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Veröffentlicht am 09.07.2022

Unzertrennliche Freundinnen

Nachtwanderung
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Was macht die beste Freundin zur besten Freundin? Ines weiß es genau. Sie bewundert Kerstin, die so gut aussieht, so locker mit Jungs umgehen kann, die überall im Mittelpunkt steht und doch so cool ist. ...

Was macht die beste Freundin zur besten Freundin? Ines weiß es genau. Sie bewundert Kerstin, die so gut aussieht, so locker mit Jungs umgehen kann, die überall im Mittelpunkt steht und doch so cool ist. Von einem Tag auf den anderen ist die Freundschaft zerbrochen, Kerstin ist fort und Ines weiß auch 20 Jahre später noch nicht warum. Als sich die beiden auf einem Klassentreffen plötzlich wieder gegenüberstehen, haben sie die Chance mit der Vergangenheit aufzuräumen.

Das Buch hat mich wirklich beeindruckt. Der Sprachstil ist knapp. Kurze Aussagen, manchmal fehlt ein Wort. Sätze bleiben unvollendet, wie die Gedanken der Protagonistinnen. Man muss sich ein bisschen einlesen und dann sitzt man quasi im Kopf von Ines und Kerstin. Die Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen sind so unmittelbar, glaubhaft und oft traurig. Die Geschichte wird zunächst aus der Sicht von Ines erzählt, die zurückblieb, nachdem Kerstin verschwunden war. Ines, die sich allein durch die letzten Schuljahre kämpfen musste, die jetzt verheiratet ist und ein Kind hat, aber immer noch an Kerstin denkt. In Rückblicken wird die Freundschaft der beiden Mädchen in den 1990er Jahren intensiv, subjektiv und auch verklärend dargestellt. Wie war es wirklich, damals mit 14? Die Handlung wird im zweiten Teil aus der Sicht von Kerstin erzählt. Decken sich die Erinnerungen der beiden Frauen von heute an die beiden Mädchen von damals?

Eine eindrucksvolle und auch bewegende Geschichte, über Freundschaft und die Schwierigkeiten, die eigene Identität zu finden. Viele Situationen und Bilder in dem Schul- und Freundschaftskosmos habe ich wiedererkannt oder konnte ich nachvollziehen, obwohl ich ein Jahrzehnt älter bin als Ines und Kerstin. Für mich hat das Buch einen absoluten Sog entwickelt, weil ich unbedingt wissen wollte, was damals geschehen ist und warum die beiden sich so entwickelt haben. Auch der Sprachstil hat mir gut gefallen und ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Einiges bleibt am Ende noch ungeklärt, aber das passt zur Geschichte.

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Veröffentlicht am 05.07.2022

Gestohlene Kindheit

Brunnenstraße
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Günther Sawatzki ist ein erfolgreicher Journalist und viel in der Welt herumgekommen. Der ist ein charmanter Frauenschwarm und als seine Ehefrau stirbt, heiratet er seine langjährige Geliebte. Sie zieht ...

Günther Sawatzki ist ein erfolgreicher Journalist und viel in der Welt herumgekommen. Der ist ein charmanter Frauenschwarm und als seine Ehefrau stirbt, heiratet er seine langjährige Geliebte. Sie zieht aus dem ländlichen Süddeutschland zu ihm und bringt die gemeinsame achtjährige Tochter Andrea mit. Die glückliche und sorgenfreie Zukunft, die sich Mutter und Tochter erhoffen, stellt sich jedoch nicht ein. Der Vater leidet an Demenz und schon bald reiben sich Andrea und ihre Mutter mit der Betreuung auf.

Gnadenlos ehrlich beschreibt die Autorin ihren Alltag zwischen dem Vater, der sie nicht mehr erkennt und der Mutter, die sie kaum noch sieht. Die kleinen Szenen, die Sawatzki aneinanderreiht, machen betroffen und offenbaren das Bild einer gestohlenen Kindheit. Sie zeigen das höchst anstrengende Leben mit einer demenzkranken Person, das die Betreuenden an den Rand der physischen und psychischen Erschöpfung bringt, das Vereinsamen und die Hilflosigkeit.

Hin und her gerissen zwischen der Liebe, nach der sich Andrea sehnt und der Bitterkeit, die sie oft empfindet, vergehen Jahre und zuletzt hofft sie nur noch auf das Ende dieser unfassbar belastenden Situation.

Ich habe das Buch mit 168 Seiten in einem Rutsch gelesen und war sehr bestürzt, was Mutter und Tochter ausgehalten haben bzw. aushalten mussten und was dieses Ausgeliefertsein an die Situation mit dem kleinen Mädchen in den 1970er Jahren gemacht hat. So offen über die eigene Kindheit und die eigenen zwiespältigen Gefühle zu schreiben, das erfordert Mut.

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Veröffentlicht am 25.06.2022

Jeder hat sein Päckchen zu tragen

Der Distelfink
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Theo Decker hat ein ziemlich großes Päckchen zu tragen. Er verliert seine Mutter, die der Mittelpunkt seines Lebens war, seine Trauer ist unvorstellbar. Sein Vater ist verschwunden, die Großeltern wollen ...

Theo Decker hat ein ziemlich großes Päckchen zu tragen. Er verliert seine Mutter, die der Mittelpunkt seines Lebens war, seine Trauer ist unvorstellbar. Sein Vater ist verschwunden, die Großeltern wollen ihn nicht ... Sein Trost ist "Der Distelfink", ein kleines Bild, das durch einen schrecklichen Zufall in seinen Besitz gelangt und ihn begleiten wird, bis er sich selbst und sein Schicksal annehmen kann.

Was für eine Geschichte. Donna Tartt breitet das Leben des kleinen Theo (als die Handlung beginnt, ist er dreizehn Jahre alt) aus, wie einen nicht enden wollenden Faltplan. Mit unglaublicher Detailgenauigkeit beschreibt sie die äußeren und inneren Eindrücke, die Theo zu schaffen machen. Seine Lebensfreude, immer wenn er Pippa trifft, seine tief verzweifelten und depressiven Gedanken über den Sinn des Lebens. Das tut manchmal richtig weh. Jede Station, die Theo auf seinem Weg anläuft, wird mit so viel Hingabe beschrieben, dass man sie jedes Mal ungern wieder verläßt, um sich mit Theo wieder auf den Weg zu machen. Die wunderbaren Charakter und Schauplätze konnte ich mir alle so bildhaft vorstellen, wie in einem Film. Die Einbindung des Distelfink-Bildes, die Todesumstände des Künstlers und der Mutter von Theo, das war schon eine grandiose Verflechtung.

Mich hat die Geschichte wahnsinnig gefesselt. Die Entwicklung, die Theo durchmacht, sein Abrutschen in die eine und dann noch in die andere Richtung, sind so tragisch und doch auch nachvollziehbar.

Die Jugendgeschichte hat mir jedoch besser gefallen, als der zweite Teil der Handlung und der letzte Abschnitt, der in den Niederlanden spielt, war mir etwas zu wirr und philosophisch. Leider ging mir Boris auch zunehmend auf die Nerven. Dennoch ist das Buch - trotz der 1.024 Seiten - eine echte Leseempfehlung.

Mich hat es ein wenig an Gottfried Kellers "Der grüne Heinrich" erinnert.

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Veröffentlicht am 11.06.2022

Feuer und Wasser

Heimkehren
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Nur durch ein paar Steine sind sie von einander getrennt und doch leben sie völlig unterschiedliche Leben: Effia, die einen englischen Offizier heiratet und in der Festung Cape Coast lebt und ihre Halbschwester ...

Nur durch ein paar Steine sind sie von einander getrennt und doch leben sie völlig unterschiedliche Leben: Effia, die einen englischen Offizier heiratet und in der Festung Cape Coast lebt und ihre Halbschwester Esi, die im Festungskerker sitzt und als Sklavin verkauft wird. Mit diesen beiden afrikanischen Frauen beginnt die Familiengeschichte, die sich über sechs Generationen zieht und die Entwicklung der beiden Familienteile nachzeichnet.

Die Autorin hat mit ihrem Debüt eine faszinierende, grausame und doch wunderbar zu lesende Geschichte geschrieben. Dabei wird abwechselnd über die Familienzweige geschrieben, immer steht eine Person der nächsten Generation im Fokus. Obwohl es jeweils nur kleine Abschnitt im Leben dieser Charaktere sind, ist der Roman absolut rund und es blättert sich eine vielschichtige Familiensaga heraus, in der die Sklaverei und ihre Folgen im Zentrum stehen. Dabei geht es in Afrika nicht weniger schrecklich zu, als in Nordamerika.

Das Kapitel über "H", der in den Kohleminen schuften muss, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Die Willkür, mit der Menschen verhaftet und bestraft wurden, das erinnert alles auf schreckliche Art und Weise an aktuelle Diskussionen über das Verhalten gegenüber Schwarzen in den USA. Die Autorin sagte selbst in einem Interview, dass die Folgen der Sklaverei noch lange nicht überwunden seien.

Ein lesenswerter Roman, der vor allem durch die parallele Erzählweise beeindruckt und diverse Aspekte der Sklaverei auf beiden Kontinenten schonungslos darstellt.

Der Familienstammbaum an Ende des Buches ist aber wegen der vielen Namen und Generationen unverzichtbar. Ich habe mir eine Kopie gezogen und darauf Notizen gemacht, das hat sehr geholfen, den Überblick zu behalten.

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Veröffentlicht am 13.05.2022

Das Buch als Langstreckenläufer

Papyrus
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Die wenigsten von uns haben sich in der Schule mit Feuereifer in die griechische und römische Antike verbissen, oder? Vielleicht hätten wir Irene Vallejo gebraucht, um uns für diese Zeit zu begeistern, ...

Die wenigsten von uns haben sich in der Schule mit Feuereifer in die griechische und römische Antike verbissen, oder? Vielleicht hätten wir Irene Vallejo gebraucht, um uns für diese Zeit zu begeistern, denn begeistert ist sie von dieser Epoche, das merkt man diesem Buch an.

Durch die Literatur wird uns eine andere Perspektive auf die Welt (nicht nur der Antike) aufgezeigt. Das Buch ist ein Ritt durch alle Facetten, die mit Büchern in Berührung kommen, zunächst in der griechischen Kultur (Teil 1), dann in der römischen (Teil2), die auf der griechischen aufbaut bzw. sich viel von dieser abgeschaut hat.

Da geht es um die Bücherjäger, die auf der Suche nach jedem Buch der bekannten Welt sind, um die große Bibliothek von Alexandria zu bestücken. Die Schwierigkeiten des Übersetzens, zumal, wenn eine Sprache bereits ausgestorben ist. Der Übergang vom Papyrus zum Pergament und vom überwiegend lauten Lesen zum vereinzelten, stillen Lesen. Vallejo berichtet über den Beginn des Alphabetes und welchen Umbruch es bracht, dass Dinge nicht mehr nur durch das Gedächtnis bewahrt werden mussten, sondern quasi extern gelagert und wieder abgerufen werden konnten. Es geht um Bibliotheken und ihre Bibliothekare und Bibliothekarinnen, um die Systeme der Lagerung und das Katalogisieren von Büchern, das Vernichten von Büchern, um das Theater, Buchhändler und schließlich den Begriff "literarischer Kanon". Als mit dem Untergang des römischen Reiches auch dessen schriftliche Hinterlassenschaften schrumpften und zerstört wurden, überlebte die Antike quasi nur durch Bücher, die in Klöstern vorhanden waren und dort wieder von Hand kopiert wurden. Erst mit dem Aufkommen der abendländischen Universitäten setzt der Durst nach den "Klassikern" wieder ein und erneut sind Bücherjäger unterwegs. Damit schließt sich der Kreis.

Was das Buch so interessant macht, sind die unglaublich zahlreichen Nebeninformationen und Querverweise auf andere Werke, besonders auf moderne Literatur und vor allem auch Kinofilme! Die Autorin hat ein unglaublich breit gestreutes Wissen und wenn sie von den antiken Universalgelehrten schreibt, meint man, in ihr selbst eine solche vor sich zu haben.

Die vielen kleinen Aha-Momente machen Spaß, einiges wußte ich bereits, hatte aber auch vieles wieder vergessen oder schlicht noch nie gelesen. So macht Vallejo nebenbei z.B. auf besondere Berufsgruppen aufmerksam, die "Filmerklärer" (S. 168f.) der Stummfilmära oder die reitenden Bibliothekarinnen von Kentucky (S. 657f.). Gefreut habe ich mich, einen meiner Lieblingsfilme zitiert zu finden: Ist das Leben nicht schön? (S. 251) Was könnte dieser Weihnachtsfilm mit dem Thema Buch zu tun haben? Es wird an dieser Stelle nicht verraten.

Insgesamt sind die 663 Seiten Text eine unglaublich interessante und spannende Lektüre. Ich habe Seite für Seite gelesen und nicht nur quer. Dabei gibt es aber auch ein paar Längen, denn unweigerlich kommt es zu Wiederholungen, wenn immer wieder mit einem (weiteren) Themenaspekt von vorne begonnen wird. Die Autorin tritt übrigens häufig aus dem Text hervor und bringt eigene Erlebnisse ein, das ist allemal unterhaltsam und lesenswert, streckt das Werk aber auch.

Wer sich lediglich nüchternes Fachwissen aneignen möchte, dem kann ich das Buch nicht empfehlen. Dies ist ein Werk, das unterhält und Freude an Büchern und ihrer Welt, an antiken Autor:innen und antiker Geschichte auf jeder Seite vermittelt. Ein wahrer Schatz für Schmökerfans. Was ich mir gewünscht hätte, wären Abbildungen gewesen, die hätten den über 600 Seiten (kleingedruckter Schrift) ganz gut getan, um die Augen gelegentlich etwas zu entlasten. Abgerundet wird das Buch durch ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister.

Noch kurz zur Optik: Der Schutzumschlag ist großartig gelungen, schlicht und mit der Goldprägung doch wertvoll. Das Buch hat sich über Jahrtausende behauptet und wird es auch weiterhin tun, davon ist die Autorin überzeugt - ein echter Langstreckenläufer.

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