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Veröffentlicht am 16.09.2017

Geburtstag

Die Hauptstadt
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Zum Jahrestag der Gründung der EU-Kommission soll Fenia Xenopoulou einen Festakt organisieren, mit dem sowohl eine Feier begangen werden soll als auch das Image der Kommission aufgebessert werden soll. ...

Zum Jahrestag der Gründung der EU-Kommission soll Fenia Xenopoulou einen Festakt organisieren, mit dem sowohl eine Feier begangen werden soll als auch das Image der Kommission aufgebessert werden soll. Fenia, die im Grunde schnellstmöglich wieder von der Kultur weg will, beauftragt Martin Susman mit der Erstellung eines Konzepts. Zur gleichen Zeit zieht einer der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz, David de Vriend, in ein Seniorenheim; Kommissar Brunfaut versucht einen Mord aufzuklären, der verschwunden ist; Professor Erhart bereitet sich auf eine Rede vor und ein unbekanntes Hausschwein geistert durch Brüssel.

Etliche Geschichten verschiedener Personen, die als Ganzes doch einen Zusammenhang haben. Die Läufe der Brüsseler Bürokratie, die in dem Willen, die Eigenheiten jedes Mitgliedstaates zu berücksichtigen, kaum eine andere Chance hat als sich zu verzetteln. Einer der scheidenden Engländer bringt es auf den Punkt, was die Eliten im britischen Parlament ohne auf das Wohl des Volkes zu achten innerhalb von zwanzig Minuten entscheiden, dauert in der EU Wochen und Monate. Mit Anfragen, Communiqués, Sitzungen endet es in Kompromissen, die die Gepflogenheiten aller EU-Länder berücksichtigen (sollen), in denen sich der Einzelne aber nicht mehr wiederfindet. Was kann die eigentlich hervorragende Europäische Idee des „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Rassismus!“ noch retten?

Tja, die normale Öffentlichkeit verlustiert sich mit der Namensgebung eines Schweins, das im Verlauf der Zeit immer mehr zum Phantom wird. Inzwischen werden Morde ignoriert, ein Festakt in der Bürokratie zermalmt, eigentlich bahnbrechende Ideen im Keim erstickt, gehen Erinnerungen mit den letzten Überlebenden verloren und nichts scheint wichtiger als der Absatz von Schweineschlachtabfällen in China.

Mit seiner beinahe allumfassenden Geschichte über die europäische Bürokratie und ihre Auswüchse fordert Robert Menasse zum aufmerksamen Lesen. Teils kennt man die Strukturen, teils ist man überrascht und manchmal auch erschrocken, hin und wieder belustigt. Doch immer wirkt die Darstellung so, als ob es tatsächlich so sein könnte. Der Alltag in den EU-Behörden könnte so stattfinden. Da kann schon mal ein Pass gewechselt werden wegen der Karrierechancen. Da könnte man nachdenken, welche Bedeutung die eigene Herkunft noch haben könnte. Weiterentwicklung oder Stillstand. Hat die EU noch eine Vision? Eine Frage, die der Autor nicht beantwortet. Je nach Einstellung des Lesers könnte der Roman ein Abgesang sein, durch den die Unmöglichkeit des „Unter einen Hut bringens aller Beteiligten“ nur noch deutlicher wird, oder eine vage Hoffnung auf einen echten Fortschritt in Richtung eines wirklichen Staates EU, in dem die Herkunft nur noch der Name eines Ortes, einer Stadt ist, mit dem aber keine Eigeninteressen einzelner Staaten mehr verbunden sind. Interpretationen der Absicht des Autors bleiben natürlich den Lesern überlassen, doch dass dieses Buch den Anlass gibt solche Interpretationen anzustellen oder gar eine eigene Meinung zu finden, ist geradezu großartig. Vielleicht sollte tatsächlich der Schritt zu einer wahren Union gewagt werden.

Veröffentlicht am 05.06.2017

Freiheit!

Der Tag X
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Kurz nach dem Krieg wird Nellys Vater von den Sowjets aus Ostberlin nach Russland verschleppt. Wie viele andere Wissenschaftler soll er für die Sieger forschen. Nellys Mutter weigert sich, ihren Mann zu ...

Kurz nach dem Krieg wird Nellys Vater von den Sowjets aus Ostberlin nach Russland verschleppt. Wie viele andere Wissenschaftler soll er für die Sieger forschen. Nellys Mutter weigert sich, ihren Mann zu begleiten. Noch im Jahr 1953 weiß Nelly nicht, wo ihr Vater ist. Bald will sie Abitur machen, doch ihr Engagement bei der christlichen jungen Gemeinde wird ihr zum Verhängnis. Ihr wird verboten, an den Abiturprüfungen teilzunehmen. Wolf Uhlitz, ein junger Uhrmacher, der sich in Nelly verliebt hat, wird von der Stasi in den Dienst gezwungen, um die christliche Gruppe zu infiltrieren. Und der Russe Ilja, der einmal gut zu Nelly war, bringt immer seltener Briefe von ihrem Vater.

Keine Liebesgeschichte im eigentlichen Sinne, keine romantischen Treffen junger Menschen in einer wachsenden DDR, in der doch alles nicht so schlimm ist. Man muss nur seine Nische finden. Und wenn man nicht in eine abgeschottete Nische will? Wenn man offen seine Meinung sagen will? Wenn man einfach nur über Vor- und Nachteile des Systems diskutieren will. Im Frühjahr 1953 ist die Lage in Ostdeutschland schlecht, die Normen werden heraufgesetzt, die landwirtschaftliche Produktion sinkt, die Läden sind leer. Manche Mütter wissen nicht, wie sie ihren Kindern etwas Vernünftiges auf den Tisch bringen sollen.

Bespitzelung und Denunziation an allen Ecken und Enden. Keiner kann dem anderen wirklich trauen. Geheimdienste spionieren und nutzen jede Gelegenheit, um die jeweils anderen auszuspähen. Und auch die große Politik spinnt ihre Fäden. Gerade diese jedoch haben nicht unbedingt das Wohl der Menschen im Sinn. Wenn es um das sogenannte große Ganze geht, kann ein Einzelner schon zum bedauerlichen Opfer werden. Und so wird der verzweifelte Aufstand der Arbeiter von allen Seiten für die eigenen Ziele genutzt.

Nach der mitreißenden Lektüre dieses Romans fühlt man sich eindringlich daran erinnert, dass die Freiheit, sich nach seiner Überzeugung zu äußern und zu leben, zumindest solange man andere damit nicht ungerechtfertigt einschränkt, nicht selbstverständlich ist. Fast klaustrophobisch könnte man das Gefühl beschreiben, das die Lektüre auslöst. Die immer größer werdende Enge des Überwachungsstaates, das gegenseitige Belauern, das Misstrauen, das immer größer wird. Dazu ein spannendes Spionagegeschehen vor dem Hintergrund der Weltpolitik. Man stellt sich, die Frage, ob die Menschen in der DDR von allen verlassen wurden, zum einen, um den idealen Arbeiter- und Bauernstaat zu schaffen, zum anderen aber auch, um ein vereintes, aber neutrales Deutschland zu verhindern. Soll man von Glück reden, wenn die eigenen Großeltern einfach ein paar Kilometer weiter gelaufen sind und einem so ermöglicht haben in einer westlichen Demokratie aufzuwachsen. Zumindest sind die Zeiten vorbei, in denen man dieses Privileg für selbstverständlich halten sollte.

Ein hervorragender zeitgeschichtlicher Roman, der sehr eindringlich daran erinnert, dass Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist.

Veröffentlicht am 30.04.2017

Das weiße Blatt

Sommer unter schwarzen Flügeln
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Nuri kommt aus Syrien. Mit ihrer Familie lebt sie in einem Flüchtlingsheim in der Einöde des Ostens. Sie geht zu Frau Silbermann, um zu erzählen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sie dort auf Calvin ...

Nuri kommt aus Syrien. Mit ihrer Familie lebt sie in einem Flüchtlingsheim in der Einöde des Ostens. Sie geht zu Frau Silbermann, um zu erzählen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sie dort auf Calvin trifft, in ihrem Alter, Deutsch, stramm rechts. Nuri, die eigentlich Nura heißt, beginnt ihre Geschichte zu erzählen. Und Calvin wird entführt, nach Syrien, nach Damaskus, in ein Land der Schönheit, in ein Land, in dem die Gefahr immer gegenwärtig ist, immer größer wird. Doch auch im grünen Deutschland gibt es Gefahren, die nicht unterschätzt werden dürfen. Die Asylanten sind nicht wohlgelitten und Calvin gehört zu denen, die man am besten meidet wie der Teufel das Weihwasser.

Ausgerechnet bei Frau Silbermann, die Birkenau überlebt hat, treffen sich Nuri und Calvin. Nuri, die erzählen muss, um sich zu befreien. Und Calvin, der zunächst widerwillig zuhört und doch immer mehr in den Bann ihrer Geschichte gezogen wird. Calvin fängt langsam an zu begreifen, dass Nuri und ihre Familie wohl nicht ohne Grund geflohen sind. Nuri, die sieht, dass auch so fremdenfeindliche Typen wie Calvin ihre Erzählung der Flucht aushalten sollten. Doch kann das aufkeimende bessere Verständnis zwischen diesen beiden die Situation zwischen den Menschen, die in dem Asylantenheim leben, und denen, die in den Sozialwohnungen leben, entspannen. Eher bieten die beiden, für beide Gruppen einen Grund noch mehr aufeinander loszugehen.

Nach der Lektüre dieses aufwühlenden Romanes muss man erstmal innehalten und tief durchatmen. Eine ganze Weile sitzt man vor dem weißen Blatt bevor man beginnen kann, seine Eindrücke in Worte zu fassen. Der Autor berichtet in brutal offenen Worten von einer Wirklichkeit, von der man eigentlich nichts wissen will. Und dennoch saugt man die Worte auf, besonders die Nuris über das Leben in Syrien, wie der relative Frieden immer mehr zerbricht, wie es gefährlicher und grausamer wird. Vor Gewaltexzessen geflüchtet, landet Nuris Familie in dem so gelobten Deutschland gerade nicht in einer besseren Welt. Auch hier wird sie bedroht, auf eine brutale Art und Weise, die weit über bloßen Protest hinausgeht. In was für einem Land leben wir hier eigentlich? Natürlich geht es hier auch nicht jedem gut, doch wie kann das ein Grund sein, über andere, denen es noch schlechter geht, herzuziehen? Je weiter man liest, desto mehr ist man gebannt. Je weiter man liest, desto mehr zögert man. Es geht auf ein Ende zu, das man nicht kennen möchte. Und doch setzt man sich dem aus, um mit dem Denken fortzufahren, um endlich zu denken, sich zu informieren und zu begreifen, zu trauern und sich zu schämen. Dies ist eine Geschichte, die zwar nur ein Roman ist, in der aber so viel von unserer Wirklichkeit steckt, dass sie unbedingt gelesen werden muss.

Veröffentlicht am 25.09.2024

Letzte Reise

Reise nach Laredo
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Vor einiger Zeit hat Karl V. Abgedankt. Nun verbringt er seine Tage in Yuste in einem Landhaus nahe bei einem Kloster. Im Jahr 1558 ist der für die damalige Zeit schon ein älterer Herr, der seine Gesundheit ...

Vor einiger Zeit hat Karl V. Abgedankt. Nun verbringt er seine Tage in Yuste in einem Landhaus nahe bei einem Kloster. Im Jahr 1558 ist der für die damalige Zeit schon ein älterer Herr, der seine Gesundheit nie geschont hat. Entsprechend schlecht ist sein gesundheitlicher Zustand. Eines schönen Tages will er ein Bad nehmen. Gerne würde er mehr Zeit mit seinem Sohn Geronimo verbringen, der allerdings nicht offiziell sein Sohn ist. Der Junge weiß nichts von seinem Vater. Karls letzter großer Traum ist eine Reise ans Meer nach Laredo. Der Gedanke, gemeinsam mit Geronimo könnte er sich auf den Weg machen, lässt ihn nicht mehr los.

Wie Empfindungen hegt ein abgedankter Herrscher, der in seiner Zurückgezogenheit eigentlich nichts mehr zu tun hat als seinen Gedanken nachzuhängen. Reflexionen über die Zeit seiner Herrschaft. Hat er alles richtig gemacht? Eroberungen, Kriege, die Vermählungen seiner Töchter aus Gründen, die dem Land diesen sollten. Und Geronimo, für dessen Zukunft er nichts tun kann oder will. Soll er dessen Position verbessern? Wenigstens mehr Kontakt könnte er mit ihm haben. Der Elfjährige ist so erfrischend ehrlich und impulsiv. Wenn Karl mit dem Jungen zusammen ist, hebt sich seine Stimmung gleich. In seinem Alter eine Reise? Das wäre was.

Beim Lesen des Klappentextes kann man sich fragen, ob die Thematik so packend ist. Wenn man jedoch die ersten Seiten aufblättert und beginnt zu lesen, merkt man gleich, dass einen die Sprache gefangen nimmt. Das Innenlebens eines alten Mannes, der sein früheres Leben aufgegeben hat und es damit auf eine Art wieder selbst in die Hände genommen hat. Die Beschäftigung mit seinem Leben, der Wunsch, seinem Sohn etwas näher zu kommen, seine schmerzhaften Krankheiten und Altersbeschwerden, das ist eine zeitlose Mischung, die auch heute interessant ist. Und auch die Beschreibung der Reise hat es in sich. Kann es sein, dass wenn eigentlich alles schon vorbei ist, das Leben doch noch etwas in Petto hat. Man wünscht es Karl.

Der Weg ist das Ziel könnte man meinen, wenn man das sehr gelungene Cover sieht.

Der Roman ist für den österreichischen Buchpreis 2024 nominiert. Die Jury hat damit eine gute Wahl getroffen.


Veröffentlicht am 14.09.2024

Das Unausgesprochene

Kleine Monster
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Als Pia und Jakob von der Klassenlehrerin in die Schule gebeten werden, können sie sich nicht vorstellen, was da passiert sein soll. Es habe einen Vorfall mit einem Mädchen gegeben, viel genauer drückt ...

Als Pia und Jakob von der Klassenlehrerin in die Schule gebeten werden, können sie sich nicht vorstellen, was da passiert sein soll. Es habe einen Vorfall mit einem Mädchen gegeben, viel genauer drückt sich die Lehrerin nicht aus. Die Eltern können sich nicht vorstellen, dass ihr siebenjähriger Sohn Luca überhaupt zu irgendetwas fähig wäre, was dieses Treffen notwendig machen würde. Die Eltern können die Situation nicht richtig einschätzen. Das Beste wird es sein, sie fragen Luca, wie er die Sache sieht. Doch der Junge schweigt oder gibt nur einsilbige Antworten. Dann bemerkt Pia, dass sie aus der Elternchatgruppe herausgeflogen sind.

Das Gedankenkarussell beginnt sich zu drehen. Was ist vorgefallen? Wieso sagt Luca nichts? Besonders Pis kann sich nicht gegen ihre Befürchtungen wehren. Was, wenn doch was war? Jakob vertraut seinem Sohn mehr und er versucht möglichst normal mit ihm umzugehen. Eher wundert er sich über das Misstrauen von Pia. Diese allerdings hat eines Tages beschlossen, nicht so viel über die Ereignisse aus ihrer Kindheit zu sprechen. Luca soll ein Einzelkind bleiben. Pia hat zwei Schwestern. Eine ist schon als kleines Kind gestorben, mit der anderen hat Pia keinen Kontakt mehr. Aus ihren Herzen sind die Beiden aber nicht verschwunden.

In diesem Roman wird vieles nicht ausgesprochen. Das beginnt mit Luca, der nicht preisgibt, was mit dem Mädchen vorgefallen ist beziehungsweise ob überhaupt etwas vorgefallen ist. Weiter geht es mit Pia, die über ihre Schwestern nicht groß redet, aber häufig an sie denkt. Gerade das Unausgesprochene führt zu immer bedrohlicheren Vorstellungen, die Pia fast dazu führen, ihr Heim in Gefahr zu bringen. Das zu lesen ist eine echte Tour de Force, ein Pfad, den man nicht verlassen kann, bis man ihn zu Ende gegangen ist. Immer mehr vermischen sich die äußeren Ereignisse mit den Erinnerungen. Man ist gefesselt und erschüttert. Nicht unbedingt nur von der eigentlichen Geschichte, sondern insbesondere von der subtilen Schilderung der Autorin, die es versteht, einen Schauer nach dem anderen zu erzeugen.

Die Bangigkeit und die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart wird durch das Cover hervorragend ausgedrückt. Das erschließt sich allerdings erst, wenn man die Erzählung kennt.

Der Roman ist für den österreichischen Buchpreis 2024 nominiert und das spricht dann auch für sich.