Die Ministerin und die dunkle Seite der Macht
BetrugDie isländische Autorin Lilja Sigurdadottir ist mir schon mit ihrer Reykjavik-Triologie um die Drogenschmugglerin Sonja ausgesprochen positiv aufgefallen. Ihre starken, aber auch ambivalenten Frauenfiguren, ...
Die isländische Autorin Lilja Sigurdadottir ist mir schon mit ihrer Reykjavik-Triologie um die Drogenschmugglerin Sonja ausgesprochen positiv aufgefallen. Ihre starken, aber auch ambivalenten Frauenfiguren, die Art und Weise wie Queerness nicht als etwas Exotisches, sondern normal und alltäglich dargestellt wird, die Dunkelheit hinter einer scheinbar heilen Oberfläche - hier kam alles sehr fein zu "Scandinavic Noir" zusammen. Da war für mich gleich klar, dass ich auch unbedingt Sigurdadottirs neuen Roman, "Betrug" lesen wollte.
Das Setting und die Protagonisten sind völlig anders, doch die Darstellung von komplexen Charakteren und einem Plot, der sich erst nach und nach erschließt und dabei auf das allzu Offensichtliche verzichtet, sorgt auch hier für ein gelungenes Leseerlebnis. Im Mittelpunkt steht Ursula, die jahrelang als ausgebildete Notsanitäterin bei internationalen Hilfseinsätzen gearbeitet hat, bei einer Ebola-Epidemie in Liberia ebenso wie zuletzt in einem Flüchtlingslager in Syrien. Mit Gefahren und Minenfeldern ist sie also vertraut - in ihrem neuen Amt als isländische Innenministerin hingegen sind die Minen diplomatischer Natur und der Feind versteckt sich hinter nur scheinbar freundlichen Worten.
Die idealistische Ministerin soll nur für ein Jahr antreten, als Kompromisskandidatin der Koalitionsparteien, nachdem die Erkrankung ihres Vorgängers bis zu den nächsten Parlamentswahlen eine Interimsministerin nötig macht. Auch wenn sie keine politische Erfahrung hat, kommt das Angebot Ursula gelegen. Nach traumatischen Erfahrungen hofft sie, die Arbeit in der Heimat könne auch wieder mehr Nähe zu Ehemann Nonni und ihren Kindern ermöglichen. Denn Ursula war eine buchstäblich abwesende Mutter und obwohl sie ihre Familie liebt, kann sie diese Gefühle nicht ausdrücken, ja manchmal nicht einmal spüren.
Ursula hofft, mit ihrer Arbeit etwas verändern und Menschen helfen zu können - so wie jener Frau, der sie zufällig gleich am ersten Arbeitstag begegnet. Deren 14-jährige Tochter wurde von einem Polizisten vergewaltigt. Doch seitdem wurden die Ermittlungen verschleppt, während das Mädchen in sozialen Medien als Hure beschimpft wird. Als Ursula sich mit Nachdruck und gegen passiven Widerstand im eigenen Haus fordert, dem Fall nachzugehen, wird sie zum Ziel sexistischer Beschimpfungen und Gewaltfantasien. Angst bereiten ihr auch rätselhafte Botschaften, wonach sie sich mit dem Teufel eingelassen habe. Sie stammen, wie sich herausstellt, von einem Obdachlosen, der Ursula aus ihrer Kindheit bekannt ist.
Gleich mehrfach ist Ursula mit der dunklen Seite der Macht konfrontiert, sieht sich als Spielball politischer Intrigen und gleichzeitig durch gezielte Indiskretionen im Mittelpunkt öffentlicher Anfeindungen. Gleichzeitig erschließt sich aus den Ereignissen der Vergangenheit viel von Ursulas Persönlichkeit. Auch die Nebenfiguren des Romans - die Ehefrau des Polizisten in dem Vergewaltigungsfall, eine junge Putzfrau, der eine Schlüsselrolle zukommen wird, oder der Bodyguard Gunnar überzeugen in diesem Roman, der sowohl Spannung als auch Auseinandersetzung mit Themen wie Hass in sozialen Medien, Drohungen gegen Politiker, toxische Männlichkeit oder Gewalt gegen Frauen liefert. Athmosphärisch dicht und mit einem dynamischen Beziehungsgeflecht, hat auch "Betrug" wieder eine düstere Note, die Sigurdadottir schon in ihren vorangegangenen Romanen geprägt hat.