Menschen können das Leben eines Anderen leben
Rechtsanwalt Akira Kido, Ende 30, ist unzufrieden mit seinem Leben und nicht glücklich in seiner Ehe. Eines Tages sucht ihn eine Klientin auf, die er acht Jahre zuvor bei ihrer Scheidung von ihrem ersten ...
Rechtsanwalt Akira Kido, Ende 30, ist unzufrieden mit seinem Leben und nicht glücklich in seiner Ehe. Eines Tages sucht ihn eine Klientin auf, die er acht Jahre zuvor bei ihrer Scheidung von ihrem ersten Ehemann vertreten hatte. Rie hat ihren zweiten Mann Daisuke Taniguchi nach nicht einmal vier Jahren glücklicher Ehe durch einen Arbeitsunfall bei einer Baumfällung verloren. Ihr Mann hatte ihr viel von seinem früheren Leben erzählt, ihr aber ausdrücklich untersagt, Kontakt zu seinem Bruder aufzunehmen. Ein Jahr nach seinem Tod trifft sie den unsympathischen Kyoichi und erfährt, dass ihr Mann nicht der war, für den er sich ausgegeben hat. Rie beauftragt den Anwalt mit den Ermittlungen. Dieser sucht nun mit großem persönlichen Einsatz nach der wahren Identität des Verstorbenen und nach dem echten Daisuke. Dabei entdeckt er, dass es Menschen gibt, die Identitätstausch zu einem Geschäftsmodell gemacht haben und viele Kunden, die davon Gebrauch machen, einige sogar mehrfach. Manche wünschen einfach den radikalen Bruch mit ihrer Familie, andere wollen nicht Sohn oder Tochter eines bekannten Mörders sein. Auch Kido findet die Idee, das Leben eines anderen zu führen, nicht unattraktiv, eröffnet sie doch die Möglichkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und eventuell eine neue Beziehung einzugehen, zumal seine Ehe in einer schweren Krise steckt: „Menschen können das Leben eines Anderen leben“ (S. 88). Auch der Leser wird sich bei der Lektüre vielleicht fragen, was ihn zu dem macht, der er ist und möglicherweise die eigene Existenz in Frage zu stellen.
Kido ist insofern in einer besonderen Situation, als er als Japaner mit koreanischen Wurzeln bei zunehmendem Rechtsextremismus in der japanischen Gesellschaft immer noch Anfeindungen befürchten muss, obwohl er voll integriert ist und seit seiner Schulzeit einen japanischen Pass besitzt. Ihn stört es empfindlich, wenn Menschen in typischem Schubladendenken nicht in ihrer Gesamtheit gesehen, sondern auf einzelne Merkmale reduziert werden: Koreaner, Rechtsanwalt.
Der Roman ist kein Thriller, aber er liest sich hervorragend, zumal er noch eine Reihe weiterer Themen behandelt: die Todesstrafe, durch die sich der Staat von jeder Verantwortung für die Taten eines Individuums freispricht, Erdbeben und Tsunami-Flutwellen inklusive Schäden an Atomkraftwerken, insbesondere die Katastrophe von 2011, durch die Tausende von Menschen starben, das Massaker an Koreanern von 1923, die Erfassung und Sicherung aller persönlichen Daten durch den Staat. Hiranos Roman gewährt Einblick in die japanische Kultur und Lebensart und ist sehr empfehlenswert.