Von einem Extrem ins andere
UN-VERHÜLLTIch schaue selten Netflix, aber als ich von "mein unorthodoxes Leben" hörte, schaute ich mir die erste Staffel an. Da die Folgen anders als erwartet waren, nahm ich mir vor Julia Haarts Buch zu lesen, ...
Ich schaue selten Netflix, aber als ich von "mein unorthodoxes Leben" hörte, schaute ich mir die erste Staffel an. Da die Folgen anders als erwartet waren, nahm ich mir vor Julia Haarts Buch zu lesen, denn ich war neugierig, ob sie hier endlich ihre echte Geschichte erzählt oder ob es bei oberflächlichen Plaudereien bleibt, wie man sie in der Staffel nur zu oft gehört hat. Ich war gespannt, ob Fragen, die bei der Sendung offen bleiben, im Buch beantwortet werden - ja, das werden sie zum Teil. Aber vieles wird am Ende auch übergangen.
Von der Tellerwäscherin zur Millionärin - der alte amerikanische Traum - ungefähr so kann man Julia Haarts Leben überschreiben. Die Show will uns glauben lassen, dass Julias Weg von einem armen streng orthodox aufgewachsenen Mädchen zur berühmten Modedesignerin und ihr Ausstieg aus dem engen religiösen Umfeld sehr hart waren.
Doch beim Lesen merkt man schnell, dass nicht alles so extrem war, wie Julia es uns glauben lassen wollte. Sie verbrachte nämlich bis zum Alter von 6 Jahren eine ganz normale Kindheit und erst später wurde ihr Leben eingeschränkter. Ihre Eltern flüchteten aus der UdSSR nach Rom, als sie drei Jahre alt war. Von dort ging es in die USA, wo die Eltern langsam fromm wurden. In ihren Anfangsjahren in den Staaten hatten sie Kontakte zu sehr reichen Leuten, sogar auf ihrer ersten jüdischen Schule wurde Designerkleidung getragen. Erst etwa mit 12 wurde ihr Umfeld enger und danach auch Julia so richtig frum.
Davon und auch von ihrer Hochzeit mit 19 und den anschliessenden Jahre erzählt die erste Hälfte des Buches. Darin ist auch gut erklärt, was Gebote und was Verbote sind - die enorm einschränkenden Verbote sind eine zusätzliche Auflastung. Pragmatisch erzählt Julia, wie schwer es ist, sich an alle Verbote zu halten, also quasi alles zu tun, aber doch nie züchtig genug zu sein in der fundamentalistischen Welt. Der Alltag dort war sicher nicht einfach, insbesondere auch was die Bildung der Frauen betraf. Dies schildert Julia Haart ausführlich, als Leserin fühlt man mit ihr in vielen Situationen mit.
Positiv herauszuheben ist auch, dass alles chronologisch erzählt wird, das macht es einfach ihrer Geschichte zu folgen. Denn für einige Leser kommen vielleicht zu viele jüdische Begriffe vor, von daher ist wenigstens der chronologische Ablauf einfach gehalten.
Die zweite Hälfte des Buches dreht sich um ihr Leben in der neuen Welt - aber nicht in einer normalen Welt, sondern in einer Luxus-Welt. Es geht um ihr Business, um Dating, Sex und um Geschäftspartner, denen sie besser nicht getraut hätte. War es fehlende Menschenkenntnis oder an was lags? Könnte es sein, dass sie sich schon immer ein wenig zu wichtig nahm? Ihr Motto lautet "Dreistigkeit siegt" und "Starker Wille gleich Erfolg" - und das spürt man durch die Zeilen, denn auch wenn sie es anders wahrnimmt, kommt ihr Verhalten sehr narzisstisch rüber.
Anders als man es sich nach dem Gehörten aus der Sendung vorstellte, verlässt sie nämlich nicht eines Tages mit Sack und Pack ihr Haus und ihre Gemeinschaft und sucht sich woanders eine Wohnung und einen Job. Nein. Während einem Abendessen in Manhattan, wo sie sich oft mit Freundinnen in koscheren Restaurants traf, kriegt sie ein Job-Angebot, sie könne Schuhe für eine neue Firma entwerfen. Erst dann "geht" sie. In Folge lebt sie in der Stadt in Hotels und arbeitet an ihrer Schuhkollektion, und fährt zum Sabbat oder auch sonst immer mal wieder zurück nach Monsey. Ihr Mann und sie hatten ein grosszügiges Arrangement. Im Buch gibts aber kein Wort dazu, wie sie sich ihr Leben in der Stadt finanzierte, man nimmt also an, dass ihre Investoren auch ihren Lebensunterhalt finanziert haben. Über ihre Integration in die "reale" Welt wird leider sehr wenig erzählt - es ist mehr ein "vom kinderreichen Haushalt zum Luxushotel", dazwischen gibts nicht viel.
So gesehen führte sie tatsächlich eher immer ein unorthodoxes Leben - nämlich eins, wo Geld nie oder nur selten Mangelware war. Sie war nicht gefangen und konnte spätestens, nachdem sie aus Atlanta zurück kehrten, sich problemlos mit ihren Freundinnen in Manhattan in koscheren Restaurants zum Essen treffen. Das, was überall so aufgebauscht wird, dass sie Versicherungen verkaufte, war nur eine kurze Episode und und passierte viele Jahre bevor sie ihre Gemeinschaft verliess. Sie trug auch zu ihrer streng orthodoxen Zeit immer 12cm Absätze, sie fiel damals also schon auf.
Der allererste Hosenkauf oder der erste Cheeseburger in ihrem Leben - das sich das wie eine Sünde anfühlte, das fand ich gut und glaubhaft erzählt, ich hätte mir mehr davon gewünscht anstatt dem ganzen Luxus-Setting. Aber wahrscheinlich kennt Julia es gar nicht anders, für sie gibt es anscheinend nur das strenge Leben in Monsey oder eben Luxus.
Das Buch endet, als sie zu La Perla wechselte und ist ziemlich abrupt zu Ende. Damals jettete sie zwar schon von Fashion Week zu Fashion Week, aber hatte noch nicht wirklich Erfolg - nur viele Geldgeber - deshalb wäre es interessant gewesen, auch noch die letzten Jahre von La Perla zu EWG mitzubekommen. Erst dachte ich, dass es vielleicht einen zweiten Band geben wird, aber mittlerweile denke ich, dass sie diese letzten Teile nicht veröffentlichen wollte oder durfte, da Julia aktuell auf ihre Scheidung von ihrem zweiten Ehemann wartet und von ihm, bzw. von der EWG, entlassen wurde.
"Un-Verhüllt" ist der Bericht einer Lebensgeschichte einer wohl narzisstischen Frau, zwar interessant, aber schlussendlich doch nicht so krass wie Julia das gerne wahrhaben möchte. Ich möchte Julias Lebensgeschichte nicht schmälern, aber interessanter und sicher viel glaubhafter wäre ein Bericht einer ultraorthodoxen Frau, die auch vollständig in diesem Umfeld aufgewachsen ist und nicht in Geld schwimmt und ihren Weg raus aus der engen Gemeinschaft wirklich von Null auf erarbeiten musste, was bei Julia nicht der Fall war. Nicht nur die TV-Staffel ist ein Reality-Format mit viel Blingbling, auch im Buch ist einiges davon enthalten.
Fazit: Von einen Extrem ins andere Extrem - eine beschönigt klingende Lebensgeschichte zwischen Langarmshirts mit Rundhalsausschnitt und knapp sitzenden Tops ohne Träger.
4 Punkte.