Beruf oder Liebe?
Die Frauen vom Karlsplatz: Henny„Martin oder Gustav“ (S. 44) steht auf dem Zettel, den Henny in einem Buch ihrer vor kurzem verstorbenen Ziehmutter Auguste findet. Die Namen sagen weder ihr noch ihrem ehemaligen Kinder- und jetzigen ...
„Martin oder Gustav“ (S. 44) steht auf dem Zettel, den Henny in einem Buch ihrer vor kurzem verstorbenen Ziehmutter Auguste findet. Die Namen sagen weder ihr noch ihrem ehemaligen Kinder- und jetzigen Dienstmädchen Olga etwas. Ist einer von ihnen Hennys Vater? Ihre Mutter Lotte hat das Geheimnis um ihn damals mit ins Grab genommen und sie sind all die Jahre ohne die finanzielle Unterstützung eines Mannes ausgekommen. Doch nun wird das Geld immer knapper und Henny weiß nicht, wie lange sie noch Medizin studieren kann. Diesen großen Traum ihrer leiblichen Mutter konnte sie nämlich für sich verwirklichen. Endlich sind Frauen zum Studium zugelassen und werden nicht mehr nur als Gasthörerinnen geduldet, auch wenn das noch nicht bei allen Kommilitonen und Professoren angekommen zu sein scheint. Doch davon lässt sich Henny nicht abschrecken und verfolgt ihren Traum zielstrebig. Aber dann tritt der junge Assistenzarzt und angehende Chirurg Paul in ihr Leben und bringt ihr Herz zum Stolpern. Doch er ist kein einfacher Charakter: „… ich fühle mich manchmal so eingesperrt in meinem Leben, dass ich am liebsten alles zerschmettern würde, um auszubrechen und davonzulaufen.“ (S. 98) Ist er wirklich der Richtige für sie?
Anne Stern schreibt die Geschichte der Frauen vom Karlsplatz fort, auch wenn die Protagonistinnen nicht mehr dort wohnen, da Auguste wegen Henny mit ihrer Familie gebrochen hatte. Sie hat ihren Lebensunterhalt als Lehrerin verdient und bis zu ihrem viel zu frühen Tod ein bescheidenes, aber glückliches Leben geführt. Jetzt sieht sich Henny mit Geldproblemen konfrontiert, denn auch ihr Ziehonkel Ludwig von Berg (Augustes ehemaliger Verlobter) kann wegen eigener Probleme nur bedingt helfen kann. Die Suche nach ihrem Vater scheint ihre einzige Lösung zu sein. Dabei trifft sie auch auf Lottes Pflegerin Terese, die ihr so einiges über ihre Mutter erzählt – nur den Namen des Vaters will sie nicht kennen. „Lotte war eine komplizierte Frau und hat eine Menge Kummer hinterlassen bei allen, die sie geliebt haben.“ (S. 231)
Die Verbindung zum ersten Band ist Anne Stern außerordentlich gut gelungen, auch wenn man ihn nicht zwingend lesen muss, um alle Zusammenhänge zu verstehen. Zeitlich befinden wir uns inzwischen kurz vor dem 1.WK. Sie zeigt die verschiedenen politische und gesellschaftliche Entwicklungen im Land, die Verbindung zwischen dem Erstarken des Nationalsozialismus und dem gleichzeitig hochkochenden Antisemitismus, der Jagd auf Juden und Homosexuelle.
Die Gesellschaft ist gespalten. Während einige dem Krieg entgegenfiebern, hoffen andere, dass er noch verhindert werden kann. Auch Henny und Paul gehören in dieser Frage verschiedenen Lagern an, zudem können sie aufgrund ihrer monetären Lage nicht heiraten. Aber ihre Liebe scheint stärker als die Vernunft. Henny kann nicht von ihm lassen und muss aufpassen, dass ihr nicht das gleiche passiert wie Lotte. Denn noch immer werden ledige Mütter geächtet, zudem müsste sie dann auf ihr Studium verzichten.
Neben der leidenschaftlichen Liebesgeschichte der beiden spielt die sich langsam ändernde Rolle der Frau eine große Rolle in diesem Band. Henny steht mit ihrem Wunsch nach einem Studium und erfüllenden Berufsleben nicht mehr allein da und auch die Standesunterschiede verwischen immer mehr. Alles in allem eine gelungene Fortsetzung.