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Veröffentlicht am 01.11.2022

Die Wogen eines Menschenlebens

Lektionen
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Roland Baines ist der Sohn eines Militäroffiziers in Libyen, der mit elf Jahren nach England ins Internat geschickt wird. Getrennt von den Eltern erhält er dort neben der schulischen Ausbildung Klavierunterricht, ...

Roland Baines ist der Sohn eines Militäroffiziers in Libyen, der mit elf Jahren nach England ins Internat geschickt wird. Getrennt von den Eltern erhält er dort neben der schulischen Ausbildung Klavierunterricht, stellt sich als überdurchschnittliches Talent heraus. Doch einschneidende Ereignisse in der Folge entfremden Roland von seinem Talent und lassen ihn eine Weile ruhelos durch sein Leben irren. Glücklos endet leider auch seine erste Ehe, die sogar mit einem Kind, seinem Sohn Lawrence, gesegnet war.

Wir begleiten Roland sein gesamtes Leben bis ins hohe Alter. Er bewältigt die Hürden des Lebens, jeweils ein bisschen neben der Spur oder ein ein wenig zu spät. Auf mich wirkt Roland zu unentschlossen und wenig motiviert, eigene Wünsche zu formulieren, sich durchzusetzen. Dabei besitzt er mehrere Talente, die Roland aus meiner Sicht hätte weiterverfolgen können. Leider lässt er sich von den Enttäuschungen seines anfänglich jungen Lebens so weit herunterziehen, dass er sein gesamtes Leben unterhalb der sich bietenden Möglichkeiten verbringt.

Trotz seiner allgemeinen Erfolglosigkeit mochte ich Roland irgendwie. Er ist alles andere als ein Strahlemann, aber fürsorglich und ein Familienmensch. Dafür, dass er so jung von der Familie fortgeschickt worden ist, hat Roland sich als Vater und noch mehr als Großvater gut gemacht. Ich mochte zudem seine Gedanken zu seinen eigenen Lebenslagen und zu den jeweiligen Gesellschaftsumständen im Laufe der Zeit.

Ian McEwan bettet die Geschichte um seinen Antihelden Roland Baines in die Weltgeschichte ein, verbindet einzelne Charaktere aus Rolands Umfeld mit berühmten Protagonisten der Historie. So erinnern sich geneigte Lesende an die Weiße Rose, den Blauen Reiter, an die Kuba Krise, die DDR mit dem späteren Mauerfall, an Margaret Thatcher und auch Boris Johnson. Ian McEwan verwebt die wichtigsten historischen Ereignisse vom Zweiten Weltkrieg bis hin zur Corona-Krise geschickt mit dem Leben der kleinen Leute, mit Rolands Leben.

Manchmal erschien mir das Leben des Antihelden etwas langatmig, die Kapiteleinteilung war mir insgesamt zu lang, manchmal mühselig. Aber so ist das Leben, manchmal anstrengend, wenig erfolgreich und eben mühselig. Diese realistische Darstellung hatte was erfrischendes, auch wenn das natürlich weniger Action mit sich bringt und den Lesefluss etwas ausbremst.

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Veröffentlicht am 13.09.2022

Interessanter Blickwinkel, Potenzial nicht ganz ausgeschöpft

Isidor
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Isidor ist ein jüdischer Lebemann im Wien der 1930er Jahre, der es, aus ärmsten Verhältnissen stammend, geschafft hat, mit Hilfe von Bildung und Zielstrebigkeit zu Reichtum und einem guten Leben zu kommen. ...

Isidor ist ein jüdischer Lebemann im Wien der 1930er Jahre, der es, aus ärmsten Verhältnissen stammend, geschafft hat, mit Hilfe von Bildung und Zielstrebigkeit zu Reichtum und einem guten Leben zu kommen. Dafür war er schon in jungen Jahren bereit, einen Teil seiner Identität zu verschleiern beziehungsweise zu verbergen. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten beginnt die grauenhafte Ära, die den schon viele Jahre vorhandenen Antisemitismus auslebt, die Neid und Missgunst eskalieren lässt.

In diesem Setting erzählt Shelly Kupferberg von ihrem Urgroßonkel Dr. Isidor Geller.
Sie beschreibt seinen Aufstieg, das Verlassen der Heimat. Die Autorin begründet sehr anschaulich die Notwendigkeit, den ursprünglichen Vornamen Israel einzudeutschen und daraus Variationen wie Innozenz, Ignaz oder eben Isidor abzuleiten. Gleichzeitig schildert sie die widersprüchliche Einstellung der hohen jüdischen Gemeinschaft, die vulgären Nationalsozialisten könnten ihnen nichts anhaben. Diesen Glauben an die eigene Überlegenheit finde ich sehr interessant und spannend, weil sie sich sehr gut auf unsere westliche Denke China und Russland gegenüber übertragen lässt.

Den Aufstieg Isidors hätte ich mir etwas liebevoller vom Schreibstil her gewünscht. Ich konnte keine Nähe zu Isidor entwickeln, alles erschien kühl dokumentarisch, irgendwie sachlich. Der Abstand zur Hauptfigur hat mir nicht so gut gefallen. Berührt wurde ich erst, als der Schrecken über Isidor, seine Familie und Freunde hereinbrach. Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte ich mehr Mitgefühl für alle anderen als für Isidor. Das stimmt mich nachdenklich, weil es diesen Unterschied nicht geben sollte. Schließlich ist allen gleichermaßen immenses Unrecht widerfahren.

Als Highlight habe ich die Verbindung der Geschichte zu dem extravaganten Cover empfunden. Das Reh im Salon war der Grund, warum ich den Roman lesen wollte. Ebendiesem Reh wieder zu begegnen war sehr schön, ein Lichtblick innerhalb des Grauens.

Insgesamt ist der Roman thematisch keine leichte Kost. Ich spreche gern eine Leseempfehlung an alle historisch Interessierten aus, liefert er doch einen interessanten Blickwinkel auf das Geschehen.

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Veröffentlicht am 14.07.2022

Vertiefung einer Gesellschaftskritik

Dämmerstunde
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Dämmerstunde von Hwang Sok-yong nimmt uns mit in eine ferne fremde Gesellschaft, die rücksichtslos ihre Schwachen wie Müll beiseite schiebt, um der aufstrebenden Wirtschaft und dem modernen Wohnungsbau ...

Dämmerstunde von Hwang Sok-yong nimmt uns mit in eine ferne fremde Gesellschaft, die rücksichtslos ihre Schwachen wie Müll beiseite schiebt, um der aufstrebenden Wirtschaft und dem modernen Wohnungsbau Platz zu machen. Hier begegnen wir Bak Minu, einen alternden Architekten, der aus ärmlichsten Verhältnissen stammend, eine imposante Karriere hingelegt hat. Er blickt auf das eigene Leben mit all seinen Begegnungen zurück, hinterfragt vielleicht so manche Entscheidung. Als zweiter Charakter tritt Dschong Uhi auf die Bühne. Sie ist Theaterregisseurin vor dem sogenannten Durchbruch, die sich durch Nachtschichten in einem 24-Stunden-Nahversorger über Wasser hält.

Obwohl beide ganz unterschiedliche Charaktere sind, sich also nicht nur ihres Alters wegen massiv unterscheiden, gibt es doch Parallelen. Sowohl Bak Minu als auch Dschong Uhi halten mit strenger Disziplin an ihren Lebensträumen fest. Dem ordnen beide alles unter, bringen so manches Opfer. Sie besitzen eine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit, fallen niemals aus dem Rahmen, bleiben komplett unauffällig, so wie es die Gesellschaft von ihnen erwartet. Die gesamte Lesezeit habe ich den beiden eigentlich mehr Leben und ein bisschen weniger strebsame Arbeit gewünscht.

Der Autor pflegt eine eher distanzierte, beschreibende Sprache. Trotzdem ist es Hwang Sok-yong gelungen, dass mir seine beiden Hauptfiguren ans Herz gewachsen sind. Ich konnte die Handlungsweisen von Uhi und Minu in ihrem Umfeld gut nachvollziehen, mich gut in beide hineinversetzen, sie ein stückweit verstehen. Anspruchsvoll fand ich die Umsetzung mittels verschiedener Ich-Erzählstimmen, da es mich jeweils einen Moment gekostet hat, den Personenwechsel zu erkennen. Herausfordernd waren auch die immensen Zeitsprünge. Dadurch hat es eine Weile gedauert, sich an den Erzählstil zu gewöhnen. Letzten Endes passen allerdings Geschichte und Schreibstil sehr gut zusammen.

Am besten hat mir das Anknüpfen dieses Romans an seinen Vorgänger „Vertraute Welt“, den ich im letzten Jahr gelesen hatte, gefallen. So wirkt „Dämmerstunde“ ein wenig wie eine Fortsetzung ohne tatsächlich eine zu sein. Ich habe mich jedenfalls gern an „Vertraute Welt“ erinnert und mit der aktuellen Lektüre den Faden, Südkorea und seine Gesellschaft besser kennen zu lernen, wieder aufgenommen.

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Veröffentlicht am 06.06.2022

Ins rechte Licht gerückt

Privateigentum
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„Trautes Heim, Glück allein“, das scheint der Lebenstraum vieler Leute zu sein. Mit dieser Erwartungshaltung verlassen Charles und Eva Caradec ihre Pariser Wohnung und ziehen in ein Haus in der Vorstadt, ...

„Trautes Heim, Glück allein“, das scheint der Lebenstraum vieler Leute zu sein. Mit dieser Erwartungshaltung verlassen Charles und Eva Caradec ihre Pariser Wohnung und ziehen in ein Haus in der Vorstadt, das die neuesten ökologischen Standards erfüllt. Sie freuen sich auf ein bisschen mehr Ruhe im Grünen.

Doch die Ruhe lässt auf sich warten. Die neuen Nachbarn nerven. Sie sind neugierig. Ihnen fehlt ständig irgendein Haushaltsgerät, dass sie mal eben in Beschlag nehmen. Die Nachbarn mimen eine Vertrautheit, die es eigentlich nicht geben kann, müssen sich alle doch erstmal kennenlernen.

So beginnt mit dem ersten Halbsatz „Ich fand es falsch den Kater zu töten“ ein bitterböser Roman, der böse Gedanken mit bösen Taten vermischt und in einen Kriminalfall mündet. Während nach außen versucht wird, eine gute Nachbarschaft zu erzeugen, findet im Kleinen längst Cliquenbildung statt. Gegenseitige Lästereien erzeugen einen gewissen Groll. Julia Decks Beobachtungsgabe ist ganz wunderbar. Nachbarschaft ist eben nicht nur eine Aneinanderreihung von harmonischen Grillpartys, sie ist auch geprägt von den Hinterlassenschaften der Anderen sowie Rasenmäherlärm und Kindergeschrei. Etwas überspitzt zu Papier gebracht, entsteht ein witzig turbulentes Werk, das ein stetes Schmunzeln bei den Leser*innen erzeugt. Die gehobene Sprache aus den Gedanken von Eva Caradec spiegelt ihren Bildungsgrad und ein stückweit Überheblichkeit wider. Trotzdem ist sie angenehm zu lesen, so dass dem Lesevergnügen nichts im Weg steht.

Insgesamt ist „Privateigentum“ ein Augenöffner für alle naiven Möchtegern-Hausbesitzer, quasi ein Aufklärungsbuch. Es hängt so viel mehr daran als nur die immensen Kosten. So charmant aufbereitet wie hier, lässt sich so ein Lebenswunsch bereitwillig noch einmal überdenken.

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Veröffentlicht am 24.04.2022

Kluge Auseinandersetzung mit Glaube und Organisation

Vertrauen
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Dror Mishanis neuer Krimi ist keine typisch actiongeladene Verfolgungsjagd, die Tathergänge sind auch nicht besonders beängstigend beschrieben, vielmehr geht es um die Ermittlungsarbeit an augenscheinlichen ...

Dror Mishanis neuer Krimi ist keine typisch actiongeladene Verfolgungsjagd, die Tathergänge sind auch nicht besonders beängstigend beschrieben, vielmehr geht es um die Ermittlungsarbeit an augenscheinlichen Bagatellfällen. Inspektor Avi Avraham wünscht sich eigentlich Fälle, wo das Ergebnis noch einen Nutzen für die Nachwelt hat. Was nutzt es einem Toten und dessen Hinterbliebenen, wenn der Mörder gefasst und verurteilt ist? Avi Avraham liebäugelt mit einem Wechsel zu einer anderen Ermittlungsbehörde oder zum Geheimdienst, um mehr bewegen zu können.

Doch zunächst muss er sich mit zwei Fällen, die wir Leser:innen abwechselnd weiterverfolgen, auseinandersetzen, ein vor einen Krankenhaus ausgesetztes Neugeborenes und ein verschwundener Schweizer Tourist beschäftigen ihn. Zwischen den Zeilen wird Mishani politisch. Er öffnet uns die Welt des jüdischen Glaubens, der in extremer Auslegung die Freiheiten des Lebens stark einschränkt. Mishani ist dabei ein Erzähler der leisen Töne, der mit Andeutungen arbeitet. So entsteht ein Gesamtbild von latenter Unterdrückung, die sonst anderen Glaubensgemeinschaften zugeordnet wird. Mishani lenkt seinen kritischen Blick auch auf den Geheimdienst und dessen Vorgehensweisen. In diesem Zusammenhang entsteht auch die Spannung im Roman, weil man unterschwellig spürt, wie sich Avi Avraham mit jeder weiteren Frage mehr in Gefahr begibt.

Vom Sprachniveau her liest sich der Roman flüssig, auch wenn es sich hier nicht um einen thrillermäßigen Pageturner handelt. Die Bezeichnung als ungemein dichten literarischen Kriminalroman finde ich passend. Er regt zu Nachdenken an, öffnet die Augen für andere Kulturen. Das hat mir hier sehr gefallen. Sympathisch fand ich zudem die kleinen Querverweise zu Orna, die wir schon aus „Drei“ kennen, und ihren Ermittlungen.

Allen, die auch gern im Genre Literatur unterwegs sind, empfehle ich diesen Kriminalroman sehr gern.

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