Gegen das Vergessen…
FindelmädchenFür die Generationen, die Jahre nach dem Krieg geboren wurden, ist es häufig sehr schwierig, sich die Zeit des Krieges und der Nachkriegszeit vorzustellen. Ich selbst hatte das Glück, dass ich viel Zeit ...
Für die Generationen, die Jahre nach dem Krieg geboren wurden, ist es häufig sehr schwierig, sich die Zeit des Krieges und der Nachkriegszeit vorzustellen. Ich selbst hatte das Glück, dass ich viel Zeit meiner Kindheit und Jugend damit verbracht habe, den Erinnerungen meiner Oma zu lauschen und – mithilfe der entsprechenden Fotos aus dieser Zeit – eine gewisse Vorstellung von den schwierigen Zeiten der Vergangenheit zu entwickeln.
Insofern hat mich „Das Findelmädchen“ von Lilly Bernstein aufgrund des ansprechenden Covers und der interessanten Rahmenhandlung direkt neugierig gemacht. Zum Glück, denn diese Reise in das historische Köln der Nachkriegszeit ließ mich so mit fiebern, dass die Seiten nur so dahingeflogen sind.
Anders als erwartet, beginnt die Geschichte um „Das Findelmädchen“ nicht in Köln, sondern in Frankreich. Man lernt Helga und Jürgen kennen und erfährt, dass sie als Findelkinder zum Ende des Krieges unheimliches Glück hatten, weil sie und andere Kinder durch die durchreisenden Franzosen Claire und Albert vor dem Heim bewahrt wurden. Obwohl Helga und Jürgen sehr dankbar sind und sich wohl auf dem Weingut der Familie fühlen, spüren sie doch eine große Sehnsucht nach ihren Wurzeln und dem mit der Heimat verbundenen Zugehörigkeitsgefühl, was sie in der Fremde häufig vermissen.
Insofern ist es sehr verständlich, dass sie, nachdem der Vater aus der Kriegsgefangenschaft entlassen war und sie ausfindig gemacht hatte, – wenn auch mit wechselhaften Gefühlen – die Reise in die Heimat antreten.
Der Kontrast vom französischen Landleben zum im Wiederaufbau befindlichen Köln könnte kaum größer sein… Der Vater versucht, den Lebensunterhalt mit einem Büdchen zu bestreiten. Als Unterkunft dient das Elternhaus der verschollenen Mutter, das Helga und Jürgen gemeinsam mit dem Vater, Tante Meta, Fanny und Vertriebenen, die auf dem Dachboden hausen, teilen.
Schnell spürt man, dass die schrecklichen Erfahrungen des Krieges die einzelnen Charaktere nach wie vor bestimmen, auch wenn leider zunächst sehr viel totgeschwiegen wird.
Dies führt auch dazu, dass der Vater – zum Unverständnis von Helga - seiner schreibbegabten, wissbegierigen Tochter den Zugang zum Gymnasium verwehrt und sie stattdessen in eine Haushaltsschule geschickt wird.
Im Rahmen eines Praktikums erfährt Helga - der nur dank Claire und Albert selbst ein Schicksal als „Findelmädchen“ erspart wurde - wie menschenunwürdig die Verhältnisse im Kinderheim sind und sie versucht, mit allen Mitteln dagegen anzukämpfen…
Aufgrund der authentischen Charaktere und der atmosphärischen Beschreibungen gelingt es der Autorin, die Verhältnisse im Köln der Nachkriegszeit spürbar zu machen. Helga ist eine unheimlich starke Persönlichkeit mit einem großen Unrechtsempfinden, die für ihre Wünsche und Ideen einzustehen versucht. In einer von Männern geprägten Welt, in der für das „normale“ Arbeitermädchen das Hausfrau und Muttersein als höchstes Maß der Erfüllung angesehen wird, hat Helga keinen leichten Weg für sich gewählt.
Für mich hat „Das Findelmädchen“ somit zahlreiche Impulse geboten, um mich mit der Rolle der Frau im 20. Und 21. Jahrhundert auseinanderzusetzen und zu reflektieren, wie abhängig Frauen damals vom Wohlwollen der Väter und Ehemänner waren.
Auch dass die bedrückenden Lebensumstände im Kinderheim so realistisch geschildert werden, hilft dabei, die Opfer, die diese Missstände heute aufzudecken versuchen, etwas besser zu verstehen.
Insgesamt finde ich den vielperspektivischen Blick auf die NS- und die Nachkriegszeit, der durch die Lebensgeschichten der einzelnen Charaktere offenbart wird, sehr gelungen. Das Problem des Schweigens der Elterngenerationen, das im Geschichtsunterricht häufig thematisiert wurde, wird so ebenso nachvollziehbar dargestellt, wie die Frage, welche Schuld auf der Elterngeneration, den Institutionen und denjenigen, die einfach weggesehen haben, lastet.
Besonders gut hat mir gefallen, dass die Gedächtnislücken von Helga und Jürgen durch Einschübe aus dem Tagebuch der Mutter wie ein Puzzle nach und nach zusammengesetzt werden.
Durch den Schreibstil hatte ich trotz der schwierigen Inhalte durchweg das Gefühl, wie in einer warmen Decke ummantelt zu sein, die das zuversichtliche Gefühl vermittelt „Es hätt noch immer jot jejange“ und kann deshalb diese emotionale Lesereise in das historische Köln der Nachkriegszeit nur empfehlen!