Spielball von Auseinandersetzungen, die sie nicht verschuldet haben.

August Snow ist kein strahlender Held, er hat natürlich, wie alle guten Ermittler, jede Menge Ecken und Kanten und eine düstere Vergangenheit, doch er wird auch geleitet von einem moralischen Kodex, der ihn instinktiv das Richtige tun lässt, auch wenn es noch so wehtut. Und weh tut es öfter, als August sich in den Fall verbeißt, denn natürlich tritt er einigen einflussreichen Leuten auf die Füße und schon bald steht er im Kreuzfeuer eines tödlichen Kugelhagels. Dabei hat der Autor ein großartiges Auge für Details und einen Stil, der typisch schnoddrige Coolness mit emotionalen Highlights anreichert, was den "Gekauften Tod" unbedingt lesenswert macht. Neben alten Freunden macht August beispielsweise auch neue Bekanntschaften, und die entwaffnende und aufrichtige Art und Weise, wie er später für ihn wertvolle Menschen wie den schwarzen Gelegenheitsdealer Jimmy oder den Wachmann Frank in sein Leben integriert, zeichnet in wenigen Absätzen ein Bild von diesem hartem Hund, das so faszinierend divers ist wie seine ganze Geschichte.

Fazit: Tolle Charaktere, ein moderner und atemloser Stil und eine Geschichte, die ruppige Action und fiese Wendungen in einen sozialkritischen Rahmen packt, der einiges über den Status Quo der amerikanischen Gesellschaft zu sagen hat. Ein neuer und knallharter Stern steigt hier erstmals in den Thrillerhimmel auf - der geneigte Leser täte gut daran, sich für eine wilde Fahrt anzuschnallen und zu hoffen, dass sie so schnell nicht endet ...

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Veröffentlicht am 18.08.2024

Return of the Thriller Queen

Letzte Lügen
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Natürlich gehört Karin Slaughter nun schon seit über 20 Jahren zur Speerspitze der internationalen Thriller-Autoren und dürfte zusammen mit Kathy Reichs und Gillian Flynn auch unbestritten zum amtierenden ...

Natürlich gehört Karin Slaughter nun schon seit über 20 Jahren zur Speerspitze der internationalen Thriller-Autoren und dürfte zusammen mit Kathy Reichs und Gillian Flynn auch unbestritten zum amtierenden weiblichen Dreigestirn am Genrehimmel gehören. Seit achtzehn Büchern lässt sie nun ihre Forensikerin Sara Linton in der schwülen Hitze Georgias in den grausigsten Mordfällen ermitteln, zuerst gemeinsam mit ihrem Mann Jeffrey Tolliver in den sechs Teilen der Grant-County-Serie und später gemeinsam mit dem Ermittler Will Trent im GBI (Georgia Bureau of Investigation) im urbanen Dschungel von Atlanta. "Letzte Lügen", der zwölfte Band der Atlanta-Reihe, schließt nun scheinbar auch dieses Kapitel ab - und man durfte gespannt sein.

Strukturell gestaltet sich die Handlung in "Letzte Lügen" linearer als in den früheren Fällen, was vor allem damit zu tun hat, dass das auslösende Verbrechen unsere beiden Hauptfiguren mitten auf ihrer Hochzeitsreise erwischt, in einem entlegenen Resort in den Bergen, abgeschnitten vom Rest der Zivilisation und nur mit einer Handvoll weiterer Verdächtiger (und potentieller weiterer Mordopfer) im direkten Umkreis. Ein klassisches Whodunit also, ein Murder Mystery, das aber dennoch unverkennbar Slaughters Handschrift trägt. Der Fall reißt alte Wunden auf, fördert Ereignisse und Verbindungen in der Vergangenheit zu Tage, die bislang im Dunkeln lagen und gibt sich auch sonst unerbittlich düster und ergeht sich - für die Meisterin des Blutvergießens typisch - erneut in expliziter Brutalität.

Fans der Autorin wird das nicht überraschen, denn Gewalt war schon immer ein ständiger Begleiter im beruflichen und privaten Leben von Sara und Will - und Slaughter hat sich nie davor gescheut, das Böse mit schmerzhafter Offenheit und in allen Details auf ihre Figuren und Leser loszulassen, was sie letztlich auch von ihren gemäßigteren Kolleginnen wie eben den oben erwähnten Kathy Reichs und Gillian Flynn unterscheidet. Allenfalls eine (leider schon verstorbene) Mo Hayder ist in ihren Romanen ähnlich rabiat vorgegangen, und auch bei ihr waren die Meinungen dazu stets geteilt. Sei's drum, "Letzte Lügen" dreht zum Abschluss der Reihe noch einmal richtig auf, bleibt durchgehend spannend, einigermaßen logisch und psychologisch fundiert, wirkt aber dennoch immer ein bisschen zu aufgedreht für sein eher klassisches Setting. Das ist im Vergleich mit neunzig Prozent der restlichen Autoren im Thrillergenre immer noch Premiumklasse, kommt aber nie ganz an frühere Glanzlichter im Linton/Trent-Universum heran und schon gar nicht an die atemlos aktuelle Dringlichkeit in der vorhergehenden Grant-County-Serie, die immer noch Maßstäbe für den modernen, harten Südstaaten-Thriller setzt. Das ist jedoch Geschmackssache, die sich an Details entscheidet (zum Beispiel, ob man eher Will-Trent-Fan oder Jeffrey-Tolliver-Nerd ist) und reißt die Top-Bewertung nicht nennenswert nach unten. Karin Slaughter bleibt einfach das Maß aller Dinge in ihrem Bereich, und wer sich an gar zu unappetitlichen Einzelheiten nicht stört, sondern das genauso in einem morbiden Psychokrimi erwartet, wird auch das große Finale bis zur letzten der fast 600 Seiten verschlingen. Top-Tipp für den Thrillersommer!

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