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Veröffentlicht am 14.01.2023

Große Erzählkunst

Frankie
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Was passiert mit dem Leben eines Vierzehnjährigen, wenn der Opa nach 18-jähriger Gefängnishaft plötzlich darin auftaucht?

Frankie lebt zusammen mit seiner Mutter in Wien. Die Mutter arbeitet als Schneiderin ...

Was passiert mit dem Leben eines Vierzehnjährigen, wenn der Opa nach 18-jähriger Gefängnishaft plötzlich darin auftaucht?

Frankie lebt zusammen mit seiner Mutter in Wien. Die Mutter arbeitet als Schneiderin an der Volksoper. Frankie geht aufs Gymnasium in seinem Viertel. Zu seinem Vater hat er keinen Kontakt mehr.

Es ist ein Mikrokosmos, den sich Mutter und Sohn geschaffen haben. Gemeinsam schauen sie sich abends Tierdokus an, haben bestimmte Tage ausgemacht, an denen der eine für den anderen kocht. Ihr Leben ist beschaulich, verläuft in geregelten Bahnen. Bis zu dem Tag, an dem sie den Großvater aus dem Gefängnis abholen.

Frankie kennt den Großvater nicht, weiß nicht, wie er heißt oder was er verbrochen hat. Aber er übt eine Faszination auf ihn aus und allmählich kommt es zu einer zögerlichen Annäherung zwischen den beiden. Der Großvater bringt ihm das Schachspielen bei und das Rasieren. Frankie vermacht ihm sein Buch über das Weltall. Doch dann läuft in einer Nacht alles aus dem Ruder und ein Roadtrip wird zum dem Punkt, an dem sich alles wendet.

Michael Köhlmeier erzählt aus Frankies Perspektive davon, wie ein Fremdkörper in ein Alltags- und Familienkonstrukt einbricht und das Leben eines Jugendlichen aus der Bahn wirft.

Es ist Köhlmeier gelungen, einen Roman zu schreiben, an dem jedes Wort an seinem Platz sitzt, jeder Satz stimmt. Alles fügt sich ineinander, ergibt ein erzählerisches Kunstwerk. Auf knappen zweihundert Seiten erlaubt es einem Köhlmeier tief in die Geschichte einzutauchen, Teil von Frankies Welt zu werden. Das ist deshalb bemerkenswert, weil sowohl die Perspektive eines Vierzehnjährigen als auch das Aufeinandertreffen von Großvater und Enkel als Elemente einer Geschichte das Potential in sich tragen, ins Unglaubwürdige oder Kitschige abzurutschen. Bei Köhlmeier passiert das jedoch an keiner Stelle. Er bewahrt die Balance, lässt einen Erzählfluss entstehen, dem man sich nicht entziehen möchte.

So sollte gute Literatur sein.

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Veröffentlicht am 22.08.2022

Magisch, lebendig, empfehlenswert

The School for Good and Evil - Es kann nur eine geben
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Roman Chainani entführt uns mit “The School for Good and Evil” als Leser in eine Welt, in der Kinder aus dem Ort Gavaldon entführt werden, um später in Märchen- und Geschichtenbüchern aufzutauchen. Sie ...

Roman Chainani entführt uns mit “The School for Good and Evil” als Leser in eine Welt, in der Kinder aus dem Ort Gavaldon entführt werden, um später in Märchen- und Geschichtenbüchern aufzutauchen. Sie kommen an zwei Arten von Schulen, der für die Guten und der für die Bösen. Die guten Kinder werden dazu erzogen, Helden und Prinzessinnen zu werden, während den Bösen ein Schicksal als Hexen oder gemeinen Trollen bevorsteht.

In Gavaldon macht man sich darauf gefasst, dass dieses Mal die hübsche Belle für die gute Schule und die grummelige Agathe für die Schule der Bösen abgeholt werden. Doch dann ist da noch Sophie und die setzt alles daran, dass man sie für die Schule der Guten holt. Als es so weit ist, holt man sie tatsächlich und Agathe, ihre Freundin, rennt ihr verzweifelt hinterher, um sie zu retten und wird dadurch selbst mitgenommen. Doch entgegen aller Erwartungen ist es Agathe, die bei den Guten landet und Sophie, die zu den Bösen kommt. Beide sind überzeugt, dass es sich nur um einen Fehler handeln kann und fühlen sich fehl am Platz. Sie wollen die Schulen verlassen. Agathe will zurück in ihr Dorf und Sophie will als Prinzessin ausgebildet werden und ihren Prinzen finden.

Manche der spannendsten Bücher meiner Kindheit und Jugend waren gut geschriebene Fantasy-Romane. Und hätte ich “The School for Good and Evil” damals gelesen, so hätte ich sicherlich auf die Fortsetzung hingefiedert. Doch auch als erwachsener Leser vermochte mich der Roman zu fesseln und ich habe ihn gerne gelesen. Die Idee, die der Geschichte zugrunde liegt, finde ich grandios. Die Charaktere sind nahbar und glaubwürdig und die Welt, die der Autor erschaffen hat, erscheint in reichen und lebendigen Bildern. Insgesamt ist es ein stimmiger Roman, den ich jungen, junggebliebenen und auch allen älteren Lesern sehr empfehlen kann. Fantasy- und Märchenvernarrte werden an ihm sicherlich besonders viel Freude haben.

“The School for Good and Evil” ist ein wunderbares magisches Jugendbuch.

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Veröffentlicht am 15.08.2022

Ein leiser und überzeugender Roman

Intimitäten
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Die Protagonistin von Katie Kitamuras Roman “Intimitäten” zieht von New York nach Den Haag, um am Internationalen Gerichtshof als Dolmetscherin zu arbeiten.

“Intimitäten” ist ein Roman, der von Beobachtungen ...

Die Protagonistin von Katie Kitamuras Roman “Intimitäten” zieht von New York nach Den Haag, um am Internationalen Gerichtshof als Dolmetscherin zu arbeiten.

“Intimitäten” ist ein Roman, der von Beobachtungen lebt, von seinen Charakteren und deren Innenleben und nicht von einem strikten Handlungsbogen und Spannungsaufbau. Deshalb macht es meiner Meinung nach auch nur wenig Sinn, seinen Inhalt in wenigen Zeilen zu beschreiben. Es ist ein introspektiver Roman, in dem Menschen aufeinandertreffen, die alle unter ganz unterschiedlichen Umständen in diese Stadt kommen, deren Wege sich kreuzen, die Nähe zueinander aufbauen, um sich im nächsten Moment wieder voneinander zu entfernen. Vor dem Hintergrund der Gerichtsprozesse, von menschlicher Grausamkeit und der Frage nach Recht und Unrecht, wird Intimität mit Entwurzelung, Unverständnis und Unmenschlichkeit parallelisiert.

Gleichzeitig kontempliert der Roman die Rolle von Sprache. Er stellt die Frage, was Übersetzung bedeutet und was sie nicht nur mit dem Übersetzer, sondern auch mit dem Übersetzten und dem Zuhörer macht. Wie bringt Sprache Menschen näher? Wann bringt sie sie auseinander? All diesen Fragen geht der Roman vor dem Hintergrund eines Prozesses am Internationalen Gerichtshof auf kluge Weise nach. "Intimitäten" ist ein Roman, der sich lohnt, für den man sich aber auch öffnen muss und den man erst dann richtig wertschätzen kann.

Ich jedenfalls mag diese Art “leiser” Romane, die sich auf ihre Charaktere konzentrieren und die Literatur als eine Wiedergabe des Lebens verstehen, in dem sich Spannung, Dramatik und Wendepunkte nicht ständig aneinanderreihen. Deshalb: Lest “Intimitäten”!

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Veröffentlicht am 25.07.2022

Porträt der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter

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Dieser Beitrag wurde entfernt. Das ist ein Satz, dem jeder von uns im Internet schon begegnet ist. Aber wissen wir auch, was dahinter steht und wer da was entfernt hat?

Ich bin den „digitalen Aufräumarbeitern“ ...

Dieser Beitrag wurde entfernt. Das ist ein Satz, dem jeder von uns im Internet schon begegnet ist. Aber wissen wir auch, was dahinter steht und wer da was entfernt hat?

Ich bin den „digitalen Aufräumarbeitern“ zum ersten Mal in Form eines Theaterstücks begegnet, das gezeigt hat, was es mit einem Menschen macht, wenn er tagtäglich in die Abgründe des Internets starren muss. Um diese Art der Arbeit wird natürlich ein Mantel des Schweigens gehüllt. Denn das, was darunter zum Vorschein kommt, ist so unmenschlich, dass es nur fassungslos machen kann.

Hanna Bervoets bricht dieses Schweigen in ihrem neuen Roman. Ihre Protagonistin arbeitet für eine Firma, die Beiträge für eine große Plattform prüft. Mindestens fünfhundert Beiträge müssen pro Tag gesichtet werden, Pausen gibt es im Grunde keine und wenn die Genauigkeitsrate eines Mitarbeiters unter 90% Prozent liegt, steigt der Druck auf ihn. Doch diese Arbeitsbedingungen sind nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist der Content, die Videos von Kindern und Teenagern, die sich selbst verletzten, die Tiere, die getötet werden und die ganze Bandbreite der Verschwörungstheorien.

Der Protagonistin des Romans scheint die Arbeit jedoch nichts auszumachen. Während ihre Kollegen psychisch immer mehr leiden und nicht zuletzt beginnen, den Verschwörungstheorien selbst Glauben zu schenken, bleibt Kayleigh scheinbar unbeeindruckt. Oder?

Bervoets Roman ist ein Porträt der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter und stellt dabei diejenigen in den Mittelpunkt, die nicht im Silicon Valley arbeiten, die nicht vom Boom des Internets und des Digitalen profitieren, sondern die ganz im Gegenteil in deren Schatten stehen und die Drecksarbeit machen müssen. Dieses Thema ist so wichtig, dass das Buch meines Erachtens nach ruhig hätte länger sein können. Aber auch so bietet es einen starken und eindrücklichen Ausgangspunkt für weitere Gedanken und hoffentlich für eine gesellschaftliche Debatte.

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Veröffentlicht am 30.05.2022

Auf den Spuren von Fäden

Fischers Frau
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Mia Sund ist Faserärcheologin und erforscht altes Gewebe. Als ihr Chef ihr eines Tages einen alten Fischerteppich bringt, beginnt sie zu ahnen, dass sie es mit einem besonderen und einzigartigen Exemplar ...

Mia Sund ist Faserärcheologin und erforscht altes Gewebe. Als ihr Chef ihr eines Tages einen alten Fischerteppich bringt, beginnt sie zu ahnen, dass sie es mit einem besonderen und einzigartigen Exemplar zu tun hat. Denn der Teppich ist in ungewöhnlich kräftigen Grüntönen gehalten und die Motive sind zwar typisch maritim, aber gleichzeitig auch orientalisch. Mia erliegt dem Geheimnis des Teppichs und begibt sich auf dessen Spuren.

Karin Kalisa entfaltet das Vergangene stückweise vor den Augen ihrer Leser. Sie lässt sie tief in die Geschichte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts eintauchen und schafft es gleichzeitig, die historische Ebene mit dem gegenwärtigen Leben ihrer Protagonistin Mia zu verknüpfen. Beides harmoniert erstaunlich gut, ergänzt sich und macht es dem Leser leicht, sich auf die Spuren der unbekannten Teppichknüpferin zu begeben.

Denn das ist auch das Faszinierendste an dem Roman: Die Geschichte der Pommerschen Fischerteppiche, die wohl nur den wenigsten Lesern bekannt sein dürfte. Sie beginnt damit, dass im Jahr 1928 wegen Überfischung ein dreijähriges Fangverbot in Vorpommern verhängt wurde, welches die Fischer arbeitslos machte. Um die Fischerfamilien vor der Armut zu bewahren, wurden sie von einem österreichischen Tappisseristen im Teppichknüpfen unterrichtet und so entstanden die Fischerteppiche.

“Fischers Frau” ist eine besondere Geschichte, zart und feinfühlig, die zu fesseln vermag. Eine Leseempfehlung!

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