Noch emotionaler, komplexer, mitreißender und spannender als der erste Teil!
Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, ...
Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, dass das "Grisha"-Verse als großes Serien-Event produziert wird und somit die "Grisha"-Trilogie und die "Krähen"-Bestsellern auf die Leinwand vereint werden. Die "Grisha"-Trilogie um "Grisha - Goldene Flammen", "Grisha - Eisige Wellen", "Grisha - Lodernde Schwingen" sowie das weiterführende Spinn-Off "King of Scars - Thron aus Asche und Gold" habe ich schon im letzten Jahr gelesen und bin ganz verliebt in die slawische Fantasywelt gewesen, die Leigh Bardugo entworfen hat. Mit dem düsteren Gangster-Setting, den vielschichtig entwickelten Protagonisten und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen hat der erste Teil der Krähen-Dilogie, "Das Lied der Krähen", welchen ich erst vor wenigen Wochen gelesen habe, Bardugos Reihe jedoch in eine ganz anderen Liga katapultiert, weshalb ich auf das Finale natürlich mehr als gespannt war. Tatsächlich konnte "Das Gold der Krähen" sogar noch einen obendrauf setzten: ich bin geflasht, verliebt, geschockt und einfach nur begeistert!
Inej: "Keine Klageweiber", sagte Nina grimmig.
"Keine Beerdigungen." Eine andere Art, sich viel Glück zu wünschen. Doch es war auch mehr. Sie zogen so auf makabre Weise den Hut vor der Tatsache, dass es keine teuren Beerdigungen geben würde für Leute wie sie, keine marmornen Grabsteine, die an ihre Namen erinnerten und keine Myrten- und Rosenkränze."
Zuerst einmal kann ich versichern, dass "Das Gold der Krähen" wesentlich weniger verwirrend in die Handlung einsteigt als der Vorgänger, da wir die sechs Hauptfiguren, deren Agenda, das Setting und die allgemeinen Grundbedingungen des Grisha-Verse nun schon besser kennen. Auch hier beginnt Leigh Bardugo nach einem kurzen Prolog wieder mitten im Geschehen und wir finden uns ohne große Umschweife in Phase 1 von Kaz Brekkers großem Rache- und Inej-Rettungsplan wieder, welchen er nach Van der Ecks Verrat entwickeln musste. Dass auf Phase 1 noch weitere Schachzüge folgen, einer wahnsinniger und gefährlicher als der nächste, Mastermind Kaz Brekker alle im Dunkel lässt, selbst das vermeintliche Scheitern miteingeplant hat und man erst im Laufe der Geschichte versteht, was sie eigentlich wirklich vorhaben, zeigt, dass "Das Gold der Krähen" bezüglich des Grundaufbaus also recht ähnlich wie der erste Teil ist. Natürlich geht der ausgeklügelte Plan auch hier recht bald durch unvorhergesehene Wendungen vor die Hunde und ein neuer, improvisierter, viel verrückterer Plan muss her - wer jetzt aber denkt "das kennen wir ja alles schon", dem sei versichert, dass die Handlung dennoch so verschachtelt und komplex ist, dass man immer wieder auf Leigh Bardugos Finten hereinfällt und kaum glauben kann, was als nächsten passiert.
Matthias: "Kaz klopfte mit dem Krähenkopfstock auf die Steinfliesen der Gruft. "Wisst ihr, was Van Ecks Problem ist?"
"Mangelnde Ehre?", fragte Matthias.
"Ist mies als Vater?", sagte Nina.
"Die Stirnglatze?", meinte Jesper.
"Nein", sagte Kaz. "Er hat zu viel zu verlieren. Und er hat uns eine schöne Schatzkarte vorgelegt, was wir uns zuerst holen sollten."
Während Band 1 noch stark durch die Reise, das Annähern der Figuren und deren Vorstellung durch Rückblenden geprägt war, ist der Handlungsfokus hier ausgeprägter. Zwar nimmt sich die Autorin im Mittelteil immer wieder Zeit, um die verbliebenen Vorgeschichten von Wylan und Jesper zu erzählen und nutzt jede kurze Atempause aus, um ihre Figuren weiterzuentwickeln und deren Dynamik leidenschaftlicher zu machen, konzentriert sich aber ansonsten stark auf die strategischen Züge der einzelnen Parteien. Dabei funktioniert sie ihr Setting Ketterdam zu einem riesigen Spielfeld um und lässt verschiedene Gruppen und Nationen in einem komplizierten Ringen um Macht, Information, Geld und Sicherheit gegeneinander antreten. Neben den Krähen haben der verräterische Krämer Van Eck, der Krämerrat, der Barrelboss Pekka Rollins und die anderen Banden und der Gezeitenrat Ketterdams die Finger im Spiel, es mischen aber auch internationale Parteien wie die Shu mit ihren Kheergud, die Grischa aus Ravka, die Drüskelle aus Fjerdan und die Semeni mit und sorgen mit all den Namen, Motiven und Agenden dafür, dass man beim Lesen ganz schön aufpassen muss.
Kaz: "Ich hätte dich geholt. Und wenn ich nicht hätte gehen können, wäre ich zu dir gekrochen, und egal, wie kaputt wir gewesen wären, wir hätten und den Weg gemeinsam hinaus gekämpft - mit gezückten Messern und glühenden Pistolen. Weil wir genau das tun. Wir hören nie auf zu kämpfen."
Der Wind frischte auf. Die Äste der Weiden flüsterten, tuschelten verstohlen. Kaz hielt ihren Blick fest, er sah den Mond, der sich in ihren Augen spiegelte, Doppelsensen aus Licht. Sie hatte recht damit, zu misstrauen. Selbst ihm. Besonders ihm. Das Misstrauen half, zu überleben."
"Das Gold der Krähen" ist also mal wieder ein sehr intensives und forderndes Leseerlebnis, das eine gewisse Bereitschaft, den Kopf anzustrengen und sich auf die Welt, Charaktere und miteinander verflochtenen Handlungsstränge einzulassen, verlangt. Dass man trotz der erforderlichen Denkleistung beim Lesen ordentlich Spaß hat, wird durch den wundervollen Schreibstil der Autorin garantiert. Düster, magisch und spannend webt sie ihre Geschichte, nimmt uns mit zu schillernden Schauplätzen und schockt uns mit Überraschungen. Dabei tragen nie Kämpfe, Intrigen, Brutalität und Irrglaube den Sieg davon, sondern immer Mitgefühl, Freundschaft und Liebe, sodass sich die Geschichte liest wie ein Märchen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön! Etwas schade sind die zum Teil seltsamen Übersetzungen von vermutlich in der Originalsprache besser funktionierenden Gaunerbegriffen (z.B. August, Täubchen). Ansonsten lässt sich "Das Gold der Krähen" aber flüssig lesen und bietet den perfekten Stoff für eine Verfilmung, die der Geschichte hoffentlich gerecht werden wird!
Inej: "Inej würde laufen, wie sie schon immer gelaufen war, mit nichts, was sie auffangen würde, nur in der Luft gehalten von ihren unsichtbaren Schwingen."
Besonders beeindruckend ist, dass die Geschichte zwar hochkomplex ist, aber dennoch eine klare Linie behält. Bis zum Ende kann hier jederzeit absolut alles passieren. Nicht nur dass die Autorin ihre Leser durch Erzählkniffe und spannende Wendungen auf falsche Fährten lockt, mit der Komplexität der Pläne, dem Aufbau und Detailreichtum der Welt immer wieder begeistert und verblüfft, sie schreibt auch taff und unverfroren genug, dass man ihr ein spontaner Charaktertod ohne Probleme zutrauen würde. Ich liebe Gangster-Geschichten, ich liebe spektakuläre Coups und ich liebe es, wenn komplizierte Pläne funktionieren - doch noch mehr liebe ich es, wenn Situationen so entgleisen, dass alles auf der Kippe steht und die Geschichte sich plötzlich in jede erdenkliche Richtung bewegen könnte. Und genau solche Momente gibt es gerade im spektakulären letzten Drittel eine ganze Menge. Leigh Bardugo bedient sich abermals ihrer fünf Erzählperspektiven und nimmt diesmal auch die sechste Krähe, den jungen Wylan als Erzähler mit hinzu. Der Autorin gelingt hier etwas, was sie in die Königsklasse der Fantasy katapultiert: eine herausragende Balance zwischen Figurenaufbau und Spannung. Auch hier unterstützen und untermalen die Entwicklungslinien der Figuren und deren leise angedeutete Liebesgeschichten die Handlung, statt sie zu stören und trotz des klaren Handlungsfokus kommen auch die Emotionen nicht zu kurz. Ganz im Gegenteil: ich habe mit jeder verstrichenen Seite mehr mit den Figuren gelitten, gehofft, geliebt und gehasst.
Nina: "Ich meine die kleinen Rettungen. Dass ihr über meine Witze gelacht habt. Mir vergeben habt, wenn ich dumm war. Niemals versucht habt, mir das Gefühl zu geben, dass ich klein bin. Es ist gleich, ob es nächsten Monat ist oder nächstes Jahr oder in zehn Jahren, das werden die Dinge sein, an die ich mich erinnern werde, wenn ich euch wiedersehe."
Egal ob der Anführer und Pläneschmieder Kaz, der seinen Schmerz und seine Verunsicherung hinter Handschuhen und zynischem Witz verbirgt; das katzenhafte Phantom Inej, die ihre Unschuld und Tugend trotz der widrigen Umstände tief im Herzen erhalten hat; den Scharfschützen Jesper, der seine überschüssige Grischa-Energie aus Angst vor Verfolgung lieber im Glücksspiel auslebt; der gutbürgerliche Ausreißer Wylan, der von denen verraten wurde, die ihn eigentlich lieben sollten und die Liebe ausgerechnet in einem Verbrecher findet; die Grischa-Entherzerin Nina, deren Gabe der Tod ist, die mit ihren herzlichen Umarmungen, Keks-Orgien und flirtenden Witzen aber von Leben nur so strotzt oder der Drüskelle Matthias, der durch Nina alles hinterfragen muss, was er jemals zu wissen geglaubt hat - sie alle habe ich dank dem zärtlichen Feingefühl und der unvorhersehbaren Skrupellosigkeit Leigh Bardugos Figurencharakterisierung so sehr ins Herz geschlossen, dass jeder Angriff auf sie sich wie ein persönlicher Affront anfühlte. Im Laufe dieses Finales werden fast alle offenen Fragen, Rätsel und Wissenslücken, die um die Protagonisten ranken, beantwortet, eine ordentliche Portion Geheimnis- und Überraschungspotential bleibt aber natürlich übrig.
Kaz: "Sein Blick musterte ihr Gesicht, wie er das immer getan hatte, eindringlich, hungrig, er nahm sich die einzelnen Bilder wie der Dieb, der er war - die gleichmäßigen Brauen, das warme Braun ihrer Augen, die ein wenig aufwärts gebogenen Lippen. Er verdiente keinen Frieden, und er verdiente keine Vergebung, aber wenn er heute sterben würde, dann war vielleicht die Erinnerung an sie die eine Sache, die er verdiente - strahlender als alles, auf das er jemals ein Anrecht haben würde -, um es mit ins Jenseits zu nehmen."
Man mag vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte alle der sechs Krähen, aber sie sind so herrlich echt, authentisch und klischeefrei, dass man sie einfach feiern muss. Hier gibt es zur Abwechslung mal keine Prophezeiungen, keine auserwählten Special-Snowflakes, keine heiligen Ideale und keine große, antagonistische Weltuntergangsbedrohung. Was wir hier lesen sind einfach sechs gesetzlose Außenseiter auf dem Weg zu sehr viel Ruhm und Geld... oder in den Tod. Der Beiname der Reihe "Glory or Grave" wird also zum Programm. Diese bunte, lebendige Truppe ist so ambivalent dargestellt, wie es fiktive Figuren auf 600 Seiten Umfang nur sein können und das bezieht sich nicht nur auf den reinen Inhalt der Geschichte.
Neben den feministischen Zügen, die sich immer wieder abzeichnen, ist auch die Diversität der Protagonisten positiv zu vermerken. Ob bi-, pan-, hetero-, oder homosexuell spielt ebenso wie die Hautfarbe unSie werden genannt, akzeptiert und vergessen, herrlich selbstverständlich. Auch unterschiedliche Religionen und Wertvorstellungen tauchen hier auf und machen das diverse Bild bunter, ohne dass es die Autorin übertrieben hat oder heraushängen lässt, wie in manch anderen Jugendbüchern, die sich der Diversität verschrieben haben, der Fall ist. So fügen sich auch die Protagonisten gut in die wundervolle, eigensinnige, kunterbunte, authentische, magische Welt - das Grisha-Verse - ein.
Nina: "Nina hatte um den Verlust ihrer Macht getrauert, um die Verbindung, die sie zur lebenden Welt gespürt hatte. Sie hatte diese Schattengabe gehasst. Es hatte sich wie eine Fälschung angefühlt, eine Bestrafung. Aber genauso sicher, wie das Leben alles miteinander verband, tat das auch der Tod. Es war dieser grenzenlose, rasch fließende Strom. Sie hatte ihre Finger in seine Strömung getaucht, hatte die Strudel seiner Macht in ihren Händen gehalten. Sie war die Königin der Trauer und sie würden in seinen Tiefen niemals ertrinken."
Wo wir gerade vom Setting sprechen: "Das Gold der Krähen" spielt fast ausschließlich in Kerchs Hauptstadt Ketterdam, einer vorindustriellen, niederländisch angehauchte Hafenstadt, die durch Börsenhandel, viele Reisende, zwielichtige Spielhallen und eine brutalen Gangkultur geprägt ist. Hier herrscht also eine ganz andere, weitaus düstere und dynamischere Stimmung vor als im winterlich, skandinavischen Fjerda oder dem stark russisch angehauchten, märchenhaften Ravka, welche wir in der "Grisha"-Trilogie und im ersten Teil kennenlernen konnten. Wie bereits gesagt, kommen Vertreter der größten Nationen des "Grishaverse" hier vor, abseits von Ketterdam und dem Ausflug zum Eispalast im ersten Teil erhalten wir in der "Krähen-Dilogie" aber nur ein sehr sporadisches, unscharfes Bild der restlichen Grisha-Welt. Da die von Leigh Bardugo geschaffene Welt voller Grisha-Hexen und Hexenjägern, fliegenden Schiffen und Technologie, Drogen und Gewalt, Mythen und Legenden, Zaren und Republiken aber viel zu genial ist, um sich mit einem Ausschnitt zu begnügen, kann ich allen nur empfehlen, einen Blick in die Grisha-Trilogie zu werfen, oder mit der neuen "King of Scars"-Reihe weiterzulesen.
Wylan: "Wylan raffte jeglichen Wagemut zusammen, der er sich bei Nina abgeschaut hatte, den Willen, den er von Matthias gelernt hatte, die Konzentration, die er bei Kaz studiert hatte, die Tapferkeit, die Inej ihn gelehrt hatte, und die wilde, zügellose Hoffnung, die er von Jesper hatte - der Glaube, dass sie schon irgendwie gewinnen würden. Egal, wie die Chancen standen. "Ich rede nicht", sagte er."
Gerade nach dem epischen Showdown, bei dem ich abwechselnd ein breites Grinsen im Gesicht, eine geschockte Miene und Tränen in den Augen hatte, kann ich nur empfehlen, gleich mit "King of Scars" weiterzulesen. Denn die Autorin erzählt nach ihrer spektakulären Auflösung gar nicht lange weiter, sondern beendet ihre Dulogie mit einem kunstvollen "Punkt Punkt Punkt". Zwar werden die wichtigsten weiteren Entwicklungen angedeutet, es bleibt aber sehr vieles offen. Leider wird die Euphorie des Siegestaumels auch durch einen tragischen Verlust geschwächt, der so herzzerreißend unnötig war, aber unterstrich, dass auch die Krähen nicht unsterblich sind und jede Glückssträhne irgendwann endet. Zum Glück können wir wenigstens einige von ihnen im Sequel wiedersehen. Dort begleiten wir dann nämlich nicht nur Sturmhond/Nikolai und die Stürmerin Zoja, welche hier beide einen Gastauftritt hatten, sondern sehen auch Nina wieder.
Fazit:
Noch emotionaler, komplexer, mitreißender und spannender als der erste Teil! Was Leigh Bardugo sich hier für ihre Figuren, ihr Setting und ihre Handlung ausgedacht hat, ist an Genialität kaum zu überbieten und definitiv der Stoff, aus dem Jahreshighlights gemacht sind!