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Veröffentlicht am 10.05.2022

Ein vielschichtiger Roman

Das Leben eines Anderen
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„Wenn es stimmte, dass die Menschen erst durch ihre Erinnerungen sie selbst werden, konnte man dann nicht, indem man sich die Erinnerungen eines Anderen einverleibte, zu jemand Anderem werden?“

Rie ist ...

„Wenn es stimmte, dass die Menschen erst durch ihre Erinnerungen sie selbst werden, konnte man dann nicht, indem man sich die Erinnerungen eines Anderen einverleibte, zu jemand Anderem werden?“

Rie ist in tiefer Trauer um ihren kürzlich tödlich verunglückten Ehemann, als plötzlich ein neuer Schock hinzukommt: Ihr Mann war nicht der, für den er sich ausgegeben hat. Nicht nur der Name Taniguchi Daisuke, nein, auch die Vergangenheit gehört(e) einem Anderen. Doch warum hat er eine falsche Identität angenommen? Um Klarheit zu erlangen, sucht Rie Akira Kido auf, den Anwalt, der sie bereits bei dem Scheidungsverfahren gegen ihren ersten Mann unterstützt hat. Zunächst nimmt Kido den Fall mehr ihr zuliebe an, als dass er wirklich interessant und lukrativ für ihn wäre. Je mehr Kido sich jedoch mit dem Fall befasst, desto faszinierter ist er und desto mehr gerät er in die Fänge der Idee eines Identitätstausches. Er liebäugelt mit der Vorstellung das Leben eines Anderen zu führen. Gleichzeitig setzt er sich aufs Tiefste mit existenziellen Fragen auseinander. Wie lebt man, wie liebt man in der Lüge?

„Das Leben eines Anderen“ ist ein tiefsinniger, vielschichtiger Roman. Im Fordergrund steht der kriminalistische Fall des Identitätstausches. Der Fall wird Stück für Stück aufgedeckt, sodass der Leser der Handlung mit ununterbrochener Spannung folgt. Gleichzeitig handelt es sich bei „Das Leben eines Anderen“ um einen ausgeklügelten Psychologieroman mit vielen philosophischen Fragen. Es werden Fragen nach der Identität und Zugehörigkeit aufgeworfen. Worüber definiert sich der Mensch? Über seine Herkunft? Seine Vergangenheit? Wie wird er zu dem, der er ist? Und, wird er zu einem Anderen, wenn er einen anderen Namen annimmt, die Identität mit einer anderen Person wechselt? Wird er dann ein Stückweit zu dieser anderen Person und nimmt die Vergangenheit des Anderen an, um gleichzeitig seine eigene Vergangenheit abzustreifen wie eine Hülle? Und welche Rolle spielt die Vergangenheit für die Liebe? Kann aus der Lüge eine neue, eine andere Liebe entstehen?

Keiichirō Hiranokonfrontiert uns in „Das Leben eines Anderen“ mit einer glaubwürdigen Geschichte, authentisch wirkenden Geschehnissen und lebensnahen Figuren. Gleichzeitig spielt er mit uns als Lesern und dem Zusammenspiel von Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit, wenn er im Prolog schreibt, er habe Akira Kido persönlich kennengelernt und von ihm die Geschichte erzählt bekommen. „Ein Schriftsteller ist immer“, so schreibt er, „auf der Suche nach Menschen, die ihm als Modell für seine Romane dienen könnten. Er hofft, dass eines Tages ganz plötzlich, wie durch einen glücklichen Zufall, Meursault oder Holly Golightly vor ihm stehen. Als Vorlage eignen sich vor allem außergewöhnliche Menschen, allerdings müssen sie auch etwas an sich haben, was sie zum Sinnbild für Andere oder einer ganzen Zeit werden lässt, damit sie, durch die Fiktion geläutert, Symbolcharakter erhalten.“

Auf die Frage hin, warum Kido sich so intensiv mit dem Fall des Mannes auseinandersetzt, der seine Identität mit einem Anderen gewechselt hat, antwortet er: „Durch das Leben des Anderen komme ich an mein eigenes Leben heran. Ich kann über Dinge nachdenken, über die ich nachdenken sollte. Aber einfach so, direkt, kann ich das nicht. Mein Körper stemmt sich dagegen. Es ist so, als würde ich einen Roman lesen und beim Lesen auch meinem eigenen Schmerz begegnen.“ Und ist es nicht auch so bei uns? Lesen wir nicht auch, um uns durch das Leben einer Romanfigur an unser eigenes Leben anzunähern? Um seinem eigenen Schmerz zu begegnen? Und hat nach Beendigung der Lektüre vielleicht auch der ein oder andere mit der Idee eines Identitätstausches geliebäugelt?

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Veröffentlicht am 03.05.2022

Dies ist kein Buch, sondern ein Lebensgefühl!

New York und der Rest der Welt
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Fran Lebowitz, US-amerikanische Schriftstellerin, Stilikone und Kultfigur, schrieb für unterschiedliche Zeitschriften und ist besonders für ihre geistreichen, humorvollen Essays über das New Yorker Leben ...

Fran Lebowitz, US-amerikanische Schriftstellerin, Stilikone und Kultfigur, schrieb für unterschiedliche Zeitschriften und ist besonders für ihre geistreichen, humorvollen Essays über das New Yorker Leben bekannt. Zunächst in zwei Büchern – „Metropolitan Life“ (1978) und „Social Studies“ (1981) – erschienen, wurden sie 1994 zum „The Fran Lebowitz Reader“ zusammengefasst, der uns nun endlich auch in deutscher Sprache vorliegt und zwar unter dem Titel „New York und der Rest der Welt“.

Unterteilt in „Manieren“, „Wissenschaft“, „Kunst“, „Literatur“, „Leute“, „Dinge“, „Orte“ und „Ideen“ bieten uns Fran Lebowitz’ Essays in beisendem Humor und messerscharfem Sprachwitz eine überaus aufschlussreiche wie vergnügliche Lektüre über das New Yorker Leben und die New Yorker Gesellschaft – mit einem eingeschobenen kurzen Ausflug nach Los Angeles – in all ihren Facetten. Es ist ein Lebensratgeber für das Leben in der bekanntesten Großstadt der Welt, wie man ihn sich besser nicht ausmalen könnte.

Hier einige Kostproben:

„Originelles Denken ist so originell wie die Erbsünde: Beides ist vor Ihrer Geburt passiert, und zwar Leuten, die Sie unmöglich kennen können.“

„Erlauben Sie Ihrem Kind nie, Sie beim Vornamen zu nennen. Dafür kennt es Sie nicht lange genug.“

„Bist du als Teenager mit ungewöhnlich gutem Aussehen gesegnet, dann dokumentiere diesen Zustand mit Fotografien. Nur sie gewährleisten, dass dir das jemand später noch glaubt.“

„Nur weil man in der Highschool keine Freunde hatte, ist das noch kein Grund, ein Buch zu schreiben.“

„Dass man in der Highschool viele Freunde hatte, sollte einem genügen. Das muss die lesende Öffentlichkeit nicht erfahren.“

„Ein Hund, der glaubt, er sei der beste Freund des Menschen, ist ein Hund, der offensichtlich noch keinem Steueranwalt begegnet ist.“

„Frühstücksflocken in den Farben von Freizeitanzügen in Polyester machen Verschlafen zu einer Tugend.“

Na, überzeugt? Ich sage ja: „New York und der Rest der Welt“ ist eine äußerst vergnügliche Lektüre! Man sollte sie meines Erachtens allerdings nicht in einem Rutsch, sondern eher wie einen sehr guten Whisky schlückchenweise genießen.

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Veröffentlicht am 05.04.2022

Von Abschied und Neuanfang

Für diesen Sommer
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„Vielleicht fliegen ja selbst die Leuchtkäfer noch, vielleicht sind die nie ganz fort gewesen, sondern schweben auch jetzt durch die Büsche, und sie hat nur verlernt, sie zu sehen. Oder sie fleigen noch, ...

„Vielleicht fliegen ja selbst die Leuchtkäfer noch, vielleicht sind die nie ganz fort gewesen, sondern schweben auch jetzt durch die Büsche, und sie hat nur verlernt, sie zu sehen. Oder sie fleigen noch, aber leuchten nicht mehr.“

Franziska kehrt im Alter von 50 Jahren in ihr Elternhaus zurück, das sie mit siebzehn verließ. Ihre Mutter ist vor einiger Zeit an Krebs gestorben, die ältere Schwester hat einen Nervenzusammenbruch erlitten. Zissy soll sich nun um den schwachen, pflegebedürftigen Vater kümmern und dafür sorgen, dass die Renovierungsarbeiten im Haus durchgeführt werden. Ihr Vater, der einst als Geodät arbeitete und Zissy, die für den Klimaschutz kämpfte, haben sich im Streit getrennt und nie darüber ausgesprochen. Nun ist endlich die Chance für eine Aussöhnung gekommen. Werden Vater und Tochter den Streit nach so vielen Jahren beilegen können und werden sie über das Familiengeheimnis sprechen, das ihrer aller Leben auch während der schönen und idyllischen Zeit beschattet hat?

Gisa Klönne ist mit ihrem Roman „Für diesen Sommer“ ein wunderschönes und bewegendes Stück Literatur gelungen. Abwechselnd tauchen wir in die Perspektive der Tochter und des Vaters ein und lernen dabei zwei komplexe Persönlichkeiten und bewegte Leben kennen. Wir begleiten die beiden Figuren in der Gegenwart und reisen mit ihnen gedanklich in die Vergangenheit zurück. Die Kindheit des Vaters während des zweiten Weltkrieges und sein späteres Leben als Ehemann und Vater sind ebenso überzeugend gezeichnet wie die behütete Kindheit Franziskas, ihre rebellische Jugend und ihr späterer Versuch, eine glückliche, im Einklang mit der Umwelt stehende Existenz aufzubauen. Sehr deutlich ist zu spüren, dass die Autorin viel mit ihrer weiblichen Protagonistin gemeinsam hat. Wie sie selbst in einem Interview erzählt, steht Franziska – „die Freie“ – ihr sehr nah. „Ihre Liebe zur Natur – und die Verzweiflung darüber, diese dennoch nicht vor Zerstörung bewahren zu können. Diese Sehnsucht, die Welt zu retten, die kenne ich selbst, auch das Gefühl des Scheiterns.“

Viele wichtige – schmerzhafte, aber auch lebensbejahende – Themen greift die Autorin in ihrem Roman auf und beschäftigt sich eingehend mit ihnen. „Und so handelt dieser Roman zwar von Abschied, Tod und verpassten Chancen, von Scheitern und Reue. Doch zugleich trägt er etwas Heiteres in sich, erzählt von Liebe, Versöhnung und Hoffnung.“ Die „Balance zwischen Tiefe und Leichtigkeit“ stimmt in diesem Roman. Gisa Klönne verwebt Zeit- und Familiengeschichte zu einem bewegenden Roman, der nachdenklich stimmt und lange nachhallt. Ich kann „Für diesen Sommer“ jedem Leser und jeder Leserin nur wärmstens empfehlen!

„Und so ist das Glück am Ende vielleicht nicht nur, nicht zu wissen, was kommt, ja nicht einmal daran zu denken.“

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Veröffentlicht am 07.03.2022

Ein brillantes Debüt

Unser wirkliches Leben
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Die 24-jährige Anna ist Stipendiatin am Londoner Konservatorium für Operngesang. Ihr großer Lebenstraum ist es, einst eine angesehene Opernsängerin zu werden. Dafür ist sie auch bereit alle Herausforderungen ...

Die 24-jährige Anna ist Stipendiatin am Londoner Konservatorium für Operngesang. Ihr großer Lebenstraum ist es, einst eine angesehene Opernsängerin zu werden. Dafür ist sie auch bereit alle Herausforderungen und Hürden zu nehmen, auch wenn es manchmal äußerst demotivierend und entmütigend sein kann. Da sie von ihren Eltern keine finanzielle Unterstützung erwarten kann, muss sich Anna Jazzgesang in einer Bar Geld dazuverdienen, das kaum für die Miete eines kleinen Zimmers reicht, welches sie sich mit ihrer vier Jahre älteren Freundin Laurie teilt. Eines Abends lernt Anna in dem Lokal den vierzehn Jahre älteren Max kennen, der Banker ist. Seine unnahbare Art und die geheimnisvolle Aura, die ihn umgibt, ziehen Anna in ihren Bann und schon bald entwickelt sich eine obsessive Beziehung zwischen den beiden. Immer mehr entfernt sie sich von ihrem Karrieretraum, entfremdet sich von ihrem Umfeld und droht den Bezug zu sich selbst und ihren innersten Wünschen zu verlieren, während ihre Abhängigkeit von Max immer mehr zunimmt. Die Natur ihrer Beziehung bleibt für Anna dabei stets im Dunkeln, denn Max entzieht sich jeglicher Vertrautheit. Und so droht sie an ihrer inneren Zerissenheit zwischen Karriere und Liebe zu zerbrechen.

„Unser wirkliches Leben“, im Original „A Very Nice Girl“, ist kein Liebesroman im herkömmlichen Sinne. Es ist ein psychologischer Roman, ein Psychogramm, ja, auch ein Künstler- und Bildungsroman. Er ist durch einen analytischen und selbstreflexiven Schreibstil geprägt, der zugleich äußerst emotional ist und den Leser fast distanzlos am Erleben der Ich-Erzählerin teilnehmen lässt. Es ist ein modernes Literaturdebüt voller Virtuosität und Dynamik, das viele Fragen und Themen unserer Zeit aufgreift. In den Künstlerkreisen, in denen sich die Protagonistin bewegt, wird heftig über feministische Theorien diskutiert und was es bedeutet, heute eine Frau und Künstlerin zu sein. Dass die Autorin selbst Operngesang studiert hat, merkt man sofort – eine derartig tiefe Sachkenntnis tritt uns in den Textstellen entgegen, die sich mit dem Gesang im Allgemeinen und der Opernwelt im Speziellen auseinandersetzen. So interpretiert Imogen Crimp alte Opernstücke wie „Manon“ und „La Bohème“ neu für uns und übersetzt sie in die heutige Zeit. Sie lässt uns ganz nah an den Höhen und Tiefen eines Künstlerlebens teilhaben – die Ängste und Erniedrigungen, aber auch die Hochgefühle und die Anerkennung, die so nur in einer kreativen Tätigkeit, einem schöpferischem Beruf erfahren werden können „– und plötzlich fühlte ich mich glücklicher als jemals zuvor, denn ich wusste, dass dies die einzige Art war, wie ich leben wollte. Genau das, diese Art von Leben, bei der jeder Nerv in meinem Körper lebendig war. Die ständig anders und unvorhersehbar war. Und in dem Moment sagen zu können, das war ich.“ Und natürlich auch die Selbstüberschätzung, die Selbstüberhöhung, die mit einer solchen Tätigkeit einhergeht. Einer Tätigkeit, die von einem verlangt, dass man sein Inneres nach außen stülpt. Auf der anderen Seite haben wir das mit beiden Beinen fest im Boden Verankerte, „Realistische“, nichts Überhöhende und Beschönigende, das durch den nüchternen Max verkörpert wird, der als Banker die finanzielle Sicherheit darstellt. Der aber auch seine persönlichen Kämpfe durchlebt, mitunter Zweifel an seiner Tätigkeit hegt und persönliche Krisen duchlebt. Diese beiden Welten prallen aufeinander, die von der Autorin genauestens durchleuchtet werden. Zusammen mit ihr versucht die Leserin Max und seiner Undurchschaubarkeit auf den Grund zu gehen, unternimmt die Anstrengung, sich seiner Manipulation und Verführung zu entziehen. Die Leserin leidet zusammen mit Anna und kann ihre Gefühle und Beweggründe doch bis aufs Tiefste nachvollziehen. Imogen Crimp hat mit „Unser wirkliches Leben“ ein ebenso intensives wie aufwühlendes Leseerlebnis erschaffen. Ich habe das Buch regelrecht verschlungen. Ich hoffe, es wird noch viele weitere Bücher von ihr geben!

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Veröffentlicht am 10.02.2022

Ein Held wider Willen

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
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„Warum lasen die Menschen Bücher? Warum gingen sie ins Kino oder ins Theater? Doch nicht, weil sie die Wahrheit wollten. Sie wollten träumen, sich in den Geschichten der anderen wiedererkennen. Und er, ...

„Warum lasen die Menschen Bücher? Warum gingen sie ins Kino oder ins Theater? Doch nicht, weil sie die Wahrheit wollten. Sie wollten träumen, sich in den Geschichten der anderen wiedererkennen. Und er, Hartung, half ihnen dabei.“

Wir befinden uns in Berlin 2019, nur wenige Wochen vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls. Michael Hartung, ein ehemaliger Schranken- und Weichenwärter bei der Deutschen Reichsbahn, betreibt eine Videothek. In Zeiten von unzähligen Streamingdiensten eine denkbar schlechte Idee, doch Hartung und der technologische Fortschritt stehen seit jeher auf Kriegsfuß: Jede Tätigkeit, der er im Laufe seines Lebens nachgeht, wird über kurz oder lang von der Technik überholt. Die Mietschulden werden immer größer, denn bis auf einige Leute aus der Nachbarschaft und einige Typen aus dem Viertel, die es schick finden, weiterhin die alte Kulturtechnik der DVD zu nutzen, kommt niemand in seinen Laden. Doch sein Leben soll eine jähe Wende erfahren, als eines Tages ein Journalist des Nachrichtenmagazins »Fakt« auftaucht, der bei seinen Recherchen auf Hartungs Stasiakte gestoßen ist und eine große Story hinter der legendären Flucht am Bahnhof Friedrichstraße am 12. Juli 1983 wittert. Obwohl Hartung damals nur durch ein Missgeschick 127 DDR-Bürgern zur Flucht in den Westen verhalf, ist er für gutes Geld bereit, die Wahrheit um der Geschichte willen etwas auszuschmücken. Nicht ahnen kann er, welche Wellen der publizierte Artikel schlägt und welch schwerwiegende Konsequenzen seine unbedachte Entscheidung nach sich ziehen wird.

Maxim Leo ist mit „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ein äußerst charmanter, geistreicher und unterhaltsamer Roman gelungen. Michael Hartung, ein einfacher Mann und Held wider Willen ist eine charismatische Figur, mit der sich jeder Leser identifizieren kann – auch wenn er zuweilen etwas zu eloquent in Anbetracht seiner Vita und seiner zu Anfang skizzierten Persönlichkeit daherkommt. Aber auch die anderen Figuren, in deren Innensicht wir eintauchen dürfen, sind durch und durch menschlich und authentisch. Da haben wir den Reporter Alexander Landmann, der Anfang der 70er Jahre als Kind mit seinen Eltern und Geschwistern von Kasachstan nach Deutschland kam, und der immer härter als seine Landsleute für Anerkennung kämpfen musste. Als er über Nacht mit seiner Geschichte über Michael Hartung berühmt wird, setzt er alles daran, um vom Sockel der Ehre nicht wieder runtergestoßen zu werden. Des weiteren lernen wir Harald Wischnewsky kennen, ebenfalls ehemaliger DDR-Bürger, dabei aber auch verdienter Bürgerrechtler und ehemaliger Revolutionär, der für das Verteilen von Flugblättern eine dreijährige Gefängnisstrafe absitzen musste. Er soll die Gedenkrede zum 30. Jahrestag des Mauerfalls halten, doch als mit Hartung plötzlich ein neuer Held – ein neues Gesicht mit einer originellen, unverbrauchten Geschichte! – auf der Bildfläche erscheint und an seiner Statt für diese Aufgabe ausgewählt wird, beschließt Wischnewsky diese Demütigung nicht auf sich sitzen zu lassen und Genaueres über diesen äußerst ominösen Hartung herauszufinden. „Ihn nervte die Art, wie mit diesem Typen umgegangen wurde. Wie unwichtig die komplette Geschichte dieses komplett verschwundenen Landes war. Eigentlich waren sie doch beide nur Statisten, Argumentationsfutter der anderen. Und obwohl er das alles schon immer irgendwie gewusst hatte, so war doch die Rolle, die man ihm diesmal zudachte, so erniedrigend, dass er einfach nicht weiter mitmachen konnte.“ Behilflich soll Wischnewsky dabei der gebürtige Thüringer Holger Röslein sein, Leiter des »Dokumentationszentrum Unrechtstaat DDR«, dessen Eltern mit ihm in den Westen geflohen sind als er drei Jahre alt war. Röslein gilt als der große Stasi-Jäger und trifft beim Fall Hartung schnell auf eine vielversprechende Fährte. „Als gelernter Historiker wusste Röslein, dass es die Geschichtsvermittlung leichter machte, wenn man einen guten Helden hatte. Aber so ein Held, der musste lange reifen, der brauchte eine ordentliche Portion Charisma und vor allem eine wirklich gute Story. […] Die Ostdeutschen, das war Röslein mit den Jahren klar geworden, hatten kein Helden-Talent. Sie waren zu bescheiden, zu naiv, zu ehrlich. Ihnen fehlte schlicht der Ehrgeiz, der Narzissmus, die ikonische Lässigkeit.“

Unterdessen gibt Michael Hartung Interviews und rührt als Hauptgast in einer live übertragenen Talkshow ein Millionenpublikum mit seiner (erfundenen) Geschichte zu Tränen. Nach den Beweggründen für sein waghalsiges Handeln am 12. Juli 1983 befragt, erzählt Hartung von seiner ersten großen Liebe, einer Balletttänzerin, die von einer großen Karriere am Broadway träumte, und der er zur Flucht in den Westen verhalf, damit sie ihren Traum verwirklichen konnte. [An dieser Stelle erklärt sich auch das Buchcover von „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“, auf dem eine filigrane Ballerina in einem Zugabteil zu sehen ist.] Hartung ahnt nicht, dass sich eine Frau die Sendung ansieht, die damals im Alter von vierzehn Jahren mit ihren Eltern in dem Zug nach Westen saß. Paula ist Prozessanwältin und leidet unter einem Fluchttrauma, das sie mit Hilfe von Hartung zu bewältigen hofft. Als die beiden sich näher kommen und eine Liebesbeziehung miteinander eingehen, muss Hartung sich entscheiden: Wählt er die Liebe und die Wahrheit oder den Ruhm und die Lüge?

„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist trotz seiner Leichtigkeit und Eleganz ein äußerst komplexer Roman. Er rüttelt gekonnt an den festgefahrenen Denkmustern und Klischees von Ost und West, sodass der Leser am Ende der Lektüre idealerweise seine eigenen Ansichten mit einem Fragezeichen versieht. Auch Fragestellungen philosophischer Natur kommen nicht zu kurz: »Wir legen uns selbst die Vergangenheit zurecht […] Denken Sie doch nur daran, wie wir mit unserer persönlichen Geschichte umgehen. Was wir vergessen und woran wir uns erinnern. Gibt es einen einzigen Menschen, der seine Vergangenheit schonungslos ehrlich betrachtet? Ganz ähnlich ist es mit der großen Geschichte, auch da geht es darum, woran sie Mehrheit einer Gesellschaft sich erinnern will. Sie kennen doch sicher den berühmten Satz ›Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.‹ […] Letztlich, Herr Hartung, wird die Geschichte immer von den Siegern geschrieben.“

„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist eine tragi-komische Geschichte mit einem zufriedenstellenden Ende – was in Anbetracht der angelegten Geschichte keine leichte Aufgabe war. Denn schließlich soll der äußerst charismatische Held nicht scheitern, gleichzeitig soll aber auch die Wahrheit über die Lüge siegen.

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