Gut geschrieben
Die verlorenen Kinder von Paris"»𝓑abys. Warum verhaften sie Babys?« […] Warum verhaften sie überhaupt Menschen? Mütter, Väter, Alte, Kranke? Sie kannte natürlich die Antwort. Weil sie alle des Verbrechens schuldig waren, Juden zu sein. ...
"»𝓑abys. Warum verhaften sie Babys?« […] Warum verhaften sie überhaupt Menschen? Mütter, Väter, Alte, Kranke? Sie kannte natürlich die Antwort. Weil sie alle des Verbrechens schuldig waren, Juden zu sein. Es gab keine rationale Antwort auf ihr Warum. Der Hass siegte über die Vernunft."
𝓑asierend auf dem Leben von Madeleine Lévy, der Enkelin von Alfred Dreyfus (der aufgrund eines Justizskandals im 19. Jahrhundert zu trauriger Berühmtheit gelangt war) und angereichert mit fiktiven Elementen, erzählt dieser eindrucksstarke Roman aus der Feder von Gloria Goldreich von einer unheimlich mutigen jungen Frau, die aktiv im französischen Widerstand tätig war.
𝓓ie studierte Sozialarbeiterin Madeleine, nach einer Scharlacherkrankung im Alter von 8 Jahren leicht schwerhörig, ist Mitglied der jüdischen Pfadfinder und bereitet zahlreiche Kinder auf eine Flucht aus Frankreich vor. Hitlers Armee rückt näher und mit jedem Tag hört man schrecklichere Berichte über die Grausamkeit der Deutschen. Madeleine ist selbst noch sehr jung, hat noch nie romantische Gefühle erlebt; in ihren guten Freund Claude könnte sie sich vielleicht verlieben - doch in Zeiten des Krieges ist Hoffnung auf ein späteres Glück ein Luxus, dem man sich nur bedingt hingeben darf.
𝖶𝖺𝗌 𝗂𝖼𝗁 𝗀𝖾𝗋𝗇𝖾 𝗆𝗈𝖼𝗁𝗍𝖾:
𝓓ie genretypische Covergestaltung, Madeleines Beziehung zu ihrer Schwester Simone (überhaupt ihre Verbundenheit zu ihrer Familie) sowie viele emotionale, beinahe schon poetisch formulierte Passagen, die zum Nachdenken anregen, haben mir sehr gefallen.
𝓜adeleine kann wundervoll mit Kindern umgehen, man spürt, wie sehr ihr ihre Schützlinge am Herzen liegen. "Sie dachte an ihre strahlenden Gesichter, ihre niedlichen Kinderstimmen, und die Angst erdrückte sie fast." Speziell in Anna sieht sie eine Art kleine Schwester. Die Rettung der Kinder bedeutet ihr alles - eine Tatsache, die ich so gut nachvollziehen konnte.
𝓓ie Nebenfiguren waren überzeugend ausgearbeitet und sympathisch.
𝖶𝖺𝗌 𝗆𝗂𝗋 (𝗇𝖾𝗎𝗍𝗋𝖺𝗅) 𝖺𝗎𝖿𝗀𝖾𝖿𝖺𝗅𝗅𝖾𝗇 𝗂𝗌𝗍:
𝓟atriotismus schön und gut, doch innerhalb der ersten paar Kapitel wurde mir die Marseillaise ein wenig zu häufig angestimmt.
𝓓en Buchtitel fand ich unpassend - nicht tragisch, aber eben leicht irreführend, da a) die jüdischen Kinder nicht klar im Vordergrund stehen und wir weniger von ihnen lesen (mit Ausnahme der kleinen Anna), als ich gehofft hatte, und b) ein Großteil der Handlung sich nicht in Paris abspielt.
𝖶𝖺𝗌 𝗆𝗂𝗋 𝗇𝗂𝖼𝗁𝗍 𝗀𝖾𝖿𝖺𝗅𝗅𝖾𝗇 𝗁𝖺𝗍:
𝓢o sehr ich Madeleines Mut wahrhaftig bewunderte, ich konnte beim Lesen keine richtige Beziehung zu ihrer Figur aufbauen (dasselbe gilt für die Dynamik, die aufkeimende Romanze zwischen ihr und Claude). Ich mochte Madeleine, ehrlich, sie hat ganz wundervolle, bemerkenswerte Charakterzüge, aber irgendwie wollte der Funke partout nicht überspringen. Vielleicht lag es daran, dass andere Figuren immer wieder (auch direkt im Dialog mit ihr) ihre Tapferkeit und Stärke betonten ("»Es ist bekannt, dass die Frauen der Familie Dreyfus stark sind. Stark und tapfer.«"; "[…] meine tapfere Madeleine" etc. - hinzu kommt, dass ich es generell nicht mag, wenn Figuren im Gespräch ständig den Vornamen des Gegenübers erwähnen) … irgendwann wurde es mir mit all dem Lob zu viel. Gut möglich, dass dies einfach etwas war, was mich schreibtechnisch nicht ansprach und sich indirekt auf meinen Gesamteindruck von Madeleine als Figur übertragen hat. Trotzdem tat es mir von Herzen leid, dass diese selbstlose, liebenswerte, aufrichtige, engagierte junge Frau sich aufgrund der sie umgebenden Kriegsgräuel beinahe schon schämte, wann immer sie einen schönen Moment erlebte; zu bedeutungslos erscheinen ihr die eigenen Belange im Vergleich mit jüdischen Flüchtlingen, die den Terror von Hitlers Schergen erdulden mussten.
𝐅𝐚𝐳𝐢𝐭: 4 ✰ ✰ ✰ ✰
Eine Empfehlung für alle Leser:innen von authentischen historischen Romanen. Das Buch ist definitiv gut geschrieben, an meine Lieblingswerke aus diesem Genre reicht es aber nicht ganz heran.