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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.07.2022

Wer die Erinnerung macht

Beifang
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Weiß man, wer man ist und wohin man will, wenn man weiß, woher man kommt? Auch wenn der Erzähler des Romans „Beifang“ sich auf die Suche danach macht, woher er kommt, scheint er doch nicht zu wissen, was ...

Weiß man, wer man ist und wohin man will, wenn man weiß, woher man kommt? Auch wenn der Erzähler des Romans „Beifang“ sich auf die Suche danach macht, woher er kommt, scheint er doch nicht zu wissen, was er mit seinem Leben anfangen soll.
Als das elterliche Haus verkauft und zu diesem Zweck entrümpelt wird, weil die Eltern in eine altengerechte Wohnung ziehen, werfen sich dem Erzähler auf einmal Fragen danach auf, wie sein Vater in diesem alten, kleinen Zechenhaus zusammen mit 10 Geschwistern groß geworden ist mit Eltern, die weder Zeit noch Geld für diese 11 Kinder hatten. Weil sein Vater darüber keine klare Auskunft gibt, wendet er sich an die Geschwister, die ja in genügender Zahl vorhanden sind. Verschiedene von ihnen sucht er mit mehr oder minder großem Erfolg aus. Einige erzählen ihre Version der Geschichte, malen ihr Bild von ihrem Vater. Dabei entsteht ein für den Leser spannender, aber auch bedrückender Einblick in das Leben in der Zechensiedlung in den 50er und 60er Jahren. Die Zimmermanns mit ihren vielen Kindern gelten als Asoziale, mit denen keiner etwas zu tun haben will. Trotzdem schaffen einige von ihnen den Schritt in die kleinbürgerliche Welt, wie der Vater des Erzählers. Und weil der Erzähler selbst auch Vater eines Sohnes ist, auch wenn er diesen nur 4mal im Jahr sieht, ergeben sich bisweilen sehr aufschlussreiche Vergleiche der Erziehung damals und heute.
Der Roman ist atmosphärisch dicht geschrieben, der Stil leicht und nüchtern, berührt aber umso unmittelbarer. Die Figuren sind zum Teil sehr skurril oder zumindest unkonventionell, wenn auch auf ihre Art sympathisch. Durch die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Vergangenheit, teils anklagend, teils idealisierend, teils voller Verständnis, teils voller Verbitterung, ergibt sich für den Leser ein diffuses Bild: letztlich weiß er nicht, wem er trauen soll und wie er zu einem Urteil kommen kann. Vielleicht muss er das ja auch nicht und das Ende bringt noch einmal eine interessante Wende, lässt den Leser aber auch etwas allein und ratlos zurück.

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Veröffentlicht am 02.07.2022

Bilderbuch oder Buch der Bilder

Blanche Monet und das Leuchten der Seerosen (Ikonen ihrer Zeit 6)
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In ihrem Nachwort nennt die Claire Paulin das Buch Jean-Pierre Hoschedé über seine Schwester Blanche „eine Hommage an ihre großartige Malerei, ihr sanftes Wesen und ihr ereignisreiches Leben, dem [sie ...

In ihrem Nachwort nennt die Claire Paulin das Buch Jean-Pierre Hoschedé über seine Schwester Blanche „eine Hommage an ihre großartige Malerei, ihr sanftes Wesen und ihr ereignisreiches Leben, dem [sie sich] mit diesem Roman nur in allergrößter Bescheidenheit anschließen möchte.“ Das „nur in allergrößter Bescheidenheit“ darf sie meiner Ansicht nach gerne streichen.
Ihr Roman „Blanche Monet und das Leuchten der Seerosen“ schildert das Leben der Blanche Hoschedé, die nach dem Bankrott ihres Vaters mit Mutter und mehreren Geschwistern bei dem zu diesem Zeitpunkt noch recht unbekannten und umstrittenen Maler Claude Monet und seiner Familie Unterschlupf findet. Auch wenn beide Familien immer wieder mit materieller Not und familiärem Unfrieden zu kämpfen haben, findet die kleine Blanche ihr Glück darin, dem Maler Monet bei seinen Arbeiten bei Wind und Wetter stundenlang über die Schulter zu schauen und zu lernen, ohne je von ihm gelehrt zu werden. So wird auch aus ihr eine talentierte Malerin. Doch das Leben verlangt ihr immer wieder allzu Übermenschliches ab. Die Reihe von Todesfällen in der Familie scheint nicht abzureißen. Auch ein privates Glück mit eigener Familie scheint ihr nicht vergönnt, stellt sie sich doch immer wieder in den Dienst ihrer eigenen Familie und vor allem Monets. Dieses ereignisreiche Leben, wie es der Bruder nennt, macht aus ihr eine Frau mit starker Persönlichkeit, doch dabei stets sanftem Charakter.
Die Stärke dieses Romans sehe ich zum einen in der Figurengestaltung: Die liebenswerte Blanche, die gerade in Teil 2 und 3 des Romans dem Leser immer mehr ans Herz wächst, ihre impulsiv-kindliche Schwester Suzanne, ihre stets etwas griesgrämig-verhärmte ältere Schwester Marthe, aber auch der teils cholerisch, teils liebevoll besorgte Ziehvater Monet sind sehr individuell und lebendig dargestellt. Nur der Vater und einer der Sohne Monets, Jean, der in Blanches Leben eine besondere Rolle spielen wird, bleiben in ihren abrupten Charakterumschwüngen dem Leser eher fremd. In beiden Fällen erfährt der Leser erst zum Ende hin den Grund für diese Brüche, die zwar plausibel sind, aber doch nicht hinreichend zu sein scheinen für die gravierenden Konsequenzen, die sich daraus ergeben.
Was aber ganz besonders an dem Roman besticht, sind die Beschreibungen der Landschaften und Stimmungen, die den Leser sofort an Monets Gemälde erinnern. Ganz besonders der Wohnsitz Monets in Giverny ist liebevoll detailliert beschrieben, sodass sich der Leser wünscht, diesen Garten selbst zu sehen oder, noch besser, gleich einen solchen selbst so hegen und pflegen zu können.
Weder der Titel noch das Cover werden dem Roman gerecht, neigen beide doch – auch wenn der Hintergrund des Covers Bezug auf Monets Seerosenteiche nimmt – zum Kitsch. Aber kitschig ist dieser Roman nun gerade nicht, sondern er erzählt die Geschichte von Blanche ebenso still und sanft wie das Wesen seiner Titelheldin.

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Veröffentlicht am 04.04.2022

Für die Hungrigen eher als für die Satten

Im Rausch des Aufruhrs
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Der Autor porträtiert mit großer Kennerschaft das Jahr 1923 monatsweise und gibt im Anhang einen Ausblick, „wie es weiter geht“, indem er kurze Porträts der historischen Figuren gibt, die im Buch vorher ...


Der Autor porträtiert mit großer Kennerschaft das Jahr 1923 monatsweise und gibt im Anhang einen Ausblick, „wie es weiter geht“, indem er kurze Porträts der historischen Figuren gibt, die im Buch vorher in die Ereignisse involviert waren oder die die Ereignisse überhaupt erst angestoßen haben. Und es ereignet sich viel im Jahre 1923. Viele Figuren haben ihren Auftritt, seien es Privatpersonen mit bewegtem Schicksal oder seien es historische Persönlichkeiten, die bereits eine große Rolle spielen, wie Stresemann oder Hitler, wie Anita Berber oder Kurt Tucholsky, oder die noch eine große Rolle spielen werden, wie Sepp Herberger, der in diesem Jahr als Geldzähler inflationäre Eintrittspreise zählen muss, oder Victor von Bülow, Loriot, der in diesem Jahr geboren wird. Wie auch die Mutter des Autors.
Für jeden Leser ist etwas dabei und für jeden Leser liest sich – je nach Interesse – die eine Passage leichter als andere. So kommt der kulturell Interessierte auf seine Kosten, wenn es um die schönen Künste geht, die Literatur, Kafka, Fallada, Gorki, oder das Kino. Der am Leben des kleinen Mannes, um mit Fallada zu sprechen, Interessierte, wenn es um die Sorgen und Nöte, aber auch die Freuden des einzelnen geht, auch wenn letztere eher dünn gesät sind. Wie vergnügt er sich, aber auch wie viel kostet ihn ein Brot? Ganz besonders angesprochen werden die politisch und historisch Interessierten, die sich nicht von den permanent wechselnden Verhältnissen und Regierungen der Weimarer Republik abschrecken lassen. Diejenigen, die der Kampf Rot gegen Braun interessiert, aber auch der gemeinsame Kampf gegen Franzosen im Ruhrpottstreik, wobei das Gemeinsame nicht wirklich verbindend ist. Auch die Inflation ist ein spannendes sowie aktuelles Thema. So hält sich der heutige Leser vor Augen, wie schlimm es einmal mit der Inflation gekommen ist und was wahrer Mangel in den Regalen der Läden, was realer Hunger und reale Not bedeuten. Auch wenn er sich dabei doch nicht ganz losmachen kann von dem Blick auf das, was ihn heute vielleicht doch einmal wirklich bedrohen könnte. So schwankt er zwischen dem Glück, das ihn damit getroffen hat, ein Hundertjahrenachherlebender zu sein, und der flehentlichen Hoffnung, ihn mögen solche Verhältnisse verschonen. Ein Blick über den Tellerrand jedoch hilft gegen den Egozentrismus, der im eigenen Leid immer das größte sieht, auch wenn es nur die vorübergehende Abwesenheit von Mehl, Speiseöl oder Klopapier ist. Worauf der Leser sich dabei allerdings einlassen muss, ist das „Ragout“, wie es der Theaterdirektor seinem Dichter und dem Narren schon in Goethes „Faust“ im Prolog abverlangt. Er muss sich einlassen auf ein buntes Durcheinander von Personen, von Ereignissen, von Anmerkungen zu einem Jahr in einer nicht immer ganz so anderen Zeit, von dem ihm eventuell der eine Happen besser munden wird als der andere. Aber für jeden ist auf jeden Fall etwas dabei. Und jeder wird seinen Lesehunger und seinen Wissensdurst, so er sich diesen in einer satten Zeit bewahrt hat, für eine Zeit – bis zum nächsten Buch – stillen können.

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Veröffentlicht am 27.05.2024

Nicht so witzig

Fucking Famous
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Ich hatte das Buch „Fucking Famous“ gelesen in der Erwartung, dass es eine witzige, bissige Abrechnung mit dem Social-Media-Influencer-Gedöns würde. Ich fand es dann aber weniger witzig, als vielmehr die ...

Ich hatte das Buch „Fucking Famous“ gelesen in der Erwartung, dass es eine witzige, bissige Abrechnung mit dem Social-Media-Influencer-Gedöns würde. Ich fand es dann aber weniger witzig, als vielmehr die alte Leier: Vom Leben frustrierte, alternde Single-Frau mit wechselnden Hip-Berufen, Freundinnenclique, aber ohne Alltag und geregeltem Leben, was man ja nicht unbedingt haben muss, ist frustriert, gelangweilt und ohne tieferen Sinn im Leben. Das kann ja nicht alles gewesen sein. Da muss noch was kommen. Zum Glück hat sie eine reiche Hacker-Freundin mit viel Personal und guten Connections, die sie mit Make-Up, coolen Klamotten und Fake-News bzw. Videos geschickt in den Sozialen Medien in Szene setzt. Und der Plan geht auf: Lotte Hohenfeld, nicht adelig und ohne „von“, wird berühmt. Verbürgte früher einmal Berühmtheit so etwas wie Unsterblichkeit, so ist die Lebensdauer des Ruhms auf social media ungefähr so lang oder vielmehr so kurz wie die einer Eintagsfliege.
Die Mechanismen der Scheinwelt der Influencer, wie ihre Berühmtheit funktioniert, wie man in den Focus der Aufmerksamkeit gerät, nicht aufgrund besonderer Fähigkeiten oder Talente sondern vielmehr aufgrund der Abwesenheit von Scham und Schmerzgrenzen, wie man den Mainstream bedient, auch unter völliger Aufgabe seiner selbst, stellt die Autorin überzeugend und mit gewisser Expertise da.
Aber der Witz fehlt. Und so wird es doch wieder die Geschichte einer „alten, weißen Frau“, die den Sinn im Leben verpasst zu haben scheint und in Selbstmitleid und Verzweiflung nicht versinkt, sondern zur Tat oder eher zur Schlagzeile greift. Man kann es lesen, muss man aber nicht. Die Welt der Influencer wird sich weiter im Schnellkreisel drehen. Wer mitfahren will, viel Spaß.

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Veröffentlicht am 28.04.2024

Eher enttäuschend

25 letzte Sommer
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Nachdem das Buch „25 letzte Sommer“ so hoch gelobt worden ist, habe ich es mit entsprechender Erwartung gelesen, bin aber darin doch eher enttäuscht worden.
Ein beruflich gestresster Familienvater trifft ...

Nachdem das Buch „25 letzte Sommer“ so hoch gelobt worden ist, habe ich es mit entsprechender Erwartung gelesen, bin aber darin doch eher enttäuscht worden.
Ein beruflich gestresster Familienvater trifft bei einem seiner Aufenthalte in seinem Ferienhaus auf dem Land auf einen alten Kartoffelbauer, der ihm die Fragen seines Lebens stellt und ihn an einem Tag dazu bringt, sein ganzes Leben zu hinterfragen. To-do-Listen versus Muße, Hektik versus Achtsamkeit, Profitstreben versus Selbstversorgung, Immer-weiter versus auf den Traum im Leben Hinleben.
Ja, sicherlich ist das Ambiente beschaulich, ein See im Wald, ein alter Hof mit einem Kartoffelacker und großem Bücherzimmer mit zwei Sofas für das erholsame Mittagsschläfchen. Leckeres, genußvolles Essen, tiefsinnige Gespräche, kunstvolle Bilder.
Allerdings ist das Buch nicht sonderlich originell. Ob nun der alte Bauer mit seinem Kartoffelacker oder eine alte Frau, die einem im Wald begegnet und einem die entscheidenden vier Fragen des Lebens stellt, oder ein Mann, der im Gespräch mit einem Baum auf Lebensweisheiten kommt usw.usf. Alles schon mal da gewesen. Auch die Erkenntnisse sind nicht neu: zu viel zu tun, zu oberflächlich leben, zu wenig Zeit für die Dinge, die wirklich wichtig sind, zu viel Social Media, zu viel Hektik, zu viel Profitstreben, zu wenig Beziehung, zu wenig unverwirklichter Lebenstraum.
Dabei ist auch der Ruf „Zurück zur Natur“ nicht neu: Das Landleben als Kartoffelbauer wird hier ziemlich verkitscht und naiv dargestellt: Man kann sich nicht wirklich vorstellen, dass ein Landwirt heute mit einem kleinen Acker seinen Lebensunterhalt bestreiten kann und Sonntags die freie Wahl hat: faulenzen oder auf den Acker. Da sind wir von der Realität dann doch ziemlich weit entfernt.
Mich hat auch der Tonfall gestört, der immer irgendwie an das naiv erstaunte Erkennen eines Kleinkindes erinnert, das offensichtliche Wahrheiten für sich zum ersten Mal entdeckt.

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