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Veröffentlicht am 11.09.2022

Brasilien, Mitte des 20. Jahrhunderts

Die Stimme meiner Schwester
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In Itamar Vieira Juniors "Die Stimme meiner Schwester" erzählen die beiden Schwestern Bibiana und Belonísia im Wechsel aus ihrem Leben im ländlichen Brasilien Mitte des 20. Jahrhunderts. Würde diese Zeitangabe ...

In Itamar Vieira Juniors "Die Stimme meiner Schwester" erzählen die beiden Schwestern Bibiana und Belonísia im Wechsel aus ihrem Leben im ländlichen Brasilien Mitte des 20. Jahrhunderts. Würde diese Zeitangabe nicht in der Ankündigung des Verlages erwähnt und würden im Buch nicht Autos und Motorräder vorkommen, könnte man auch denken, dass das Buch im 18. oder 19. Jahrhundert spielt. Die Menschen auf den Plantagen leben ein an Sklaverei oder Leibeigenschaft erinnerndes Leben unter primitiven Umständen - selbst um eine Schule muss mit den Besitzern der Plantage gekämpft werden. Für mich waren diese Lebensumstände der Nachkommen tatsächlicher Sklav*innen in ihrer Ungerechtigkeit und Ausweglosigkeit erschütternd zu lesen.
Zu dieser Beschreibung der Lebensumstände gesellt sich noch Mystik und Symbolik - der eigentliche Handlungsbogen ist dabei allerdings sehr überschaubar.
Wer ein eindrückliches und wie ich denke authentisches Bild vom Leben der von Sklaven abstammenden Bevölkerung Brasiliens bekommen möchte, ist mit diesem Buch sehr gut beraten.

Veröffentlicht am 01.08.2022

Kiew 1919

Samson und Nadjeschda
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Vom Diogenes-Verlag wird "Samson und Nadjeschda" auch als Krimi angekündigt. Ein Krimi ist es aber nur bedingt. Der Protagonist Samson wird zwar im Laufe des Buches Polizist und beschäftigt sich dadurch ...

Vom Diogenes-Verlag wird "Samson und Nadjeschda" auch als Krimi angekündigt. Ein Krimi ist es aber nur bedingt. Der Protagonist Samson wird zwar im Laufe des Buches Polizist und beschäftigt sich dadurch mit einer Einbruch- und Mordserie, aber vor allem nimmt der Autor Andrej Kurkow sich Zeit, seine Charaktere einzuführen (es soll wohl eine Krimiserie werden) und den Handlungsort Kiew im Jahr 1919 zu beschreiben. Für mich ist das Buch deshalb in erster Linie eine Charakterisierung der Zeit, in der die Bolschewiken auch in Kiew die Macht übernahmen. Die Beschreibung des fragilen Alltags der Menschen in Kriegszeiten lässt einen beim Lesen auch immer wieder an die derzeitige Situation der Menschen in der Ukraine denken, was die Lektüre manchmal bedrückender macht, als sie wahrscheinlich vom Autoren während des Schreibens gedacht war. In jedem Fall fand ich die Beschreibung der Nöte, der Unsicherheiten, der Kuriositäten, der Zufälle in Zeiten des Umbruchs sehr interessant dargestellt.
Wer in erster Linie einen spannenden Krimi sucht, ist mit diesem Buch schlecht beraten. Wen auch die historischen Hintergründe interessieren, wird hier intelligent unterhalten.

Veröffentlicht am 15.07.2022

Drei nigerianische Frauen

Freundin bleibst du immer
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Eine Dreier-Freundschaft ist immer eine Herausforderung und auch Funmi, Enitan und Zainab haben es oft nicht leicht miteinander, sind schließlich auch räumlich getrennt – dennoch hat ihre Freundschaft ...

Eine Dreier-Freundschaft ist immer eine Herausforderung und auch Funmi, Enitan und Zainab haben es oft nicht leicht miteinander, sind schließlich auch räumlich getrennt – dennoch hat ihre Freundschaft über Jahrzehnte Bestand.
Tomi Obaro hat in ihrem Debüt "Freundin bleibst du immer" drei Frauenfiguren geschaffen, deren Unterschiedlichkeit auf die Spitze getrieben wird – da kann man evtl. die Frage stellen, wie wahrscheinlich diese Freundschaft im echten Leben wäre. Man kann das aber auch einfach als sich anbietenden dramaturgischen Kniff akzeptieren, der ermöglicht, ein breites (wenn natürlich auch nicht vollständiges) Bild der nigerianischen Gesellschaft zu zeichnen. Man merkt dem Buch zwar an, dass es für ein ausländisches (bzw. nicht-nigerianisches) Publikum geschrieben wurde, aber die Autorin Tomi Obaro hat das meiner Meinung nach gut umgesetzt: nie wird es belehrend, sondern stattdessen erfährt man nebenbei mehr vom Alltag in Nigeria, den Traditionen, der Geschichte, dem religiösen Miteinander. Das Glossar am Ende des Buches hilft dabei, unbekannte Begriffe einzuordnen.

Ich fand "Freundin bleibst du immer" eine abwechslungsreiche, lohnende Geschichte, bei der ich ein mir unbekanntes Land ein Stück weit kennengelernt habe.

Den deutschen Titel "Freundin bleibst du immer" finde ich etwas sperrig, aber er passt dennoch besser zu diesem Buch als der Original-Titel "Dele Weds Destiny", lenkt er doch den Fokus auf die Freundschaft der drei Frauen.

Veröffentlicht am 18.06.2022

Gelungen

Neptun 1986
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Wenn man im Sommerurlaub durch Warnemünde schlendert, erinnert (außer der Beschaffenheit einiger Bürgersteige) so gut wie nichts an die DDR – auch das Hotel Neptun könnte so genauso gut im Westen stehen. ...

Wenn man im Sommerurlaub durch Warnemünde schlendert, erinnert (außer der Beschaffenheit einiger Bürgersteige) so gut wie nichts an die DDR – auch das Hotel Neptun könnte so genauso gut im Westen stehen. Umso interessanter, sich die Vergangenheit anhand eines Romans vor Augen zu führen.
Frank Granitz hat in "Neptun 1986" eine Geheimdienst- mit einer Liebesgeschichte verknüpft, was dem Buch gut tut. Die Geheimdienstgeschichte wäre sonst auf Dauer etwas trocken und unergiebig - dadurch vielleicht aber zugleich auch sehr realistisch. Zudem hatte ich etwas Probleme, das Nebenpersonal an Beteiligten aus den verschiedenen Lagern auseinander zu halten. Ansonsten aber gut und flüssig lesbar. Mit der unkitschigen Liebesgeschichte ergibt sich zudem eine abwechslungsreiche Geschichte, in der auch der DDR-Alltag greifbar wird, ohne dass sich hier an Klischees abgearbeitet wird.
Zu erwähnen ist vielleicht noch, dass es sich um eine fiktive Geschichte mit realen Einflüssen handelt – das führt der Autor in seinem Nachwort noch genauer aus.

Veröffentlicht am 13.04.2022

Deutsche Nachkriegsgesellschaft

Als das Leben wieder schön wurde
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Greta, Anfang 20, kommt 1954 auf der Suche nach ihrer Vergangenheit aus Stockholm nach Hamburg. Im folgenden halben Jahr krempelt sie nicht nur die Leben ihrer Familienmitglieder und neuen Freund*innen ...

Greta, Anfang 20, kommt 1954 auf der Suche nach ihrer Vergangenheit aus Stockholm nach Hamburg. Im folgenden halben Jahr krempelt sie nicht nur die Leben ihrer Familienmitglieder und neuen Freund*innen um, sondern wird auch selbst erwachsen und findet ein Stück zu sich selbst.
Es ist nicht nur die Geschichte einer jungen Frau und eines ungewöhnlichen Schönheitssalons, sondern auch ein gelungener Rundumschlag zur deutschen Nachkriegszeit und -gesellschaft. Dadurch dass man als Leserin den Blickwinkel der aus Schweden kommenden, unbedarften Greta einnimmt, gelingt es der Autorin, das Nachkriegsdeutschland zu beschreiben, ohne dass es oberlehrerhaft wirkt. Tragische Elemente wechseln sich mit eher unbeschwerten ab – eine gute Mischung.
Für mich gelungene Unterhaltungsliteratur mit Niveau!