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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.06.2022

Große Leseempfehlung!

1979 - Jägerin und Gejagte
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Val McDermids neuer Roman markiert den Beginn einer fünfbändigen Reihe, in der uns die Autorin auf eine Reise in die Vergangenheit mitnehmen möchte. Im Zentrum steht Allie Burns, eine junge Journalistin, ...

Val McDermids neuer Roman markiert den Beginn einer fünfbändigen Reihe, in der uns die Autorin auf eine Reise in die Vergangenheit mitnehmen möchte. Im Zentrum steht Allie Burns, eine junge Journalistin, die im Auftaktband „1979“ ihre erste Stelle bei dem fiktiven Glasgower Boulevardblatt Clarion angetreten hat. Die Ähnlichkeiten mit McDermids Biografie sind nicht zufällig. Offenbar musste sie ähnliche Erfahrungen als junge Berufsanfängerin in einem von alten weißen Männern dominierten Arbeitsumfeld machen, das von Sexismus und Homophobie geprägt war. Denn auch sie verdiente bis 1991 ihre Speckbrötchen als Journalistin, bevor sie sich ab diesem Zeitpunkt ausschließlich dem Schreiben von Kriminalromanen widmete.

Ende der siebziger Jahre sind Journalistinnen in den Redaktionen noch die Ausnahme. Zwar gibt es sie vereinzelt, aber dann sollen sie sich nach Ansicht der männlichen Kollegen gefälligst um die Frauenthemen kümmern. Für persönliche Ambitionen bleibt da wenig Platz. Das gilt auch für Allie Burns. Aber sie ist ehrgeizig und sich ihrer Fähigkeiten bewusst, möchte endlich weg von diesen klassischen 3K-Themen, die man ihr immer aufs Auge drückt. Sie will investigativ arbeiten, die Titelseite mit einer Enthüllungsstory füllen. Unterstützt wird sie dabei von Danny, einem jungen Kollegen, der wie sie darauf brennt, sich einen Namen zu machen. Der erste Schritt in diese Richtung ist die gemeinsame Titelgeschichte über eine dubiose Anlageberatungsgesellschaft, für die sie sich die Anerkennung der arrivierten Journalisten verdienen. Und der nächste Scoop lässt nicht lange auf sich warten und steht in direktem Zusammenhang mit dem schottischen Referendum von 1979. Bei einer Veranstaltung der Scottish National Party belauscht Allie eine Unterhaltung, die sie vermuten lässt, dass ein Bombenanschlag geplant ist. Als Frau ist ihr der Zugang zu der Splittergruppe verwehrt, aber Danny gelingt es, das Vertrauen der Männer zu gewinnen…

Ja, es gibt einen Toten und natürlich auch die Suche nach dem Mörder. Aber „1979“ ist kein Kriminalroman, sondern die Chronik eines Jahres, in dem Großbritannien an einem Wendepunkt angelangt ist. Die Inflation liegt bei 17 %, als Gegenmaßnahme friert die Labour-Regierung unter PM Jim Callaghan die Löhne ein. Die Gewerkschaften sind empört, ermutigen ihre Mitglieder zum Dauerstreik. In Schottland und Wales gibt es Bestrebungen, Regionalparlamente einzusetzen. Und in Westminster lauern die Torys unter Margret Thatcher auf ihre Chance. Wir wissen, was dann geschehen ist.

McDermid schafft es, mit wenigen Pinselstrichen die siebziger Jahre wieder auferstehen zu lassen. Schreibmaschinengeklapper, übervolle Aschenbecher und zum Ausklang des Tages ein paar Gläser Famous Grouse. Dazu den einen oder anderen Musiktitel (am Ende des Buches ist eine Playlist zu finden), Verweise auf journalistische Vorbilder wie Woodward, Bernstein und Joan Didion, und nicht zu vergessen die Verbeugung vor William McIlvanney, Autor der Laidlaw-Trilogie und Vater des Tartan Noir.

Alles wohldosiert und unaufdringlich, nie auf Kosten der Story. Ist charmant nostalgisch und weckt Erinnerungen. Ein großer Wurf, der einmal mehr die besondere Begabung der schottischen Autorin vor Augen führt. Große Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 13.06.2022

Allzumenschliches

Milde Gaben
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Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass sich nicht nur die Touristen sondern auch die Kriminellen aus Venedig zurückgezogen haben. Tote Hose in der Questura, lediglich Kleinkram ohne besondere Relevanz. Kein ...

Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass sich nicht nur die Touristen sondern auch die Kriminellen aus Venedig zurückgezogen haben. Tote Hose in der Questura, lediglich Kleinkram ohne besondere Relevanz. Kein Grund für den Commissario einzugreifen. Doch dann taucht eine Besucherin aus der Vergangenheit in seinem Büro mit einem etwas seltsamen Anliegen auf. Elisabetta Foscarini, die ehemalige Nachbarstochter, fordert einen Gefallen von Brunetti ein. Sie ist besorgt und vermutet, dass ihr Schwiegersohn in zwielichtige Geschäfte verwickelt ist. Zumindest hat er ihrer Tochter gegenüber Andeutungen gemacht, dass auch sie in Gefahr sein könnte.

Der Commissario zögert, denn solche inoffiziellen Überprüfungen könnten ihn in große Schwierigkeiten bringen. Elisabettas überhebliche Art aus Teenagertagen ist ihm noch unangenehm in Erinnerung, aber auch die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit ihrer Mutter, die ohne großes Aufhebens in der Vergangenheit immer wieder seine Mutter unterstützt und dafür gesorgt hat, dass auch in Zeiten, in denen das Geld knapp war, ein ordentliches Essen auf dem Tisch der Brunettis stand. Glücklicherweise ist der Vice Questore aushäusig und so willigt der Commissario schließlich ein, die Geschäfte des Schwiegersohns etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Unterstützt wird er dabei wie immer von seinen üblichen Mitarbeitern Griffoni, Vianello und natürlich Signorina Elletra, die bei der Informationsbeschaffung wieder einmal jenseits der Legalität agiert.

„Milde Gaben“ präsentiert mit Venedig ein vertrautes Setting, auch wenn sich dieses im Lauf der Reihe verändert hat. Und nicht zum Besten. Die klassischen Geschäfte für den täglichen Bedarf der immer weniger werdenden Bewohner sind verschwunden, an ihrer Stelle gibt es jetzt Touristenkitsch aus Fernost. Palazzi wurden an zahlungskräftige Investoren verhökert, die bei ihren Umbaumaßnahmen deren historische Relevanz ignorieren. Geblieben ist die Gewissheit, dass das Venedig der Vergangenheit unaufhaltsam im Verschwinden begriffen ist. Und so, wie die alte Serenissima verschwindet, verlieren auch die alten Werte immer mehr an Bedeutung und/oder werden nur noch zum eigenen Vorteil genutzt.

Im Zentrum des Geschehens stehen einmal mehr die dehnbaren italienischen Gesetze samt der Lücken, die Betrügereien Tür und Tor öffnen und die Grenzen zwischen kriminellem und nicht-kriminellem Verhalten verwischen. Im speziellen Fall Brunettis wird dies ergänzt durch das vage Gefühl der persönlichen Verpflichtung, das ihn mit der gegebenen Zusage hadern lässt, wenn er wider besseres Wissen moralische Grenzen überschreitet und Regeln beugt, um einen eingeforderten Gefallen zu erweisen.

Die Frage nach Tat oder Täter rückt in den Hintergrund, ist in Leons Romanen eh meist nebensächlich. Sie konzentriert sich eher auf die individuellen und/oder die gesellschaftliche Auswirkungen, will Denkprozesse anstoßen.

Ein leiser Roman, wehmütig und fern jeder Hektik, der die richtigen Fragen stellt. Beantworten muss sie jeder selbst - nach bestem Wissen und Gewissen.

Veröffentlicht am 03.06.2022

Flanieren mit Herz und Hirn

Ein Bauch spaziert durch Venedig
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Was tun Touristen, wenn sie zum ersten Mal in einer Stadt sind, die sie noch nicht kennen? Bestenfalls schauen sie in dem Reiseführer nach Highlights, die man unbedingt gesehen haben muss, hetzen dann ...

Was tun Touristen, wenn sie zum ersten Mal in einer Stadt sind, die sie noch nicht kennen? Bestenfalls schauen sie in dem Reiseführer nach Highlights, die man unbedingt gesehen haben muss, hetzen dann von einem Ort zum anderen, machen ein Foto für die Daheimgebliebenen und das war‘s dann schon. Ein Flaneur hingegen spaziert entspannt durch die Straßen, schaut, riecht, hört, beobachtet, genießt mit allen Sinnen, bekommt ein Gefühl für das Drumherum, die Kultur, das Leben, die Menschen und verliebt sich vielleicht sogar leidenschaftlich in diese Stadt. So ist es zumindest mir mit London bei unzähligen Besuchen ergangen.

Vincent Klink, Sternekoch und Flaneur, hat diesen Herzensplatz für Venedig reserviert. Wer aber glaubt, dass sich ein Küchenchef nur für das interessiert, was auf dem Teller liegt, ist hier auf dem falschen Dampfer…ähm, auf dem falschen Vaporetto. Das heißt, wer Klinks Buch über Paris und/oder Wien nicht kennt und einen kulinarischen Reiseführer erwartet, sollte die Finger von „Ein Bauch spaziert durch Venedig“ lassen. Alle anderen sind zu einem sinnenfreudigen, informativen und von einem Kenner geführten Besuch der Lagunenstadt eingeladen.

Natürlich kommt auch die „Cucina Veneziana“ mit ihren typischen Gerichten nicht zu kurz, im Anhang gibt es dazu ein eigenes 11-seitiges Kapitel, sowie diverse in den Text eingestreute Rezepte. Aber der Großteil des Buches widmet sich der Baukunst und der Malerei, kenntnisreich durch Hintergrundinformationen ergänzt. Und auch die kritischen Anmerkungen zu dem überbordenden Tourismus mit seinen negativen Folgen und den dubiosen Praktiken der Verwaltung, die historische Kleinode an den Meistbietenden verschleudern, kommen zu ihrem Recht. Abgerundet werden die Stadtspaziergänge im Anhang durch eine separat aufgeführte Auswahl von Kirchen mit Kunst sowie einem ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis für die vertiefende Lektüre.

Fazit: Eine rundum gelungene Liebeserklärung an Venedig.

Veröffentlicht am 02.06.2022

Zurück an die Oberfläche

Das versunkene Dorf
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Dreißig Sekunden, eine Kugel…und plötzlich ist alles anders. Diese leidvolle Erfahrung muss Noémie Chastain machen, als ein Einsatz des Pariser Drogeneinsatzkommandos aus dem Ruder läuft. Der Verdächtige ...

Dreißig Sekunden, eine Kugel…und plötzlich ist alles anders. Diese leidvolle Erfahrung muss Noémie Chastain machen, als ein Einsatz des Pariser Drogeneinsatzkommandos aus dem Ruder läuft. Der Verdächtige schießt um sich, eine Kugel trifft die Kommissarin mitten ins Gesicht. Sie kann gerettet werden, doch trotz Operation bleibt die linke Seite entstellt. Zwar kämpft sie sich mit Hilfe eines Therapeuten ins Berufsleben zurück, muss aber nach ihrer Rückkehr feststellen, dass sie vorerst den Platz in ihrem Team verloren hat. Übergangshalber soll sie für einen befristeten Zeitraum im okzitanischen Département Aveyron eine Dienststelle überprüfen, die vor der Schließung steht. Die dortige Verbrechensrate tendiert gegen Null, die Personalkosten stehen in keinem Verhältnis dazu. So weit, so gut.

Doch kurz bevor ihre Zeit dort abgelaufen ist und die Rückkehr nach Paris ansteht, treibt in dem nahegelegenen Stausee von Avalone ein Plastikfass an die Oberfläche, in dem die verweste Leiche eines Kindes liegt. Und schon ist Noémie Chastain mitten in einem Fall, der nie aufgeklärt wurde. Als vor fünfundzwanzig Jahren das alte Dorf geflutet wurde, verschwanden drei Kinder spurlos, ob tot oder entführt, konnte nicht geklärt werden. Es gab zwar einen verdächtigen Wanderarbeiter, aber keine Beweise für seine Beteiligung, und das Schicksal der Kinder konnte nicht geklärt werden. Bis jetzt, auch wenn die Kommissarin gegen den Widerstand der Dörfler ermitteln muss, die eine Mauer des Schweigens um die Vergangenheit errichtet haben. Aber noch weiß sie nicht, dass sie sich damit in große Gefahr begibt.

Das titelgebende „versunkene Dorf“ als Schauplatz für diesen gleichnamigen Kriminalroman zu wählen, bringt eine ganz besondere Atmosphäre mit sich. Packende Spannung, mit jeder Menge falscher Fährten. Geheimnisvoll und etwas gruselig, wenn man darüber nachdenkt, welche Geschichten, welche Schicksale mit den Wasserfluten untergegangen sein könnten. Norek fängt dies mit stimmungsvollen, aber nie banalen Beschreibungen ein, macht oft nur Andeutungen und überlässt es der Fantasie des Lesers, die Leerstellen zu füllen. Bei der Beschreibung der Polizeiarbeit hingegen ist er sehr präzise und realitätsnah, was nicht weiter verwundert, da er ausgebildeter Polizist ist und auch achtzehn Jahre in diesem Beruf gearbeitet hat.

„Surface“, so der Originaltitel dieses Kriminalromans, wurde verdientermaßen mit dem Prix Maison de la Presse, dem Prix Relay, dem Prix Babelio-Polar und dem Prix de l'Embouchure ausgezeichnet. Nachdrückliche Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 02.06.2022

Die dunkle Seite der Bretagne

Der Dachs
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Seit einiger Zeit haben Urlaubskrimis Hochkonjunktur. Schaut man sich die beschriebenen Handlungsorte genauer an, wird man feststellen, dass die meisten davon in Frankreich und dort im Süden, oft in der ...

Seit einiger Zeit haben Urlaubskrimis Hochkonjunktur. Schaut man sich die beschriebenen Handlungsorte genauer an, wird man feststellen, dass die meisten davon in Frankreich und dort im Süden, oft in der Provence zu finden sind. Aber dann gibt es ja noch die Bretagne im Nordwesten, die seit der Kommissar-Dupin-Reihe von Jean-Luc Bannalec aka Jörg Bong kontinuierlich steigende Beachtung erfahren hat.

Die Zutaten dieser regionalen Krimis gleichen sich: Sympathische Ermittler*innen aus der Großstadt, die freiwillig oder gezwungenermaßen neu starten, pittoreske Dörfer, hilfsbereite Bewohner, landestypische Kulinarik und relativ simpel gestrickte Fälle. Allerdings haben letztere durch die Ortskenntnis Bannalecs fast schon Reiseführerqualitäten. Es gibt zwar Tote, aber auf explizite Gewaltdarstellungen und die Einbindung politischer Themen wird weitgehend verzichtet. Immer schön cosy ist die Parole.

Aber es geht glücklicherweise auch anders, wie ein Autor beweist, den ich bisher noch nicht auf dem Schirm hatte. Christian Buder zeigt in „Der Dachs“ die dunkle Seite der Bretagne, die wir so bisher noch nicht präsentiert bekommen haben, und das beschreibt er sprachgewandt und ziemlich noir, clever, komplex und sehr spannend.

Handlungsort ist ein bretonisches Fischerdorf, Hauptfigur Ronan Prad von der Gendarmerie Maritime. Ein Bürgermeister, dessen Security aus Fremdenlegionären besteht. Ein Fischer, der samt Boot spurlos verschwunden ist, ein Schicksal, das er mit Prads Frau teilt. Zwei Tote, die am Strand angespült werden, ein Schiffswrack voller Leichen. Alle Toten haben in „La Jungle“, dem berüchtigten Flüchtlingslager in Calais auf eine Passage nach London gewartet, das Prad daraufhin genauer unter die Lupe nimmt. Aber einigen Menschen mit Macht und Einfluss passt das so gar nicht in den Kram.

Ein Protagonist mit Ecken und Kanten, faszinierende und bildgewaltige Beschreibungen dieses rauen Landstrichs, die die Kraft des Meeres ahnen lassen, mehrere miteinander verwobene Fälle, in die politische Entscheidungsträger verwickelt sind, ein furioses Finale. Lesen!