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Veröffentlicht am 07.07.2022

Ein zeitloser Klassiker

Alice im Wunderland
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Den Inhaltsteaser zu „Alice im Wunderland“ spare ich mir dieses Mal. Die Geschichte über das Mädchen, das dem Weißen Kaninchen ins Wunderland folgt, kennt wahrscheinlich jede*r – zumindest in Grundzügen ...

Den Inhaltsteaser zu „Alice im Wunderland“ spare ich mir dieses Mal. Die Geschichte über das Mädchen, das dem Weißen Kaninchen ins Wunderland folgt, kennt wahrscheinlich jede*r – zumindest in Grundzügen – aus verschiedenen filmischen Adaptionen. Erzählt wird „Alice im Wunderland“ von einem auktorialen Erzähler, der von Alices Abenteuer im Wunderland berichtet. Alice ist eine spannende Figur: Einerseits ist sie noch kindlich-naiv, andererseits hat sie – im Vergleich zu den schrägen Wunderland-Figuren – eine gewisse Weitsicht und Schläue. Oftmals spiegelt sie den Wunderland-Figuren deren absurdes Verhalten, was zu einigen komischen Szenen führt. Die Handlung dreht sich um die Abenteuer, die Alice im Wunderland erlebt. Diese werden in einer episodischen Struktur erzählt: Meist stolpert Alice von einem Abenteuer in das nächste. Da jedes Abenteuer weitgehend losgelöst von dem vorherigen ist, kommt es zu einem häufigen Wechsel des Handlungsortes bzw. des Figurenpersonals. Drei Momente durchziehen aber die gesamte Handlung von „Alice im Wunderland“. Zunächst ist das ganze Buch sehr fantasievoll: Die seltsamsten Geschöpfe treten an den ungewöhnlichsten Orten auf und machen die schrägsten Dinge. Weiterhin trumpft „Alice im Wunderland“ mit einem besonderen Humor auf. Dieser zeigt sich besonders in den Gesprächen zwischen Alice und den Wunderland-Figuren, in denen permanent mit der Lücke zwischen Alices von Rationalität geprägter Welt und dem Wunderland, in dem wenig logisch verläuft, gespielt wird. Generell sind die Szenen mit viel Witz ausgestattet, wobei ich aber teilweise das Gefühl hatte, dass der Humor aus der heutigen Perspektive nicht mehr so eingängig ist. Der besondere Witz einzelner Szenen ist vermutlich durch die zeitliche Distanz verloren gegangen (so werden bspw. Gedichte verballhornt, die zur Zeit von Lewis Carroll bekannt waren, die aber heute weitgehend vergessen sind.) Zuletzt zeichnet sich „Alice im Wunderland“ durch einen Hang zum Non-Sens aus. Wenig macht hier Sinn: Alices Weg durchs Wunderland ist durch Zufall bestimmt, Alice und die Wunderland-Figuren reden fast permanent aneinander vorbei und mehrere Figuren sind schräg. Dieser Non-Sens ist es, was – damals wie heute – den besonderen Reiz von „Alice“ ausmacht. „Alice im Wunderland“ will unterhalten, die Lesenden in ein wunderreiches Land entführen, und nicht moralisch belehren. Die Ausgabe des Insel Verlags ist ausgestattet mit den originalen „Alice“-Illustrationen von John Tenniel. Abgerundet wird die Ausgabe durch ein Nachwort von Christian Enzensberger, der kurz in Leben und Werk von Lewis Carroll/Charles Lutwidge Dodgson einführt.

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Veröffentlicht am 07.07.2022

Ein spannender Reihenauftakt mit liebenswürdigen Figuren

ROTGOLD: Jung bis zum letzten Tag
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Inhalt: Die beiden Journalisten Elijah und Beth haben es geschafft: Durch ihr Onlinemagazin „Der Schreibfuchs“ haben sie sich einen so großen Namen gemacht, dass „Die Tageszeile“, eine der renommiertesten ...

Inhalt: Die beiden Journalisten Elijah und Beth haben es geschafft: Durch ihr Onlinemagazin „Der Schreibfuchs“ haben sie sich einen so großen Namen gemacht, dass „Die Tageszeile“, eine der renommiertesten Zeitungen, auf sie aufmerksam geworden ist und sie als Volontäre einstellt. Ihre erste Aufgabe ist ein Interview mit Marla Bates, dem neuen Werbegesicht von RotGold. Doch Marla wirkt beim Interview fahrig, gestresst und unter Druck gesetzt. Als sie Elijah zum Ende des Interviews dann auch noch einen versteckten Hilferuf sendet, steht für Elijah und Beth fest: Sie müssen Marla aus den Fängen von RotGold befreien…

Persönliche Meinung: „RotGold – Jung bis zum letzten Tag“ von Helena Weber ist der Auftakt einer neuen Trilogie. Erzählt wird der Roman im Wechsel aus verschiedenen personalen Erzählperspektiven (u.a. Beth, Elijah, Marla und Will, dem Bruder von Elijah), wodurch die Handlung ein schönes Tempo gewinnt. Die Figuren sind authentisch und dreidimensional ausgestaltet: Jede Figur hat eine eigene Persönlichkeit (inklusiver eigenem Kopf und kleineren Macken), die sie individuell macht und von den anderen Figuren unterscheidet. Sehr gut haben mir auch die lebendigen, häufig mit Witz gepaarten Dialoge zwischen den Figuren gefallen. „RotGold“ vereint Elemente verschiedener Genres in sich. Die Welt, die auf den ersten Blick unserer gar nicht so unähnlich scheint, offenbart – je weiter die Handlung voranschreitet – dystopische Züge: Dominiert wird die Welt durch das Unternehmen RotGold, das im Hintergrund als graue Eminenz arbeitet. Dieses Unternehmen hat ein Schönheitselixier entwickelt, das – zumindest äußerlich – ewige Jugend verspricht (originell fand ich übrigens, wie das Elixier hergestellt wird, aber das möchte ich hier nicht verraten). Es befürwortet allerdings nicht jede*r die Arbeit von RotGold, sodass die Gesellschaft gespalten ist. Wie weit der Einfluss von RotGold reicht und worin es noch verwickelt sein könnte, wird in „RotGold – Jung bis zum letzten Tag“ schon angedeutet, weshalb ich vermute, dass in den Folgebänden der Dystopieanteil weiter zunehmen wird. Daneben finden sich in „RotGold – Jung bis zum letzten Tag“ auch Krimi-/Politthriller-Elemente. Denn: Will, der Bruder von Elijah, arbeitet als Polizist und muss einen Mordfall aufklären, der ihn in den Dunstkreis von RotGold führt. Weiterhin sind auch Liebesgeschichten in die Handlung eingewoben: Dabei keimt eine Liebesbeziehung gerade auf; die andere wird neu entfacht. Durch diese Vermischung verschiedener Genres ist die Handlung abwechslungsreich, nicht leicht zu erahnen und spannend. Was mir ebenfalls sehr gut gefallen hat, ist, dass in „RotGold“ auch gesellschaftlich relevante Themen diskutiert werden (besonders das in Werbung häufig vermittelte Schönheitsideal „Jugendlichkeit“). Der Schreibstil von Helena Weber lässt sich angenehm und flüssig lesen. Abgerundet wird die Ausgabe durch schöne schwarz-weiß Illustrationen der Protagonisten, die dem Text vorangestellt sind. Insgesamt ist „RotGold – Jung bis zum letzten Tag“ ein spannender Reihenauftakt mit einer abwechslungsreichen Handlung und liebenswürdigen Protagonisten.

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Veröffentlicht am 03.07.2022

Ein spannender Thriller mit einer tollen Atmosphäre

Das Haus der stummen Toten
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Inhalt: Als ihre Großmutter Vivianne ermordet wird, bricht für Eleanor eine Welt zusammen. Nicht nur muss sie mit dem Verlust zurechtkommen; gleichzeitig macht sie sich Vorwürfe: Sie konnte einen kurzen ...

Inhalt: Als ihre Großmutter Vivianne ermordet wird, bricht für Eleanor eine Welt zusammen. Nicht nur muss sie mit dem Verlust zurechtkommen; gleichzeitig macht sie sich Vorwürfe: Sie konnte einen kurzen Blick auf den Mörder erhaschen, allerdings ist es ihr aufgrund ihrer Gesichtserkennungsschwäche unmöglich, sein Gesicht zu verbildlichen. Einige Zeit nach dem Tod von Vivianne erhält Eleanor einen Anruf von einem Notar: Ihre Großmutter hat ihr Solhöga, einen Gutshof, der schon lange in Familienbesitz ist, vermacht. Gemeinsam mit ihrem Freund, dem Notar und ihrer Tante möchte Eleanor den Nachlass verwalten – doch sie sind nicht die einzigen, die sich auf dem einsam gelegenen Gutshof befinden…

Persönliche Meinung: „Das Haus der stummen Toten“ ist ein Thriller von Camilla Sten. Es handelt sich um einen Stand-Alone-Roman, der sich unabhängig von Stens „Das Dorf der toten Seelen“ lesen lässt. Erzählt wird der Thriller von zwei verschiedenen Ich-Erzählerinnen auf zwei wechselnden Zeitebenen. In der Gegenwart begleiten wir Eleanor, die versucht, dem Geheimnis von Solhöga nachzuspüren. Hier führen besonders zwei Elemente zu einer schönen Spannungskurve: Einerseits geschehen auf Solhöga immer wieder mysteriöse Vorfälle: Dinge verschwinden, der Gutsverwalter ist nicht auffindbar, eine (unbekannte) Person scheint durch das Anwesen zu schleichen. Andererseits leidet Eleanor unter Prosopagnosie (Gesichtsblindheit): Sie kann Personen nicht intuitiv an ihrem Gesicht erkennen und ist dem Gegenüber dadurch immer bis zu einem gewissen Grad ausgeliefert. Dadurch steht Eleanor permanent unter Stress, was lebendig dargestellt wird. Aber auch auf der Handlungsebene führt die Gesichtsblindheit zu einem spannenden Umstand: Da sie das Gesicht des Mörders nicht erfassen konnte, kann jede Figur potentiell der Mörder sein. Der zweite Erzählstrang spielt in den 1960er Jahren. In Form von Tagebucheinträgen lernen wir Annuschka kennen, die aus Polen emigriert ist, um auf Solhöga als Hausangestellte zu arbeiten. Spannung entsteht besonders dadurch, dass beide Handlungsstränge zunächst losgelöst voneinander voranschreiten, sodass man sich permanent fragt, wie der Zusammenhang beider ist. Sukzessiv erfährt man aber immer mehr über Annuschka, sodass sich mosaikartig ein Gesamtbild ergibt. Sehr gut hat mir auch die atmosphärische Beschreibung von Solhöga gefallen. Das Gutshaus ist verwinkelt, verbirgt das ein oder andere Geheimnis und besitzt eine latent bedrohliche Aura. Hinzu kommt, dass während der Eleanor-Handlung ein Schneesturm einsetzt, sodass Solhöga immer mehr zu einer Falle für die Protagonisten wird. Zur Handlung möchte ich ansonsten gar nicht zu viel verraten. Nur: Sie ist spannend, wendungsreich und trumpft mit einem nicht zu erahnenden Twist auf. Der Schreibstil von Camilla Sten ist bildhaft, lebendig und lässt sich sehr flüssig lesen. Die spannende, atmosphärische Handlung, die vielen Wendungen und der tolle Schreibstil führen dazu, dass man „Das Haus der stummen Toten“ nur so verschlingt (Ich habe es an einem Tag fast am Stück gelesen 😅). Kurzum: ein richtiger Pageturner!

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Veröffentlicht am 01.07.2022

Ein wendungsreicher Spannungsroman mit einem überraschenden Ende

Talberg 2022
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Inhalt: Talberg, 2022. Sintflutartige Regenfälle ergießen sich über das kleine Dorf im bayerischen Wald – und bringen einen schrecklichen Fund zu Tage: die Knochen eines Kindes, versteckt im Wurzelwerk ...

Inhalt: Talberg, 2022. Sintflutartige Regenfälle ergießen sich über das kleine Dorf im bayerischen Wald – und bringen einen schrecklichen Fund zu Tage: die Knochen eines Kindes, versteckt im Wurzelwerk einer Buche. Schnell macht eine Vermutung im Dorf die Runde: Handelt es sich um die Gebeine des Hirscher-Jungen, der in den 1930er Jahren spurlos aus Talberg verschwand? Es gilt an Adam Wegbauer, der sein Dasein als Dorfpolizist Talbergs fristet, dies zu klären. Seine Ermittlungen führen ihn nicht nur in die Vergangenheit Talbergs, sondern reißen auch alte, schlecht verheilte Wunden auf…

Persönliche Meinung: „Talberg 2022“ ist ein Spannungsroman/Krimi von Max Korn. Chronologisch bildet „Talberg 2022“ zwar den Abschluss der Talberg-Trilogie, allerdings kann der Roman auch ohne Kenntnis der beiden Vorgänger „Talberg 1935“ und „Talberg 1977“ gelesen werden: Die Handlungen der drei Romane sind losgelöst voneinander, das Figurenpersonal ist weitgehend ein anderes und kein Roman spoilert den anderen, sodass die Bücher in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können. Erzählt wird „Talberg 2022“ in zwei Teilen: „Buch Adam“ und „Buch Eva“. In „Buch Adam“ wird die Perspektive Adam Wegbauers eingenommen. Im Fokus stehen hier seine Ermittlungen im Fall der freigespülten Knochen. Zugleich wird allerdings die nicht immer einfache Kindheit/Jugend Adams mithilfe von Zeitsprüngen sequenzartig beleuchtet. Spannend an „Buch Adam“ ist – neben der großen Frage nach der Identität der Leiche –, dass Adam ein Trauma in sich trägt, das er allerdings nicht wirklich greifen kann. Somit weiß man als Leser*in nie so ganz, mit wem man es bei Adam tatsächlich zu tun hat. Im zweiten Teil, „Buch Eva“, wird hauptsächlich die Perspektive der titelgebenden Eva eingenommen. Wer dies ist und was in diesem Abschnitt passiert, möchte ich nicht spoilern. Wie schon die beiden vorherigen Talberg-Romane wird auch „Talberg 2022“ atmosphärisch dicht erzählt. Besonders hervorzuheben ist dabei die Darstellung des von Misstrauen geprägten dörflichen Mikrokosmos und die Beschreibung des starken Unwetters, die während des Lesens frösteln lässt. Stärker als „Talberg 1935“ bzw. „1977“ orientiert sich „Talberg 2022“ an der typischen Krimistruktur. Der Fall (und die Ermittlungen in diesem) stehen im Fokus; es gibt insgesamt weniger Nebenschauplätze und Perspektiven, sodass die Handlung konzentrierter ist. Die Handlung besitzt eine schöne Spannungskurve, ist wendungsreich und endet überraschend. Sehr schön ist auch das epilogartige letzte Kapitel, in dem ein großes Fragezeichen zu einem versöhnlichen Ende geführt wird. Insgesamt ist „Talberg 2022“ ein fesselnder, wendungsreicher Spannungsroman, der sich stimmig in die Talberg-Reihe einfügt.

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Veröffentlicht am 24.06.2022

Acht Liebesgeschichten, in denen gleichzeitig die Gesellschaft kritisch durchleuchtet wird

Liebesspiele
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„Liebesspiele“, herausgegeben von Christian Strich, versammelt acht Erzählungen von Heinrich Mann, die sich um das Thema „Liebe“ drehen. Im Folgenden stelle ich jede Erzählung kurz und spoilerfrei vor. ...

„Liebesspiele“, herausgegeben von Christian Strich, versammelt acht Erzählungen von Heinrich Mann, die sich um das Thema „Liebe“ drehen. Im Folgenden stelle ich jede Erzählung kurz und spoilerfrei vor. Den Beginn macht „Der Unbekannte“. Im Mittelpunkt der Erzählung steht Raffael, ein Jüngling, der für seine ältere, verheiratete Nachbarin schwärmt. Erzähltechnisch schön gemacht ist, wie sich diese Schwärmerei sukzessiv steigert: Mehrmals deutet Raffael in seiner noch kindlichen Naivität Dinge falsch, erträumt sich so bereits die gemeinsame Zukunft mit der Nachbarin – was permanent durch den auktorialen Erzähler gebrochen wird. So sind die Lesenden Raffael immer einen Schritt voraus; seine Naivität liegt offen, was zur Tragik der Erzählung beiträgt. Die zweite Erzählung „Die Szene“ dreht sich um ein Liebespaar, das sich in einem Trennungsprozess befindet. Buchstäblich handelt die Erzählung von einer schauspielerischen Szene, die dem Trennungsprozess eine besondere Wendung gibt. Es folgt „Liebesspiele“, neben „Die Szene“ eine der kürzeren Erzählungen. „Liebesspiele“ fokussiert eine Dreiecksbeziehungen, in der es um Machtkämpfe geht. Wie auch „Die Szene“ endet „Liebesspiele“ mit einer schönen Wendung. „Gretchen“ ist eine humorige Erzählung, in der die titelgebende Figur mit ihrem Verlobten unzufrieden ist. Die Erzählung endet in einer kleinen Eulenspiegelei. „Suturp“, die fünfte Erzählung, behandelt erneut eine Dreiecksbeziehung: Der Rechtsanwalt Belling begibt sich in die finanzielle Abhängigkeit von dem Herrn von Elchem, um sich und seiner Frau Franziska eine standesgemäße Zukunft zu ermöglichen. Von Elchem allerdings strebt schon seit längerem eine Beziehung zu Franziska an, sodass die finanzielle Unterstüzung von von Elchem für Belling zu einem Teufelspakt wird. Es liegt an Franziska, Belling aus diesem zu retten. „Suturp“ ist insgesamt eine ausgefeilt komponierte Erzählung, die mehrere Wendungen bereithält. Neben dem großen Thema „Liebe“ verbirgt sich in den fünf bisher besprochenen Erzählungen – teils offensichtlicher, teils versteckter – ein weiteres Thema: die bürgerliche Moralvorstellung. Heinrich Mann arbeitet sich an dieser ab, geht mal leichtherzig und augenzwinkernd vor, mal ernst; immer entlarvt er sie als Doppelmoral. In den folgenden drei Erzählungen geht er sogar noch einen Schritt weiter: Hier werden nicht allein die scheinheiligen Moralvorstellungen kritisiert, sondern die Gesellschaft als gesamtes. So spielen in der sechsten Erzählung „Eine Liebesgeschichte“ nicht nur antiquierte Wertvorstellungen eine Rolle, sondern auch die sich schrittweise radikalisierende Kriegsgesellschaft des 1. Weltkrieges. Vor diesem Hintergrund entfaltet Mann eine Liebesgeschichte, die nicht tragischer enden könnte. Die vorletzte Erzählung „Der Verräter“ thematisiert die aufkeimende Arbeiterbewegung. Hier wird aufgeführt, wie die politische Sache für eine Liebesbeziehung missbraucht wird. Den Abschluss macht „Kobes“, die komplexeste der Erzählungen. Der Liebesaspekt rückt hier in den Hintergrund; im Fokus steht die Gesellschaftskritik: Allegorisch und satirisch wird hier der (bereits stark zum Nationalistischen tendierende) Herrschaftsapparat der 1920er kritisch durchleuchtet. Abgerundet wird der Band durch ein Vorwort des schweizerischen Schriftstellers Hugo Loetscher, der kurz in Leben und Werk Heinrich Manns einführt. Daneben finden sich in der Ausgabe des Diogenes Verlags vierundzwanzig Zeichnungen von George Grosz, dessen Darstellungen sich passend in die Gesellschaftskritik Manns einfügen. Insgesamt ist „Liebesspiele“ eine schöne Sammlung von (meist tragisch endenden) Liebeserzählungen, die mit einigen Wendungen auftrumpfen. Die Erzählungen gehen aber nicht allein in der Liebesthematik auf: Neben der Liebe spielen auch die gesellschaftlichen Umstände, in denen die Liebe gedeiht (oder eben nicht gedeiht) eine Rolle.

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