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Veröffentlicht am 31.05.2022

Scharfsichtiger Ausblick auf die Zukunft

RCE
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Sibylle Berg ist wütend. Und sie macht ihrem Ärger Luft. Das wissen alle, die GRM Brainfuck gelesen haben oder ihre Kolumnen im Spiegel kennen. Ich schätze ihre Kolummnen, ihren entlarvenden Blick auf ...

Sibylle Berg ist wütend. Und sie macht ihrem Ärger Luft. Das wissen alle, die

GRM Brainfuck gelesen haben oder ihre Kolumnen im Spiegel kennen. Ich schätze ihre Kolummnen, ihren entlarvenden Blick auf unsere gesellschaftliche Realität und den Zustand der Welt. Manchen mögen sie übertrieben vorkommen, zu pessimistisch sein, aber wenn man genau hinschaut, kann man ihnen weder den Wahrheitsgehalt noch die Relevanz absprechen.

Und auch ihr neuer Roman „RCE:

RemoteCodeExecution“ ist, wie bereits der Vorgänger „GRM. Brainfuck“, eine weitergedachte Gegenwartsanalyse, ein realistisches Szenario, das aufrütteln soll, denn mittlerweile sind einige Jahre vergangen, und der Zustand der Welt hat sich weiter verschlechtert. Der Neo-Kapitalismus trägt deutlich feudalistische Züge. Mittelschicht? Verarmt. Privater Grundbesitz? Nicht für „normale“ Menschen. Der Alltag? Deprimierend. Klimawandel, verödete Städte, Digitalisierung, umfassende Überwachung, die Politik hat ihren Einfluss verloren. Geld regiert die Welt und mit ihnen die Banken, Tech-Riesen, Großkonzerne und Oligarchen.

Kurzer Einschub mit Blick auf unsere reale Gegenwart: 2020 zeigt die Auswirkungen der Pandemie und die Richtung, in die die Entwicklung geht. Es gibt eine Schätzung der Weltbank, nach der dadurch mehr als 100 Millionen Menschen zusätzlich durch den Einbruch der Wirtschaft, Arbeitslosigkeit etc. absolut verarmt sind, während die ca. 2.700 Milliardäre weltweit ihr Vermögen um 60 Prozent gesteigert haben. Und durch den aktuellen Krieg wird es mit Sicherheit noch einmal einen größeren Zuwachs erfahren.

Ist eine Kehrtwende noch möglich? Zumindest versuchen wollen sie es, eine Gruppe von vernetzten IT-Nerds, die die Digitalisierung für ihre Zwecke nutzen wollen und vom Tessin aus weltweit Brigaden rekrutieren. Mit ferngesteuerten Zugriffen wollen sie in die Systeme der Herrschenden eindringen, den Stecker ziehen und einen Neustart erzwingen. Möge es gelingen.

Ist das fiktional? Eine Dystopie? Könnte man annehmen, aber das greift viel zu kurz. Es ist weit mehr als das. Frau Berg hat umfassend recherchiert, erschlägt den Leser fast schon mit den Fakten, die sie zutage gefördert hat und hier verarbeitet. Aber wenn man über den eigenen Tellerrand schaut, genauer hinsieht, weiterdenkt, scheint das Szenario, das sie hier kreiert, absolut realistisch und glaubwürdig. Eine Brandrede, die aufrütteln soll. Eine klug analysierende Bestandsaufnahme. Und gleichzeitig ein deprimierender Ausblick auf Veränderungen, die es zu verhindern gilt. Lesen!

Veröffentlicht am 28.05.2022

Winslow spielt sein ganzes Können aus – großartig!

City on Fire
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Am 23.04.23 hat Don Winslow bekannt gegeben, dass er seine schriftstellerische Tätigkeit an den Nagel hängen wird. Zukünftig möchte er seine Zeit darauf verwenden, eigenfinanziert mit digitalen Kampagnen ...

Am 23.04.23 hat Don Winslow bekannt gegeben, dass er seine schriftstellerische Tätigkeit an den Nagel hängen wird. Zukünftig möchte er seine Zeit darauf verwenden, eigenfinanziert mit digitalen Kampagnen demokratische Anliegen zu unterstützen und damit Donald Trump und den "Trumpismus" in den Vereinigten Staaten bekämpfen. Zum Abschluss gibt es aber noch, wie schon bei seiner herausragenden Kartell-Trilogie, ein Epos in drei Bänden, dessen erster Teil „City on Fire“ gerade erschienen ist. Band 2 und 3 sind seiner Aussage nach bereits geschrieben und werden 2023 und 2024 veröffentlicht.

Dogtown im Süden von Providence, Rhode Island, Mitte der achtziger Jahre. Ein Einwandererviertel. Zuerst kamen die Iren, danach die Italiener. Zwei Familienclans, die Murphys und die Morettis, leben dort in friedlicher Eintracht, haben ihre Geschäfte untereinander aufgeteilt. Gewerkschaften, Bestechung, Diebstahl, Kredite, Schutzgelderpressung und seit neuestem auch Drogenhandel werfen genug Profit für beide Seiten ab. Noch begegnet man sich mit Respekt, aber die Zeit der Familienoberhäupter neigt sich dem Ende zu, und der Generationenwechsel lässt nichts Gutes erahnen. Und schneller als man denkt, setzt ein nichtiger Anlass eine Gewaltspirale in Gang, einen blutigen Kampf bis aufs Messer, der sich zu einem Krieg entwickelt, in dem es schlußendlich um die Kontrolle des organisierten Verbrechens zwischen New York und Boston geht. Mittendrin Danny Ryan, derjenige mit dem moralischen Gewissen, dessen Vater früher einmal Oberhaupt der irischen Mobster war, mittlerweile mit Terri Murphy verheiratet. Ob er will oder nicht, die unzähligen Toten auf beiden Seiten drängen den bisherigen Befehlsempfänger in die Rolle des Strategen, des Anführers. Eine große Verantwortung, könnte doch eine einzige Fehlentscheidung die endgültige Auslöschung des irischen Clans zur Folge haben.

Und wieder einmal spielt Don Winslow sein ganzes Können aus. Ein extrem spannende Story, die einzelnen Szenen haben eine stark visuelle Kraft und können es durchaus gleichberechtigt mit den Klassikern des Genres aufnehmen. Für Sentimentalitäten bleibt kaum Platz, es geht sehr brutal und blutig zur Sache. Die Sprache ist der Handlung angepasst (wie immer in einer exzellenten Übersetzung von Conny Lösch). Hart, klar und präzise, reduziert auf das Wesentliche. Ohne Drumherumgerede.

Sämtliche Charaktere sind komplex, bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, auch eine Stärke des Autors, was auch eine Erklärung für den eher verhaltenen Einstieg in die Story sein könnte. Bei einem Dreiteiler müssen die Personen Fleisch auf den Knochen haben, brauchen einen Background, denn sonst können sie das Interesse des Lesers nicht bis zum Ende binden. Alles richtig gemacht, Mr Winslow.

Veröffentlicht am 17.05.2022

Von Taormina nach München und zurück

Terra di Sicilia. Die Rückkehr des Patriarchen
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Für „Terra di Sicilia“ hat der deutsch-italienische Autor Mario Giordano die Geschichte seiner sizilianischen Vorfahren genommen, sich von ihr inspirieren lassen, bestimmte Ereignisse herausgegriffen, ...

Für „Terra di Sicilia“ hat der deutsch-italienische Autor Mario Giordano die Geschichte seiner sizilianischen Vorfahren genommen, sich von ihr inspirieren lassen, bestimmte Ereignisse herausgegriffen, diese weitergesponnen und mit der ihm eigenen Lust und Fähigkeit am Fabulieren zu einem großen Familienepos zusammengefügt. Herausgekommen ist dabei ein höchst unterhaltsamer Schmöker, der in allen Bereichen überzeugen kann.

Wer nun aber glaubt, dass wir es hier einer typischen Migrantengeschichte der fünfziger Jahre zu tun haben, in der die Männer aus dem italienischen Süden um der Arbeit willen nach Deutschland gekommen sind, wird enttäuscht sein, denn Barnaba Carbonaro, die zentrale Person dieses Romans, derjenige um den sich alles dreht, ist zu dieser Zeit längst schon wieder zurück in die Heimat gereist und wird erst in den sechziger Jahren zurück nach Deutschland kommen.

Von Sizilien nach Deutschland und zurück, von der Orangenplantage in Taormina bis zum Münchner Großmarkt, vom kleinen Buben ohne Schuhe bis zum geachteten Geschäftsmann. Wir begleiten Barnaba durch die Jahrzehnte. Von 1880 bis 1960. Den Tausendsassa mit den vielen Talenten und dem unbändigen Willen nach Reichtum und dem Wunsch, ein Imperium zu schaffen. Den Analphabeten mit der herausragenden Begabung für Zahlen. Den Netzwerker vor dem Herrn, der die Gesellschaft der Einflussreichen sucht, um im Fall des Falles selbst daraus einen Vorteil ziehen zu können. Mutig, leidenschaftlich und geschäftstüchtig, aber manchmal auch zu gutgläubig und risikobereit. Den, der alles auf eine Karte setzt, und wieder von vorne beginnt, wenn er verliert.

Atmosphärisch, mit genauem Blick auf die archaische Gesellschaft Siziliens und die italienische Geschichte, eine wendungsreiche Story samt liebevoll und detailliert ausgearbeitetem Personentableau. Mitreißend und empathisch erzählt. Absolut empfehlenswert!

Mario Giordano hat bereits angekündigt, dass es eine Fortsetzung geben wird, in der dann die in diesem Band eher zu kurz gekommenen Frauen der Familie Carbonaro die Hauptrolle spielen werden. Ich freue mich darauf!

Veröffentlicht am 16.05.2022

Der Verlust der Unschuld

Amelia
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„Amelia“ ist das wiederaufgelegte Debüt der in Belfast geborenen Anna Burns, die 2018 mit „Milchmann“ sowohl den Man Booker Prize Fiction als auch den National Books Critics Circle Award gewann. Und tatsächlich ...

„Amelia“ ist das wiederaufgelegte Debüt der in Belfast geborenen Anna Burns, die 2018 mit „Milchmann“ sowohl den Man Booker Prize Fiction als auch den National Books Critics Circle Award gewann. Und tatsächlich kann man diese beiden Romane als Einheit sehen. Wo „Milchmann“ eher vage in den Beschreibungen der täglichen Gewalt während der nordirischen „Troubles“ bleibt, wird diese in „Amelia“ schonungslos präsentiert. Und wenn manche Leser*innen monieren, dass die Autorin in diesem Buch kaum Informationen zu den Ursachen des Nordirlandkonflikts anbietet, kann man ihnen grundsätzlich zwar zustimmen, aber bei Interesse kann man sich diese Informationen problemlos selbst beschaffen.

Allerdings geht es in diesem Roman nicht um die gewaltsame Besetzung der Insel durch die Engländer im 12. Jahrhundert, die Aufteilung Irlands in die Republik und Nordirland im Jahr 1921, noch um die politische und wirtschaftliche Diskriminierung der katholischen Minderheit durch die Protestanten, die in dem Nordirland-Konflikt zwischen 1968 und 1998 ihren blutigen Höhepunkt findet. Es geht um die Auswirkungen, die dieser Bürgerkrieg nicht nur auf Familien, sondern auf eine ganze Generation hat.

Burns (1962 geboren) nimmt uns in „Amelia“ in den nordirischen Alltag dieser Jahre mit, die sie selbst erlebt hat, und zeigt schonungslos und unsentimental die Gewalt, die das Aufwachsen der Kinder prägt. Bombenanschläge, Schießereien, zwielichtige Gruppierungen, tote Familienangehörige, die nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren, häusliche Gewalt. Eine Spirale, aus der es kein Entkommen gibt. Die Flucht in Drogen und Alkohol schafft kurzzeitiges Vergessen des trostlosen Alltags. Die Hoffnung auf Normalität bleibt ein unerfüllter Wunschtraum.

Ein schwer verdaulicher Coming-of-Age Roman, in dem die kindliche Unschuld Stück für Stück auf der Strecke bleibt, und die Verletzungen an Geist und Seele keine Heilung erfahren. Harte Kost.

Veröffentlicht am 15.05.2022

Wenn man nichts zu verlieren hat...

Ocean State
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Rhode Island, der titelgebende „Ocean State“ in New England, kleinster Bundesstaat der USA. An der Küste die Luxusvillen der Superreichen, in den Kleinstädten Häuser, an denen die Farbe abblättert, die ...

Rhode Island, der titelgebende „Ocean State“ in New England, kleinster Bundesstaat der USA. An der Küste die Luxusvillen der Superreichen, in den Kleinstädten Häuser, an denen die Farbe abblättert, die Blumen verwelkt sind, das Gras hüfthoch in den Vorgärten steht und die ausrangierten Hummerfallen vor sich hin rosten.

Es sind diese Gegensätze, die gesellschaftlichen Verwerfungen, für die Stewart O’Nan ein Auge hat und sie in fast allen seiner Romane zum zugrunde liegenden Thema macht. So auch in seinem neuen Roman, der uns schon mit dem ersten Satz mitten hinein in die Story katapultiert: „Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten.“

2009, Ashaway, ein heruntergekommenes Haus nahe der stillgelegten Mühle. Neuer Wohnort der Olivieras. Carol, die alleinerziehende Mutter, arbeitet als Hilfspflegerin in einem Altenheim und lebt mit ihren Teenagertöchtern Angel und Marie in einem heruntergekommenen Haus draußen bei der alten Fabrik. Was ihre Männerbekanntschaften angeht, ist sie nicht sonderlich wählerisch, jeder einzelne stellt sich als Fehlgriff heraus. Auch wenn sie ihnen kein gutes Vorbild ist, liebt sie doch ihre Mädchen und sorgt für sie, würde ihnen gerne mehr bieten. Marie, die dreizehnjährige Erzählerin, fühlt sich als die Außenseiterin der Familie. Zu pummelig, zu unbeholfen, zu unbeliebt. Ganz anders Angel, ihre große Schwester, die sie vergöttert und die all das ist, was sie gern wäre. Groß, hübsch, beliebt und selbstbewusst. Angel wiederum macht sich keine Illusionen über ihre Zukunft. Zu schlecht sind ihre Startbedingungen, da bleibt nach dem Schulabschluss nur ein schlechtbezahlter Job, Mann und Kind. Kein Platz für Träume, ausgeschlossen ein gemeinsames Leben mit ihrem High School Sweetheart, dem Jungen aus reichem Hause, der das College besuchen, eine passende Frau finden und Angel vergessen wird. Myles, der sie bereits jetzt schon mit Birdy betrügt, die einen ähnlichen familiären Hintergrund wie Angel hat und alles daran setzt, Myles für sich zu gewinnen, womit die Tragödie ihren Lauf nimmt und nicht mehr aufzuhalten ist.

Mit feinem Gespür für die Lebenssituation der vier Frauen erzählt O’Nan eine Geschichte von großen Erwartungen, enttäuschter Hoffnung, falschen Entscheidungen und der Gewissheit, dass auch in Amerika nicht jede Frau ihres Glückes Schmied ist. Einzig Myles bleibt blass, ist nur ein verwöhnter Schnösel.

Es sind die beiden alternierenden Erzählstränge, die das Geschehene so eindringlich wirken lassen. Das Wissen um ein Leben ohne Perspektive, aus dem es kein Entkommen gibt, man nichts zu verlieren hat und deshalb alles riskieren kann. Eine Handlung, die wie der Blick auf einen Zug wirkt, der in hohem Tempo ungebremst auf ein Hindernis zurast, weil eine Weiche falsch gestellt wurde.