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Veröffentlicht am 20.09.2022

Perlen auf einer Schnur

Fireside Mysteries
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Die Taverne «zur blauen Ader» können weder die Gäste noch das Personal verlassen. Sie sitzen fest, denn seit Tagen regnet es ununterbrochen. Der Pegel des Skidwrack-Flusses steigt unaufhörlich, die Wege ...

Die Taverne «zur blauen Ader» können weder die Gäste noch das Personal verlassen. Sie sitzen fest, denn seit Tagen regnet es ununterbrochen. Der Pegel des Skidwrack-Flusses steigt unaufhörlich, die Wege haben sich in morastige Bäche verwandelt, niemand kommt heraus oder herein. Was also tun? Um sich die Zeit und wohl auch die Angst zu vertreiben, beginnen Gäste und Personal damit, sich reihum am Kaminfeuer Geschichten zu erzählen. Bald wird klar, dass es sich dabei nicht nur um Fiktion handelt. Einige der Gäste scheinen ganz offensichtlich nicht zufällig in der Taverne eingekehrt zu sein, sondern verfolgen ein bestimmtes Ziel…

Meine Meinung:
15 Geschichten werden uns in «Fireside Mysteries» erzählt. Wir lesen die Abenteuer von Hausierern, Piraten, suchen nach geheimnisvollen Karten und Artefakten. Wir erkennen die tiefere Bedeutung von Musik und Tanz, müssen über den Tod nachdenken und wissen vor allem nicht immer, was Wahrheit oder Lüge ist.
Jede dieser von Kate Milford fantastisch erzählten Geschichten ist eine kleine Perle, die man beim genauen Lesen entdecken muss. Jede Geschichte ist unglaublich vielschichtig, von sprachlicher Schönheit und Raffinesse, herzerwärmend oder beklemmend, verwirrend oder eindeutig – und immer mit einer Moral am Ende.
Alle zusammen ergeben sie schliesslich eine schöne Perlenkette, denn sie bilden ein Ganzes.
Das freilich ist dem Leser zu Beginn noch nicht so deutlich, und so hatte ich anfangs etwas Mühe, mich mit den vielen verschiedenen Namen, Bezügen und Anspielungen zurechtzufinden. Nun, wo ich am Ende des Romans angekommen bin, müsste ich im Grunde noch einmal von Vorne anfangen, um jede einzelne Geschichte richtig in das grosse Ganze einzuordnen.
Überhaupt hat die Autorin mehrere Bücher als Ganzes komponiert, wovon ich bisher «Greenglass House» gelesen habe (und absolut liebe). «Fireside Mysteries» gehört dazu (und spielt wiederum in «Greenglass House» eine Rolle), ich wünsche mir deshalb sehr, dass auch die anderen Bände noch auf Deutsch erscheinen werden. Man kann diese einzeln lesen, aber wirklich verstehen kann man die Welt von Nagspeake wohl erst, wenn man alle kennt.
Dieses Buch ist für sich aber bereits ein Genuss für alle, die atmosphärische Geschichten lieben. Es steckt so voller Ideen und Bilder, aber auch voller tiefgründiger Gedanken, dass ich jedoch glaube, Kinder ab 12 könnten damit noch ein wenig überfordert sein. Das Buch lebt auch von dem, was zwischen den Zeilen gesagt wird, und was man als Leser vielleicht doch erst mit einiger Lebenserfahrung verstehen kann.
Unbedingt erwähnen möchte ich die beiden Illustratorinnen, welche das Buch auch äusserlich zu einem Schmuckstück machen. Die wunderbare Umschlaggestaltung stammt von Jaime Zollars, die auch schon «Greenglass House» zu einem Hingucker im Bücherregal gemacht hat. Im Innern hat Nicole Wong vor jeder Geschichte eine passende Illustration geschaffen. Auch sie hat einen ganz eigenen, mich sehr ansprechenden und berührenden Stil.
Die Übersetzung aus dem Englischen schliesslich stammt von Alexandra Ernst.

Fazit:
«Fireside Mysteries» ist ein anspruchsvoller Roman, der uns erneut in die fantastische Welt von Nagspeake entführt. Perfekt für alle, die spannende, unheimliche und atmosphärisch dichte Geschichten und skurrile Figuren lieben.

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Veröffentlicht am 24.08.2022

Ein Hoch auf die Freundschaft

Am liebsten sitzen alle in der Küche
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Inhalt:
Almut hat seinerzeit ihr Studium aufgegeben und sich um die vier gemeinsamen Kinder gekümmert, während ihr Mann Karriere machte. Nun hat er eine andere und lässt sich scheiden.
Tille ist alleinerziehende ...

Inhalt:
Almut hat seinerzeit ihr Studium aufgegeben und sich um die vier gemeinsamen Kinder gekümmert, während ihr Mann Karriere machte. Nun hat er eine andere und lässt sich scheiden.
Tille ist alleinerziehende Ärztin und hat Probleme mit ihrem halbwüchsigen Sohn.
Yeliz ist erfolgreiche Geschäftsfrau und hat einen Lebensgefährten. Doch perfekt ist ihr Glück nicht.
Diese drei sehr unterschiedlichen Frauen um die 50 begegnen sich eines Tages durch Zufall. Und von dem Tag an sind sie miteinander verbunden. So ergibt es sich schliesslich, dass sie sich bei Almut in ihrer gemütlichen Küche treffen. Zum Essen (denn Almut kocht sehr gerne) und Reden. Weil das allen so gut gefällt, entwickelt sich daraus ein wöchentliches Ritual. Und plötzlich stellen die drei Frauen fest, dass sie alle zufällig den gleichen Bekannten haben. Einen, der keiner der Frauen besonders gutgetan hat, im Gegenteil…
Meine Meinung:
Julia Karnicks Buch handelt von Freundschaft.
Wir lernen drei völlig unterschiedliche Frauen kennen, dürfen in Rückblicken und in der Gegenwart an ihren Schicksalen teilhaben und werden sofort in die Geschichten der Drei mithineingenommen. Es gelingt der Autorin sehr gut, dass man sich als Leserin in jede der Frauen hineinversetzen kann. In allen entdeckt man etwas von sich selber wieder und merkt: Auch wenn wir aus verschiedenen Kulturkreisen stammen, so haben wir Frauen doch eigentlich die gleichen Träume und Wünsche.
Julia Karnicks Buch handelt auch von Mut.
Mut, noch einmal neu anfangen zu können und das Vertraute (gezwungenermassen oder nicht) hinter sich zu lassen. Natürlich geht es auch um Männer, ganz besonders um einen Mann, aber eigentlich sind die gar nicht (mehr) so wichtig.
Und so lassen die Protagonistinnen es sich miteinander gutgehen. An den gemütlichen Treffen in Almuts Küche mit den leckeren selbstgemachten Köstlichkeiten möchte man selber gerne teilnehmen.
Ich habe neben dem Lesen auch das Hörbuch gehört. Die Sprecherin (und Schauspielerin) Ilka Teichmüller setzt den Roman gekonnt und abwechslungsreich in Szene, es macht Freude, ihr zuzuhören.

Fazit:
«Am liebsten sitzen alle in der Küche» ist ein unterhaltsamer, warmherziger und spannender Roman, der über die Freuden, Sorgen und Träume von Frauen um die 50 erzählt. Dabei halten sich humorvollen und nachdenkliche Töne die Waage. Als Buch oder Hörbuch besonders empfehlenswert für Leserinnen in dieser Altersklasse.

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Veröffentlicht am 01.06.2022

Klimt in Zürich

Waldinneres
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Gottfried Messmer betreibt in Zürich das Künstlercafé «Kafi Glück», einen angesagten Treffpunkt für Musiker und Kunstliebhaber, wo es das kälteste Bier in der ganzen Stadt und die coolste Musik gibt. «Gott», ...

Gottfried Messmer betreibt in Zürich das Künstlercafé «Kafi Glück», einen angesagten Treffpunkt für Musiker und Kunstliebhaber, wo es das kälteste Bier in der ganzen Stadt und die coolste Musik gibt. «Gott», wie ihn seine Freunde nennen, ist ein Eigenbrötler, der früh seine Eltern verlor und sein halbes Leben in der Welt herumgereist ist. Nun mit Ende 50 hat er, so scheint es, mit seiner Freundin Julia und dem Café sein Glück gefunden. Bis eines Tages eine grosse Schweizer Bank bei ihm anruft und ihn zu einem vertraulichen Gespräch bittet: Sein Vater habe vor vielen Jahren im Safe der Bank etwas deponiert. Plötzlich sieht Gottfried sich mit einem Erbe konfrontiert, welches sein bisheriges Leben und das Bild, welches er von seinen Eltern hatte, ins Wanken bringt. Im Safe findet sich nämlich ein alter Spazierstock, in dessen Inneren ein verschollen geglaubtes Gemälde von Gustav Klimt versteckt ruht. Im Begleitschreiben bittet Gottfrieds Vater ihn, den rechtmässigen Besitzer zu finden und das Bild zurückzugeben. Doch wo soll Gottfried mit der Suche beginnen?
In Rückblenden auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs und durch die Ereignisse in der Gegenwart erfährt der Leser, dass es sich bei dem wahren Besitzer um einen jüdischen Kunstsammler handelte, welcher vor den Nazis über versteckte Wege in die Schweiz floh und von Gottfrieds Vater dabei unterstützt werden sollte. Durch einen tragischen Unfall wurden die beiden Männer auf der Flucht kurzzeitig getrennt, wobei Gottfrieds Vater den Spazierstock an sich nahm, um im Wald schneller vorankommen und Hilfe holen zu können. Als er zu dem verletzten Juden zurückkehrte, war dieser verschwunden. Oder hat Vater Messmer sich das alles nur ausgedacht, um das wertvolle Gemälde an sich zu nehmen? Ist er am Ende nur einer von vielen Verbrechern, die sich am Leid der Juden bereichert hat?
Und schon stecken die Leser mitten in einem Naziraubkunst-Krimi.
Meine Meinung:
In diesem Roman steht die oftmalige Oberflächlichkeit unserer Zeit zunächst im Kontrast zu der existentiellen inneren und äusseren Not der Menschen während des zweiten Weltkriegs. Dabei hat er das Elend zuallererst der Juden im Blick, aber dann auch dasjenige der Menschen, die sich nicht mitschuldig machen wollten am Unrecht der Nazidiktatur. Dabei wird deutlich, dass es mit der vielbeschworenen Neutralität der Schweiz während dieser Zeit nicht so weit her war. «Das Boot ist voll» als Entschuldigung dafür, keine jüdischen Flüchtlinge aufnehmen zu können, war eine bewusst gemachte Aussage, die den Tod von unzähligen Menschen in Kauf nahm. Gerne hätte ich über dieses wichtige Thema, nachdem es doch den Aufhänger für diesen Roman bildet, noch mehr gelesen. Doch leider konzentriert sich der Roman nach meinem Gefühl dann sehr in der Gegenwart, was die Autorin aber nach eigenen Angaben bewusst so gewollt hat. «Die Ereignisse der Vergangenheit sind lediglich der Motor, der eine gegenwärtige Handlung in Gang setzt.» (Zitat aus einem Interview). Ob gerade dieses sehr komplexe Thema dafür als Aufhänger geeignet ist, kann man in Frage stellen.
Bei der Auflösung der Handlungsstränge am Schluss gab es für mich zu viele Zufälle, die dann zum Happy End führten. Die inneren Kämpfe und das Ringen sowohl der Menschen zur damaligen Zeit als auch der Umgang mit Schuld kommt darüber zu kurz. Wir begegnen im Buch vielen sehr interessanten Gestalten, über deren Vergangenheit ich gerne noch mehr gelesen hätte. «Waldinneres» ist auf jeden Fall sehr spannend und sehr flüssig zu lesen. Für jemanden wie mich, die in der Schweiz lebt und auch etliche im Roman vorkommende Orte in Zürich kennt, war die Lektüre natürlich nochmal ein besonderer Genuss.
Fazit: Mónica Subietas hat einen spannenden Roman über das Thema «Raubkunst» geschrieben, der sich sehr flüssig liest und zum Nachdenken anregt. Leider bleibt er an vielen Stellen durch die Konzentration auf die Gegenwart für mich zu sehr an der Oberfläche.

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Veröffentlicht am 10.02.2022

Vergangenheit und Zukunft

Bone Music
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INHALT:
Die 15jährige Sylvia Carr verbringt mit ihrer Mutter einige Tage in einem kleinen Cottage in Newcastle (Nordengland). Sie vermisst ihre Freundinnen, und weil auch der Handyempfang in dem abgelegenen ...

INHALT:
Die 15jährige Sylvia Carr verbringt mit ihrer Mutter einige Tage in einem kleinen Cottage in Newcastle (Nordengland). Sie vermisst ihre Freundinnen, und weil auch der Handyempfang in dem abgelegenen Dorf ausgesprochen schlecht ist, fühlt sie sich einsam und entwurzelt. In der Nacht wacht sie immer wieder auf und tritt ans Fenster, weil sie aus dem gegenüberliegenden Wald eine fremdartige Melodie vernimmt, von der sie sich magisch angezogen fühlt. Schliesslich begegnet Sylvia dem Jungen Gabriel, der so ganz anders ist als die Jugendlichen in der Stadt, mit denen sie es sonst zu tun hat. Hochbegabt, aber dem inneren und äusseren Druck, der auf ihm lastete, nicht gewachsen, hat er sich selbst verletzt und in sich zurückgezogen. Einzig in der Natur und der schamanistischen Weltsicht seiner Urahnen findet er Frieden. Das Spiel auf einer uralten Knochenflöte versetzt ihn dabei in die Vergangenheit. Musik ist ein zentrales Moment in diesem Roman. Zusammen mit Gabriel stellt Sylvia daher eines Tages ihre eigene Knochenflöte her, deren Töne sie eng mit der mythologischen Vergangenheit Northumberlands verschmelzen lassen. Nachts unternimmt Sylvia eine magisch spirituelle Reise in die Vergangenheit, in welcher sie sich in eine urzeitliche Vorfahrin verwandelt und alle Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufgehoben scheinen. Aus dieser Kraft will Sylvia zukünftig schöpfen, um ihre eigene Welt zu schützen und zu einem lebenspendenden, heilsamen Ort für alle zu machen.

MEINE MEINUNG:
Auf den ersten Blick handelt «Bone Music» von dem Kontrast zwischen Stadt und Land, Technik und Natur, Verlorenheit und Verwurzelung.
Erst auf den zweiten Blick erkennt man, worum es David Almond wirklich geht: Er will eine tragfähige Verbindung zwischen diesen beiden Welten schaffen. Sein Roman ist ein Plädoyer dafür, dass junge Menschen sich der Schönheit und Wildheit der Natur bewusst werden, nicht vergessen, wie sehr alle von der Vergangenheit der Vorfahren geprägt werden, aber zugleich den Sinn für die Wirklichkeit nicht verlieren.
Was Menschen dabei im wahrsten Sinne des Wortes in einer technisierten und unruhigen Welt erden soll, ist die Rückbesinnung auf die geschichtlichen Wurzeln, auf die Schöpferkraft und Schönheit in jeder Kreatur und jedem Lebewesen. Und es ist immer wieder der magische Zauber der Töne und der Musik, welcher unser Innerstes bewegen und verändern kann.
Dieser Mix ist es, der für mich den besonderen Reiz dieses Romans ausgemacht hat, und ich schätze Almonds Anliegen sehr, dass wir uns achtsam mit der Natur und der Vergangenheit auseinandersetzen sollen, um uns selbst und unseren Platz in der Welt zu finden.
Leider ist es dem Autor jedoch nicht gelungen, mich durchgängig mit diesem Roman in meinem Innersten zu berühren, so wie ich es erhofft hatte. Möglicherweise liegt es an dem Zuviel an Themen, die den Erzählfluss nach meinem Gefühl (zu) oft unterbrechen.
So befindet sich etwa die Ehe von Sylvies Eltern sich in einer Krise. Sie droht daran zu zerbrechen, dass ihre Mutter es nicht (mehr) erträgt, den Mann immer wieder als Kriegsberichtsreporter in Lebensgefahr zu wissen.
Sylvies Mutter arbeitet therapeutisch mit «schwererziehbaren» Jungen, wovon einer sich das Leben nehmen will.
Der freundliche alte Nachbar Andreas hadert mit seiner Vergangenheit und der Schuld, die er als junger Mann im Krieg bei den deutschen Nationalsozialisten auf sich geladen hat.
Sylvie und ihre Freundinnen und Freunde engagieren sich für den Umweltschutz und versammeln sich regelmässig zu Klimaschutzdemos.
Ich wäre stattdessen gerne mehr bei Gabriel und Sylvia und der urzeitlichen und mythologischen Vergangenheit des Ortes geblieben. Gabriel ist für mich die Schlüsselfigur des ganzen Buches, über ihn hätte ich gerne noch mehr erfahren, doch bleibt er merkwürdig konturlos.
Beim Lesen hatte ich manchmal das Gefühl, dass der Autor versucht zu beschreiben, wie er denkt, dass Jugendliche heutzutage sind. Es schien mir so, als müssten möglichst alle «Baustellen», die es im Leben von Heranwachsenden geben könnte, auch genannt werden.

FAZIT:
«Bone Music» ist eine poetische Gegenwartserzählung über die Nöte und Sorgen Jugendlicher mit mystisch-spirituellen Elementen. Das Buch ist etwas ganz Eigenes unter den vielen Romanen, die es aktuell für Jugendliche gibt, weswegen eine Lektüre auf jeden Fall lohnenswert ist. Dies auch vor allem wegen Almonds schönem Schreibstil und seinen gelungenen Naturbeschreibungen.

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Veröffentlicht am 20.01.2022

Ein Leben für die Kinder

Die Dorflehrerin
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In einer Zeit, als es in Deutschland noch den sogenannte Lehrerinnen-Zölibat gab, tritt die junge Antonie Weber ihre erste Stelle an. Als Waise aufgewachsen und nur durch einen glücklichen Zufall bei dem ...

In einer Zeit, als es in Deutschland noch den sogenannte Lehrerinnen-Zölibat gab, tritt die junge Antonie Weber ihre erste Stelle an. Als Waise aufgewachsen und nur durch einen glücklichen Zufall bei dem «Orden der Englischen Fräulein» in München zur Lehrerin ausgebildet, wird sie im Jahr 1911 von dort ausgeschickt nach Tannau. Dabei handelt es sich um ein hochgelegenes, ärmliches, bayerisches Bergdorf, in welchem die dörflichen Strukturen, Hierarchien und Rollenbilder starr zementiert und die Uhren offenbar stehengeblieben sind. Eine junge Frau als Lehrerin ist dort nicht erwünscht, und so schlägt Antonie von Anfang an ganz offen zur Schau getragene Ablehnung oder sogar Hass und auch Sabotage entgegen. Einzig der alte Dorfpfarrer und seine geistig etwas zurückgebliebene Hilfe Magda begegnen Antonie freundlich und unterstützen sie nach ihren Möglichkeiten. Doch auch die fast 50 Kinder aller Altersstufen, welche zusammen in einem Raum unterrichtet werden müssen, schliessen ihre neue Lehrerin und ihre freundliche Art zu unterrichten rasch in ihr Herz. Über sie gelingt es der jungen Frau, auch einen Grossteil der Eltern mit der Zeit für sich einzunehmen. Dabei muss Antonie beim Unterrichten ständig improvisieren, fehlt es doch an allen Ecken und Enden an Unterrichtsmaterial, einem intakten Klassenzimmer oder Brennholz für den Winter. Dieses wird ihr alles bewusst durch den Bürgermeister vorenthalten, um sie so rasch wie möglich wieder loszuwerden. Doch Antonie gibt nicht auf. Als der Prinzregent wenig später Tannau zu einem Jagdausflug besucht, ist er beeindruckt von dem, was Antonie bisher geleistet hat und gewährt daraufhin die finanziellen Mittel für Renovierungsarbeiten und neue Schulbücher. Damit scheint sich endgültig alles zum Guten zu wenden, doch die Missgunst einiger alter Dorfbewohner ist ungebrochen. Als Antonie von diesen bezichtigt wird, beim «Poussieren» mit dem Revierförster Sebastian gesehen worden zu sein, scheint alles verloren...

Meine Meinung:
Der Pflicht-Zölibat für Lehrerinnen wurde in Deutschland erst in den 50er Jahren aufgehoben. Gerade für junge Frauen, die sich neben ihrer beruflichen Tätigkeit auch nach einer Partnerschaft und der eigenen Familie sehnten, war dies eine grosse und für einige nicht tragbare Bürde. Im Roman begegnen wir daher unter anderem einer Freundin von Antonie, die ebenfalls Lehrerin ist, sich aber dann verliebt und den Beruf mit der Heirat aufgeben muss. Auch Antonie selbst kommt ebenfalls in grosse innere Nöte, da sie durchaus Gefühle für Sebastian hat, welche dieser auch erwidert. Die endgültige Entscheidung für «Beruf» oder «Liebe» kann sie lange nicht treffen.
Bettina Seidl erschafft mit ihren lebhaften und anschaulichen Beschreibungen der dörflichen Strukturen, ihrer Bewohner und vor allem der Naturgewalten und -schönheiten eine faszinierende Atmosphäre, durch welche man sich als Leserin ganz nah in das Geschehen mithineingenommen fühlt. Ein Jahr lang begleiten wir Antonie auf ihrem Weg in Tannau und tauchen ein in den Kreislauf der Natur, nehmen teil an den Freuden und Leiden der Dorfbewohner, sehen Menschen sterben und erleben, wie neue geboren werden. Im Vordergrund steht aber immer das Wohlergehen der Kinder, welche Antonie anvertraut sind. Es ist berührend zu lesen, wie die junge Lehrerin sich zu jedem Kind ihre Gedanken macht und weniger nach den Defiziten, als vielmehr nach den Talenten und Begabungen jedes einzelnen Kindes sucht, um diese zu fördern und vor den oftmals strengen Eltern hervorzuheben. Antonie geht ihren Weg unbeirrt und lässt sich nicht entmutigen, sie ist stark für ihre Schüler. Gleichwohl sieht es in ihrem Innern oft dunkel und leer aus. Die Trauer darüber, dass sie selbst nie Eltern hatte und sich zeitlebens ungeliebt fühlt, beschreibt Bettina Seidl deutlich und einfühlsam. So ist es überhaupt eine Stärke und eine wichtige Botschaft dieses Romans, dass er beschreibt, wie sich auch im vermeintlich Schwachen und «Unnormalen» Schönheit und Stärke befinden, die anderen zugutekommen können, wenn man sie sich nur entfalten lässt.
«Die Dorflehrerin» liefert daneben auch ein anschauliches Bild über die gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen in dörflichen und städtischen Gemeinschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei letztere den anderen meist voraus waren. Die Aufbrüche in eine grössere Selbständigkeit und ein neues Selbstbewusstsein für Frauen, neue technische Errungenschaften oder ein Umdenken in der Pädagogik seien hier stellvertretend für viele andere erwähnt.
Insgesamt hat Bettina Seidl einen in sich stimmigen und sehr gut lesbaren Roman geschrieben. Vereinzelt gleiten die beschriebenen Szenen ein wenig ins klischeehaft Triviale ab, sodass man sich stellenweise tatsächlich in einer Ludwig Ganghofer Verfilmung wähnt. Dies tut aber dem positiven Gesamteindruck keinen Abbruch.

Fazit:
«Die Dorflehrerin» beschreibt einfühlsam und spannend den Weg einer sympathischen, jungen Lehrerin, die sich in einer ihr fremden Welt gegen viele Widerstände für die ihr anvertrauten Kinder einsetzt und dabei zu einer starken Persönlichkeit heranreift. Ich empfehle diesen Roman gerne weiter.

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