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Veröffentlicht am 14.05.2022

Coming of Age in einer Regenbogenfamilie

Die Lüge
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Mikita kann sich kaum noch an seine früh an Krebs verstorbene Mutter erinnern. Doch er hat ein liebevolles Elternpaar - seinen Onkel Slawa und dessen Lebensgefährten Lew. Und weil die Gesetzgbung in Russland ...

Mikita kann sich kaum noch an seine früh an Krebs verstorbene Mutter erinnern. Doch er hat ein liebevolles Elternpaar - seinen Onkel Slawa und dessen Lebensgefährten Lew. Und weil die Gesetzgbung in Russland ebenso wie die Gesellschaft ausgesprochen homophob ist, muss Mikita sein Familienleben von klein auf mit Lügen, Verschleierungen, Unwahrheiten schützen. Sonst droht ihm im schlimmsten Fall die Einweisung in ein Kinderheim. In Mikita Frankos Coming od Age-Roman "Die Lüge" wird eine Regenbogenfamilie mit viel Empathie, aber ohne Sentimentalität oder gar Kitsch gezeichnet.

Ich-Erzähler Mika hadert mitunter mit seinem Schicksal - Offiziell hat sein alleinstehender Onkel Elternstelle bei ihm übernommen. Slawa, ein unkomplizierter, spontaner Künstlertyp, nur 16 Jahre älter als Mika, war schon immer in seinem Leben präsent. Doch mit dem Arzt Lew, einem auf Ordnung und Manieren bedachten eher strengem Mann, der auch streng und aus Mikas Sicht ungerecht sein kann, tut er sich schwerer. Dennoch ist Lew der erste, den er "Papa" nennt.

Dass seine beiden Väter nicht nur Wohung, sondern auch das Bett teilen, kommt Mika zunächst nicht normal vor. Erst nach und nach gewöhnt er sich an die Idee. Als er in die Schule kommt, hadert Mika nicht nur mit der dortigen Disziplin und rabaukigen Mitschülern, er muss auch ein Versteckspiel beginnen: Kommen andere Kinder zu Besuch, müssen alle Spuren von Lew aus der Wohnung getilgt werden, um die Legende vom alleinerziehenden Vater Slawa aufrecht zu erhalten.

Der Stress bleibt nicht ohne Folgen: Mika wird verhaltensauffällig, aggressiv, beschimpft auch seine eigenen Väter als "Schwuchteln", sehnt sich nach der Art von Normalität, die andere seiner Mitschüler haben. Und dennoch erkennt er nach und nach, dass das Lebensmodell seiner Familie ihn offener macht für andere Lebensstile - ganz so, wie seine Mutter es sich für ihn erhofft hatte, als sie erkennen musste, dass sie ihren Sohn nicht aufwachsen sehen würde. Die Großmutter, liebevoll aber fest verwurzelt in Überzeugungen, die Slawas Homosexualität schlicht ignorieren beziehungsweise für "abartig" halten, ist der Gegenpol zu Mikas Familienleben.

Der Roman folgt Mikas Leben von der Kindheit in die Pubertät - erste Liebe, unerwiderte Liebe, ein Mitschüler, der aus der Regenbogenfahne auf Mikas Tisch die falschen Schlüsse zieht und schließlich, zu Mikas Entsetzen, die Erkenntnis, das er sich selbst zu Männern hingezogen fühlt. Bestätigt er jetzt alle gesellschaftlichen Vorurteile, dass eine Regenbogenfamilie keine "normalen" Kinder hervorbringen kann. Zwischen Liebe zu seinen Eltern und Selbstakzeptanz liegt angesichts der geselllschaftlichen Vorurteile, von denen auch Mika sich nicht gänzlich frei machen kann, eine Kluft.

Mika in seiner teils schnoddrigen, teils leicht nervigen Art (er ist schon eine kleine Diva zuweilen) ist ein sympathischer Protagonist, dessen Konflikte, aber auch tiefe Verbindung zu seinen beiden so unterschiedlichen Vätern überzeugend dargestellt wird. Ein Plädoyer für Toleranz und Akzeptanz, die auch Mika gelegentlich benötigt. In Russland darf der Roman nur an Leser über 18 Jahre verkauft werden. Dabei wäre er gerade für queere Kinder und Jugendliche, die sich über sich selbst klar zu werden versuchen, so wichtig und nützlich. "Die Lüge" berührt.

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Veröffentlicht am 26.04.2022

Queerer Krimi aus Tel Aviv

Der letzte Schrei
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Israel ist das LGBTQI-freundlichste und toleranteste Land des Nahen Ostens (was an sich keine Kunst ist angesichts der homophoben Gesetzgebungen und Gesellschaften in den Nachbarländern) - in der Küstenmetropole ...

Israel ist das LGBTQI-freundlichste und toleranteste Land des Nahen Ostens (was an sich keine Kunst ist angesichts der homophoben Gesetzgebungen und Gesellschaften in den Nachbarländern) - in der Küstenmetropole Tel Aviv ist das unübersehbar. Wer schon einmal da war, weiß, dass Regenbogenfahnen an Fensterrahmen und Balkons weit verbreitet sind, Fächer, Fähnchen und andere Souveniers in Regenbogenfarben von Straßenhändlern feilgeboten werden und auch außerhalb der Szene-Bars Restaurants, Hotels und Cafés um queeres Publikum werben. Mit "Der letzte Schrei" hat der israelische Autor Yonatan Sagiv nun auch den passenden (Kriminal-)roman aus der queeren Szene Tel Avivs mit viel Lokalkolorit geschrieben.

Doch auch hier gilt: Einerseits selbstbewusstes Schwul-lesbisches und sonstig queeres Leben, doch andererseits ist es nicht so einfach. Nicht nur wegen der Zersplitterung der Szene in immer mehr Communities, nicht wegen der wehselseitigen Vorurteile, etwa Lesben gegen Transen gegen Alpha-Schwule. Das Coming Out und die Akzeptanz der nächsten Angehörigen sind auch dort nicht selbstverständlich, wo es eine große Community gibt. Das Mobbing auf den Schulhöfen, den Sportplätzen oder in den Kasernen gegen die, die nicht der gängigen Norm entsprechen, existiert auch dort, wo Gesetze Toleranz versprechen. Und Vorurteile können tödlich sein.

Oded Chafer, homosexueller Privatdetektiv, der stark mit seiner inneren Frau im Einklang ist und sich geradezu masochistisch in muskulöse Macho-Typen verliebt, die ihn dann wieder fallen lassen, kann ein Lied davon singen. Er mag in seiner schrill-effeminierten Art auffällig sein - doch eigentlich ist er verunsichert und verletzbar in seinem Wunsch, einmal nicht als der peinliche Sohn wahrgenommen zu werden, der als Kind beim Fußballspielen weinte und lieber mit der Schwester zum Tanzunterricht gegangen wäre, der bei Bar Mitzwahs schweigend übergangen wird, wenn Eltern mit den Erfolgen der eigenen Kinder angeben. Diese Verletzlichkeit, die sich erst nach und nach erschließt, gibt Oded Konturen weit über jegliche "Schwuchtel"-Klischees hinaus.

Selbst Odeds Lebensstil ist mehr Schein als Sein: Die chice Wohnung im Bauhausviertel gehört nicht ihm, sondern einem guten Freund, der gerade geschäftliich in Singapur ist. Als Housesitter kann Oded seine deutlich weniger glamouröse Wohnung untervermieten und hoffen, dass der nächte Auftrag auch ihn einem guten Leben näherbringt. Denn für einen PR-Guru, der mit den Reichen, Mächtigen und Berühmten bestens vertraut ist, soll er herausfinden, was mit dem 15-jährigen Popsternchen los ist, das kurz vor dem großen Durchbruch steht, aber seit Wochen schwer depressiv ist und die vielversprechende Karriere riskiert.

Oded hat also keine Zeit, sich um den Fall einer vermissten transsexuellen Sängerin zu kümmern, die nach einer Party bei dem PR-Guru nicht zu ihrer Freundin zurückgekehrt ist. Er hat auch wenig Lust, bloß um der regenbogenbunten Community willen Extra-Arbeit zu leisten und muss sich von seinem Kokurrenten um die Liebe des Polizeiinspektors Yaron Malka vorhalten lassen, er sei gendermäßig nicht auf dem Laufenden und zeige mangelnde Solidarität. Abgelenkt wird er aber auch einmal wieder durch seine Gefühle für den attraktiven Muskelprotz Stas, der Leibwächter wie auch recht Hand seines Auftraggebers ist.

In "Der letzte Schrei" führt Sagiv seine Leser:innen durch Glanz und Elend von Tel Aviv, durch die Villen am Meer und die dunklen Ecken, in denen transsexuelle Prostituierte auf Freier warten, zeigt das Bild einer Multikulti-Gesellschaft, die keineswegs frei von Vorurteilen ist, ob nun gegen Araber, Einwanderer und Menschen jenseits des jeweiligen Mainstream handelt. Der sehr direkte Umgangston, der in Israel zum Alltag gehört und der Außenstehenden leicht aggressiv erscheint, wird ebenso gepflegt wie ein sehr bissiger jüdischer Humor ("In Auschwitz hätte ich keine Kartoffelschale mit ihm geteilt"), an den sich viele deutsche Leser wohl erst mal gewöhnen müssen.

"Der letzte Schrei" hat ebenso schrille wie auch stille Momente, und zwischen den Obsessionen Odeds, wenn er einmal nur wieder an Männerkörper denken kann, ist es mitunter leicht zu übersehen, wie komplex und vielschichtig jenseits des Offensichtlichen dieses Buch ist. Mich hat es überzeugt, nicht nur weil es mir ein literarisches Wiedersehen mit Tel Aviv ermöglicht hat, nicht nur, weil Queerness hier keine Randerscheinung ist, sondern auch wegen der oft witzigen Dialoge und Odeds Lästereien.

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Veröffentlicht am 25.04.2022

Der Berg kommt

Vom Gehen und Bleiben
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"Der Berg ruft nicht, er kommt", hieß es mal in einem Bericht über die Auswirkungen des Klimawandels in den Alpen und anderen Gebirgsregionen. Welche Auswirkungen das für die Einwohner vor Ort hat, ist ...

"Der Berg ruft nicht, er kommt", hieß es mal in einem Bericht über die Auswirkungen des Klimawandels in den Alpen und anderen Gebirgsregionen. Welche Auswirkungen das für die Einwohner vor Ort hat, ist Thema in Petra Huckes Alpenroman "Vom Gehen und Bleiben", in dem nicht nur die Generation Greta eine Identifikationsfigur findet.

Gerade mal 60 Einwohner hat das kleine Dorf Vischnanca in der rätoromanischen Schweiz, seit neuestem sind es vier mehr: Eine deutsche Familie aus Duisburg hat ein Haus im Dorf gemietet. Vor allem Familienvater Fabio, ein Ingenieur mit übermächtigem Vater, hofft auf einen Neuanfang: Alles kleiner als bisher, Homeoffice und Hausmann-Dasein, während endlich Ehefrau Katja als Managerin eines Öko-Hotels in einer nahen Stadt karrieremäßig durchstarten kann. Für Jasper, 17, und Jojo, 14, bedeutet es eine neue Sprache und Suche nach Freundschaften in einem Ort, wo sie so gut wie keine Gleichaltrigen haben. Der erste Wermutstropfen kommt unmittelbar nach dem Einzug: das Dach ist undicht.

Doch es gibt nicht nur Baumängel. Die schücherne Jojo, die sich bei Fridays for Future engagiert, ist die erste der Familie, der die Risse an einigen Häusern auffallen. Der Felsbrocken, der bei einer Mofafahrt mit Jasper unmittelbar vor den beiden über die Fahrbahn rollte - kein Zufall?

Leser erfahren zusammen mit den Neuankömmlingen, was die Einheimischen schon länger wissen, aber meist zu verdrängen suchten: Der Berg über dem Dorf droht abzurutschen, der gelegentliche Steinschlag ist nur eine Vorahnung dessen, was drohen kann, wenn die Stabilität ins Wanken gerät. Die Kantonverwaltung und Geologen haben schon seit längerem Evakuierungspläne vorbereitet für den Fall eines Felssturzes. Eine Drainage könnte helfen, den Untegrund zu stabilisieren. Doch das Dorf, so erfahren die Einwohner bei einer Dorfversammlung, muss so oder so aufgegeben werden.

Für Fabio wäre es nur der Abschied von der Idylle, in die er sich verliebt hat, von dem Garten, den er angelegt hat. Von Haus aus wohlhabend, können seine Familie und er überall leben. Für die Bergbäuerin Ria sieht es ganz anders aus. Sie ist tief verwurzelt in dem Dorf, dass einer ihrer Vorfahren gegründet hat. Der Gedanke, woanders neu anzufangen, ist ihr ein Graus. Der Hof, der seit Generationen in der Familie ist, soll auch der Ort sein, an dem ihre kleine Tochter aufwachsen kann.

Wie intakt ist die Dorfgemeinschaft wirklich? Bei der Debatte um eine Zukunft außerhalb von Vischnanca, um Entshädigungen und den Umgang mit Verlust sind die Meinungen gespalten. Risse gibt es nicht nur in den Gebäuden, sondern auch in der Dorfgesellschaft. Hierarchien, die lange übertüncht schienen, haben auch Einfluss auf die Überlegungen, ob man gehen oder bleiben soll. Dank Jojos Instagram-Aktivitäten wird das kleine Alpendorf über den Kanton hinaus in sozialen Medien bekannt. Doch plötzlich überstürzen sich die Ereignisse.

Vieles, was als sicher und beständig galt, wird plötzlich auf die Probe gestellt - die Zukunft des Dorfes ebenso wie menschliche Beziehungen, Freundschaft und Liebe. Alles, was geschieht, scheint auf unsicherem Grund zu stehen. Diese Unwägbarkeiten schildert die Autorin aus dem Blick verschiedener Figuren des Romans, wobei Fabio, Jojo und Ria die mit dem stärksten Profil sind. Die Natur ist gleichermaßen Idylle wie Bedrohung, wobei mit den Gefahren durch den Berg auch die Konflikte in der Gesellschaft zunehmen und sich Abgründe auftun. Bei aller Dramatik ist "Vom Gehen und Bleiben" ruhig und mi eher leisen Tönen erzählt, wobei rätoromanische Worte für Lokalkolortit sorgen.

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Veröffentlicht am 24.04.2022

Auftragskiller (fast) unter sich

Bullet Train
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Irrwitzige Dialoge wenn Auftragskiller über Leben und Tod philosophieren, Leichen und verschwundene Koffer, und das alles an Bord eines japanischen Hochgeschwindigkeitszuges: Mit "Bullet Train" hat Kotaro ...

Irrwitzige Dialoge wenn Auftragskiller über Leben und Tod philosophieren, Leichen und verschwundene Koffer, und das alles an Bord eines japanischen Hochgeschwindigkeitszuges: Mit "Bullet Train" hat Kotaro Isaka einen ungewöhnlichen, aber ausgesprochen lesenswerten Thriller geschrieben. Ähnlich wie sein koreanischer Autorenkollegen Un-Su Kim bringt Isaka eine Prise Tarrantino in einen Roman aus Fernost, allerdings mit einem ganz anderen Schreibstil, wenn es auch in beiden Romanen um Menschen geht, die in der organisierten Kriminalität zu Hause sind.

Schon die knappa Inhaltsbeschreibung macht klar: Hier geht es rasant zu: Ein Zug. Fünf Killer. Und ein Koffer voller Geld. Da ist ja eigentlich schon einmal klar, dass es Tote gibt, und ebesno, dass die Entsorgung von Leichen in einem fahrenden Hochgeschwindigkeitszug eine Herausforderung darstellt. Man will ja nicht auffallen.

Manches Detail des Plots bleibt bis zum Ende ungeklärt, das ist aber auch egal - bei so viel adrenalingeladener Atmosphäre sind Fragen nach Sinn und Logik fast schon obsolet. "Bullet Train" lebt von seinen widersprüchlichen Figuren und ihren Interaktionen. Da wären etwa die beiden Profikiller Lemon und Tangerine, die den entführten Sohn eines Mafia-Bosses samt Lösegeldkoffers zurück zum Vater bringen sollen, nachdem sie der Entführung auf ihre eigene Art ein Ende bereitet haben. Die beiden, die stets im Team arbeiten, gelten als die besten der Branche, sind allerdings völlig unterschiedliche Charaktere: Während der eher nachdenkliche Tangerine gerne liest, ist sein eher emotionaler Kollege versessen auf die Lokomotiven einer Kinder-Zeichentrickserie und vergleicht Menschen stets mit den Cartoon-Figuren.

Lemon ist es auch, der den Koffer mit dem Lösegeld unbedacht im Gepäckbereich abgestellt hat. Wenig überraschend: Plötzlich ist der Koffer weg. Und nicht nur das, das Entführungsopfer ist plötzlich leblos, obwohl die beiden doch nur mal kurz nach dem Koffer gesehen haben. Wie konnte das geschehen? Was Lemon und Tangerine nicht ahnen: ein weiterer Killer, Nanao, hat den Auftrag bekommen, den Koffer zu stehlen. Der ist allerdings der größte Pehvogel der Branche. Indofern ist es keine Überraschung, dass auch er seine Probleme mit dem angeblich leichten Auftrag hat, während die jeweiligen Auftraggeber ungeduldig auf Erfolgsnachrichten warten. Klar, dass ein offenes Gespräch da eher ungünstig wäre.

In privater Mission ist hingegen der Ex-Profi und alleinerziehende Vater Kimura unterwegs. Er will sich an demjenigen rächsen, der Schuld daran ist, dass sein kleiner Sohn seit Wochen nach dem Sturz von einem Dach im Koma liegt. Allerdings läuft auch das nicht wie geplant. Ein kindlicher Psychopath ist zwar kein Profi, in seiner Bösartigkeit aber weitaus unangenehmer als die Männer, ie "nur" für Geld töten - er genießt es Herr über Leben und Tod zu sein.

Temporeich ist in "Bullet Train" nicht nur der Zug, in dem sich die Schicksale der Protaginisten verweben. In immer neuen Konstellationen werden Bündnisse geschlossen, die buchstäbich kurzlebig sind, während angesichts der steigenden Leichenquote im Zug die Frage übrig bleibt: wer wird am Ende überleben? Dabei sorgt der Autor trotz vieler gleich am Anfang feststehender Informationen für ein paar unerwartete Überraschungen.

Schon allein wegen der Dialoge lohnt sich die Lektüre von "Bullet Train". Die zahlreichen Wendungen sorgen dafür, dass man sich trotz desr stets anwachsenden Leichenzahl durchaus auch unterhalten fühlt - vor allem, wenn man schwarzen Humor liebt. Bei der nächsten Zugfahrt könnte allerdings leichte Paranoia aufkommen - ob beim Anblick schwarzer Koffer, klemmender Toiletten oder des passierenden Zugpersonals.

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Veröffentlicht am 22.04.2022

Schrill, queer und sehr unterhaltsam

Zurück nach Übertreibling
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Transfrau Vicki Victoria steht nicht nur fest im Leben, sie bewältigt es auch auf Stiletto-Absätzen - egal ob sie als V-Frau der Münchner Polizei unterwegs ist oder als Unterhaltungskünstlerin. Doch nun ...

Transfrau Vicki Victoria steht nicht nur fest im Leben, sie bewältigt es auch auf Stiletto-Absätzen - egal ob sie als V-Frau der Münchner Polizei unterwegs ist oder als Unterhaltungskünstlerin. Doch nun droht Ungemach in der Münchner Dachgeschosswohnung, wo Vicki sich nach einer eher freudlosen Jugend in der niederbayrischen Provinz neu erfinden konnte. Denn Toni Besenwiesler, der sie in der Schule, damals noch äußerlich ein Junge, grausam drangsalierte, ist aus dem Gefängnis ausgebrochen - und er schwört Vicki Rache. Sie, so glaubt er, hat dafür gesorgt, dass er einen Mord verurteilt wurde, den er nicht begangen hat.

Ich-Erzählerin Vicki, die Protagonistin in Gloria Grays schräg-ironischem Cozy Krimi "Zurück nach Übertreibling" weiß: Mit dem Besenwiesler Toni kann man nicht diskutieren. Bleibt also nur die Flucht, doch schon das Treffen mit Clan-Chef Ahmet, mit dem der Geflohene ebenfalls eine Rechnung offen hat, endet exklusiv. Und dann wird auch noch die befreundete Nachbarstochter und Social Media-Influencerin Kathi entführt. Um das geplante Rache-Feuer zu löschen, bleibt Vicki nur eines übrig: Zurück nach Übertreibling, in das Heimatkaff, in dem alles begann.

Der Ortsname Übertreibling ist hier Programm: Krimi-Realisten mögen sich die Haare raufen, Logik und Stringenz vermissen. Hier übertreibt die Autorin nach Herzenslust, eine Figur ist schräger und exzentrischer als die nächste, kein Klischee, das nicht genüsslich ausgereizt und auf die Spitze getrieben wird.

Nicht genug, dass zum Personeninventar außer derb-rustikalen Niederbayern die Mitglieder einer tierliebenden Motorradgang, einer türkischen Clanfamilie mit ausgerechnet griechischem Nachnamen, teils faule, teils korrupte Polizisten und eine alternde Diva gehören. Vicki Victoria kommentiert alle Geschehnisse gewissermaßen in Dauerschleife, schweift dabei gerne mal ab zu philosophiert nebenbei über Gendersternchen und die Absonderlichkeiten der social media-Kultur. Meinungsstark ist sie allemal und niemals auf den Mund gefallen, selbst wenn das Fehlen einer Perücke eine mittlere Daseinskrise auslösen kann.

Eigentlich klar, dass bei Vickis Hobby-Ermittlungen jede Menge Verwicklungen auftauchen und nichts ohne viel Drama geschehen kann, sozusagen mit Glitzereffekt und high heels Staccato. Je nach Gemütszustand des Lesers kann so eine Plaudertasche wie Vicki anstrengend sein oder erheiternd. Mit einem offensichtlichen Augenzwinkern geschrieben, sollte es auch so gelesen werden. Bei aller Exaltiertheit hat sich Vicki eine bajuwarische Offenheit bewahrt und das Herz stets auf dem rechten Fleck.Ich habe mich köstlich amüsiert und hoffe auf ein Wiedersehen mit Vicki Victoria. Immerhin: Im Oktober soll ein Folgeband erscheinen.

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