Keine Zeit für Liebe
Zuletzt hatte ich „Milchmann“ von Anna Burns gelesen und war begeistert von der ungewöhnlichen Annäherung an ihre Figuren sowie der realistisch erscheinenden Härte der Ereignisse. Deshalb wollte ich auch ...
Zuletzt hatte ich „Milchmann“ von Anna Burns gelesen und war begeistert von der ungewöhnlichen Annäherung an ihre Figuren sowie der realistisch erscheinenden Härte der Ereignisse. Deshalb wollte ich auch unbedingt ihren neuen Roman lesen.
Mit „Amelia“ tauchen wir noch deutlicher, in meinen Augen maximal in den Nordirlandkonflikt ein. Die Brutalität, die „Milchmann“ vergleichsweise nur andeutet, wird hier filmreif herausgearbeitet. Die Leser*innen werden wirklich nicht geschont. Die Familien im Kontext des Romans sind arm und kinderreich. Allgegenwärtig ist zudem der Hass zwischen den Konfliktparteien. Die Troubles sind gekennzeichnet durch Straßenschlachten, Diebstahl und Hauszerstörung. Die Leute bringen sich gegenseitig um, Menschen verschwinden einfach, tauchen nie wieder auf. Männer wie Frauen verschanzen sich, kämpfen bis aufs Blut mit einfachsten Mitteln wie Knüppeln und Feuerhaken. Die britische Armee scheint nur zu kommen, um nach den Geschehnissen wieder aufzuräumen. Den Konflikt auseinanderhalten bzw. -treiben tut sie nicht. Über Allem schwebt die stete Sorge wie die Familie am Abend satt werden soll. Die permanente Angst wird mit Alkohol betäubt, der seinerseits die Probleme weiter anschürt.
Die geschaffene Atmosphäre ist düster, das Leben zur Zeit der Troubles erscheint lieblos. Dabei sehnt sich Amelia ihr ganzes Leben lang nach Liebe, Aufmerksamkeit seitens der Eltern, Unterstützung von Geschwistern, gegenseitiges Verständnis unter Freunden, echte Zuneigung vom anderen Geschlecht. Doch all diese Selbstverständlichkeiten sind unter die Räder gekommen. Jeder kämpft nur noch ums nackte Überleben.
Wie schon „Milchmann“ ist auch „Amelia“ ein fordernder Roman. Die Herausforderung liegt hier weniger in der Extravaganz des Schreibstils, mehr im Ertragen des Gelesenen sowie im Überwinden der Zeitsprünge. Die ausufernde Gewalt, der Alkoholkonsum rücken die Charaktere ins Befremdliche. Während „Milchmann“ für mich teilweise dystopische Züge hatte, weil ich mir gut vorstellen konnte, dass Selbiges in naher Zukunft auch möglich ist, ist meine Wahrnehmung hier rein historisch. Den behandelten Kriegszustand möchte ich mir für unsere Zeit nicht vorstellen, wohlwissend, dass viele Menschen dieser Erde unter ebendiesem Umständen leben müssen.
Besonders sensibel erarbeitet wurde der Einfluss von Konflikt und Krieg auf die Lebensläufe der Betroffenen. Dadurch wird deutlich, dass ein Waffenstillstand oder ein ausgehandelter Frieden längst nicht gleichbedeutend mit einem normalen Leben ist. Dieser Aspekt des Romans hat mir am besten gefallen. Insgesamt wieder ein hervorragender Roman von Anna Burns und bestimmt nicht mein letzter.