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Veröffentlicht am 20.07.2022

Gegen alle Widerstände

Die Hennakünstlerin
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Wenn ein Roman auf Reese Witherspoons Auswahlliste landet, ist das zumindest in den Vereinigten Staaten ein Garant dafür, dass in kürzester Zeit dessen Verkaufszahlen durch die Decke gehen. So auch geschehen ...

Wenn ein Roman auf Reese Witherspoons Auswahlliste landet, ist das zumindest in den Vereinigten Staaten ein Garant dafür, dass in kürzester Zeit dessen Verkaufszahlen durch die Decke gehen. So auch geschehen mit „Die Hennakünstlerin“, dem Debüt von Alka Joshi, in dem uns die amerikanische Autorin auf eine farbenprächtige Reise in ihr Geburtsland Indien mitnimmt.

Im Mittelpunkt der Handlung steht Lakshmi Sastri, die titelgebende Hennakünstlerin, die im postkolonialen Indien der fünfziger Jahre eine folgenschwere Entscheidung für ihre Zukunft fällt. Indien ist ein Land voller Gegensätze. Aber über der üppigen, farbenprächtigen Vegetation und den beeindruckenden Bauwerken sollte man nicht nur die Slums in den Großstädten nicht vergessen. Wir erinnern uns, ist Indien nicht das Land, in dem in den ländlichen Regionen bis zum heutigen Tag der Brauch der Witwenverbrennung hochgehalten wird? In dem Menschen ab dem Zeitpunkt ihrer Geburt in Kasten eingeordnet werden aus denen, die sie in ihren Rechten, nicht aber in ihren vorgegebenen Pflichten einschränken?

Aber es gibt sie, die Frauen, die sich nicht mit ihrem vorgegebenen Platz in der Gesellschaft abfinden, die ihre Vision von einem selbstbestimmten Leben gegen alle Widerstände verwirklichen, ganz gleich, welche Opfer sie dafür bringen müssen. Wie Lakshmi. In Erinnerung an diese Frauen hat Alka Joshi diesen Roman geschrieben, mit dem sie sich auch vor der Lebensleistung ihrer eigenen Mutter verbeugt.

Veröffentlicht am 13.07.2022

Ein großartiger Roman in der Tradition Zolas und Hugos

Die Arena
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Négar Djavadi stammt aus dem Iran und musste 1980 als Elfjährige aus politischen Gründen auf abenteuerlichen Wegen mit ihrer Familie aus ihrem Heimatland nach Frankreich fliehen. Seit vielen Jahren lebt ...

Négar Djavadi stammt aus dem Iran und musste 1980 als Elfjährige aus politischen Gründen auf abenteuerlichen Wegen mit ihrer Familie aus ihrem Heimatland nach Frankreich fliehen. Seit vielen Jahren lebt sie nun in Belleville im Osten von Paris, wo auch ihr zweiter Roman „Die Arena“ verortet ist.

Belleville ist ein geschichtsträchtiges Quartier, fielen dort doch 1871 die letzten Barrikaden der „Commune“. Mit dem Zuzug der Menschen aus den Kolonien, vornehmlich aus dem Maghreb, veränderte sich die Bevölkerungsstruktur hin zu der eines typischen multikulturellen Einwandererviertels, in dem die unterschiedlichsten Nationalitäten ihren Platz fanden. In den letzten beiden Jahrzehnten wurde dieses Viertel von der Künstlerszene entdeckt, Galerien eröffnet und viele der alten Häuser abgerissen oder von Investoren saniert, um Wohnungen für einen neue Klientel zu schaffen. Doch noch gibt es sie, die Straßenzüge, die ihren alten Charakter beibehalten haben, nicht gentrifiziert sind. Die Frage ist nur, wie lange diese Gegensätze noch nebeneinander existieren können, bevor die Luft zu brennen beginnt. Und es ist genau dieser Zustand der Ungewissheit, den Djavadi in ihrem Roman beschreibt, wo nur ein Funke genügt, um diese explosive Mischung in die Luft zu jagen.

„Die Arena“ ist ein Noir- bzw. Polar-Roman, in dem die Autorin offen Kritik an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ihrer Wahlheimat übt. Djavadi beschönigt nichts, ist kompromisslos in ihren Beschreibungen, und ja, man spürt ihren Furor, denn es sind Aussagen, die eigentlich für alle westlichen Gesellschaften zutreffen. Dabei bricht sie Allgemeines auf Individuelles herunter, wählt quasi Stellvertreter, nennt Opfer und Täter ohne zu bewerten. Sei es Social Media, die Unterhaltungsindustrie, Fake News, Angst vor Statusverlust, Konkurrenzkampf, überforderte Eltern, Perspektivlosigkeit und daraus folgerndes Abrutschen in die Kleinkriminalität, bis hin zu blindwütigem Aktionismus wie dem Umgang mit Migranten. Aber trotz dieser Themenvielfalt wirkt die Handlung nie überfrachtet, jedes Rädchen hat seinen Platz und erledigt seine Aufgabe.

Ein aktueller, ein großer Roman in der Tradition Zolas und Hugos, der den Zeitgeist in all seinen Facetten einfängt, in dem wir als Zuschauer auf der Tribüne Platz nehmen und mit Kopfschütteln betrachten, was unten in der Arena geschieht.

Veröffentlicht am 11.07.2022

Familie und Trauma

Beifang
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Beifang ist eine Zechensiedlung am Rande von Selm, errichtet für die Bergmänner des ehemaligen Steinkohle-Bergwerks Zeche Hermann. Die Zeche wird 1926 wegen unzumutbarer und gefährlicher Arbeitsbedingungen ...

Beifang ist eine Zechensiedlung am Rande von Selm, errichtet für die Bergmänner des ehemaligen Steinkohle-Bergwerks Zeche Hermann. Die Zeche wird 1926 wegen unzumutbarer und gefährlicher Arbeitsbedingungen stillgelegt, was gravierende ökonomische Auswirkungen auf die Bergleute und ihre Familien hat, da die wenigsten eine neue Arbeit finden. Armut, Verelendung und Perspektivlosigkeit sind die Folgen.

Frank Zimmermann ist in Beifang aufgewachsen, lebt aber seit dem Studium in Berlin, mehr oder weniger allein. Hat zwar einen Sohn, aber keinen Kontakt zu ihm. Hat zwar eine Freundin, trifft sie allerdings eher selten. Er lebt planlos vor sich hin, wurschtelt sich so durch. Mal hat er Arbeit, dann wieder nicht. Weiß nicht, was er will, was er vom Leben doch erwartet kann.

Als sein Elternhaus verkauft wird und sein Vater ihn auffordert, die auf dem Dachboden eingelagerten Hinterlassenschaften zu sichten, macht er sich auf den Weg ins Ruhrgebiet, im Hinterkopf den Rat seiner Freundin, sich endlich mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen. Antworten auf die Fragen nach der Vergangenheit des Vaters zu finden, mit denen er sich auseinandersetzen möchte und sollte, die aber durch dessen Verweigerung und Sprachlosigkeit bislang unbeantwortet geblieben sind. Daran ändert sich auch nichts, als er anlässlich dieses Besuchs das Thema nochmal anschneidet.

Also macht er sich auf, die Geschwister seines Vaters aufzusuchen, elf an der Zahl, hoffend, dass deren Erinnerungen Licht in das Dunkel bringen können. Natürlich hat jede/r von ihnen eine individuelle Sicht auf die Vergangenheit, aber allmählich fügen sich die Bruchstücke zu einem Bild zusammen, das von Armut, Gewalt und Fremdbestimmung erzählt. Eigene Wünsche zählen nicht, Begabung spielt keine Rolle, weil es immer nur darum geht, das Überleben zu sichern. Ja, man fügt sich, arrangiert sich mit den Umständen, vergräbt den lebenslangen Groll und die Enttäuschung über das ungelebte Leben, das Trauma, tief in sich, gibt ihn aber auch weiter an die nachfolgende Generation.

Über weite Strecken finden wir in „Beifang“ Merkmale des naturalistischen Romans, speziell dann, wenn die allmähliche Verelendung der Großfamilie und die Ohnmacht des Einzelnen angesichts der prekären finanziellen Lage, der Wohnsituation, der Ausgrenzung etc. geschildert wird. Aber es ist auch ein warmherziger Roman über Kraft und Zusammenhalt, der aus schwierigen Verhältnissen erwachsen kann, ein Plädoyer für den verständnisvollen Umgang miteinander trotz aller Widrigkeiten.

Veröffentlicht am 28.06.2022

Der Rest ist Schweigen

Was ich nie gesagt habe
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In „Was ich nie gesagt habe“ schreibt Susanne Abel nicht nur die Geschichte von Greta und ihrem Sohn Tom fort, sondern gewährt gleichzeitig auch einen Blick in die Familienhistorie der Monderaths. Aber ...

In „Was ich nie gesagt habe“ schreibt Susanne Abel nicht nur die Geschichte von Greta und ihrem Sohn Tom fort, sondern gewährt gleichzeitig auch einen Blick in die Familienhistorie der Monderaths. Aber keine Sorge, diesen Roman kann man auch ohne Kenntnis von „Stay away from Gretchen“ lesen, da sämtliche relevanten Ereignisse erwähnt und in die Handlung eingearbeitet wurden. Auch wenn die Autorin immer wieder Verbindung zum Vorgänger herstellt, ist der Fokus diesmal auf Tom und die männliche Linie gerichtet und beschäftigt sich mit der zentralen Frage, welche traumatischen Auswirkungen das Verschweigen wichtiger Geschehnisse und Entscheidungen innerhalb einer Familie auf die Nachgeborenen haben kann.

Schauen wir zuerst auf die Form. Abel verwendet ein Konzept, das in Romanen, die sich mit Familiengeheimnissen auseinandersetzen, Usus ist und bereits im Vorgänger erfolgreich war. Es gibt zwei Handlungsebenen im Wechsel, zum einen natürlich die Vergangenheit, beginnend im Jahr 1933 bis Ende des Zweiten Weltkriegs und darüber hinaus, zum anderen die Gegenwart, und hier das Jahr 2016, in dem der Protagonist unverhofft mit einem Halbbruder konfrontiert wird und sämtliche Gewissheiten seines Lebens mit einem Mal in Frage gestellt werden. Die Ähnlichkeit der Halbgeschwister ist für beide überraschend und wirft Fragen nach dem gemeinsamen Vater auf. Einem Vater, der zeit seines Lebens unnahbar war und keine Nähe zuließ. Und so beginnen sie, in dessen Vergangenheit nach Antworten zu suchen, nicht wissend, dass sie damit die Büchse der Pandora öffnen.

Abel beschreibt das Leben im Nationalsozialismus, das Aufwachsen der Kinder, deren Verführung durch die Rattenfänger, ihre Überzeugung, für die gerechte Sache zu kämpfen, wenn sie als Jugendliche in den Krieg ziehen. Sie schildert die Trauer der Menschen, die ein geliebtes Kind verlieren, dessen Leben als unwert eingeordnet wird. Die Schrecken der Bombennächte, in der ganze Familien ausradiert werden. Die menschenverachtenden Auswüchse dieser Ideologie und deren Anhänger, die gnadenlos Menschleben zerstören und eine Generation hervorbringen, deren Schuldgefühl und Schweigen familiäre Nähe unmöglich macht.

Dem Roman liegt eine gründliche Recherchearbeit der Autorin zugrunde. Nicht alle erwähnten Personen in diesem Roman sind fiktiv, ebenso die Konsequenzen, Ereignisse und Reaktionen, die sich daraus für die Protagonisten ergeben, was deren Handeln umso glaubwürdiger macht. In einem ausführlichen Nachwort, ergänzt durch eine umfangreiche Literatur- und Medienliste, geht Susanne Abel darauf im Detail ein.

Veröffentlicht am 21.06.2022

Mein eindringlicher Appell: Lest dieses Buch!

All dies ist nie geschehen
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Drei Weg, die sich kreuzen: Adam, Ex-Polizeiinspektor aus Syrien. Kilani, ein stummer sudanesische Junge. Und Bastien, auf eigenen Wunsch zur Polizei von Calais versetzt.

„Angesichts der Grausamkeit der ...

Drei Weg, die sich kreuzen: Adam, Ex-Polizeiinspektor aus Syrien. Kilani, ein stummer sudanesische Junge. Und Bastien, auf eigenen Wunsch zur Polizei von Calais versetzt.

„Angesichts der Grausamkeit der Realität wollte ich es mir nicht erlauben, eine Geschichte zu erfinden. Nur der Verlauf der hier geschilderten polizeilichen Ermittlungen ist fiktiv.“

So Olivier Norek, der diese Aussage seinem auf Tatsachen beruhenden Roman „Entre deux mondes“ voranstellt, in der Übersetzung unter dem nichtssagenden Titel „All dies ist nie geschehen“ erschienen.

Sie kommen aus Afghanistan, Sudan, Eritrea, Iran, Pakistan, Äthiopien, Sudan, Jemen und Syrien. Ihr Ziel: Über den Ärmelkanal nach „Youkay“. Ihr derzeitiger Aufenthaltsort: Der Dschungel von Calais. Die Vorhölle.

Der Handlungszeitraum erstreckt sich von Juli bis zur Räumung des provisorischen Camps im Oktober 2016. Und auch wenn seither mehr als fünf Jahre vergangen sind, leben noch immer unzählige Geflüchtete in den Wäldern, unter Brücken oder provisorischen Lagern in und um Calais, weshalb dieses 2017 im Original erschienene Buch nichts von seiner Aktualität verloren hat. Erschütternd, hart und kompromisslos zeigt uns der Autor, wie Europa mit Migranten umgeht, die nicht blond und blauäugig sind. Keine Verurteilung, sondern Denkanstöße.

Norek, Enkel eines schlesischen Migranten und geboren in Frankreich, hat fünfzehn Jahre bei der Polizei von Seine-Saint-Denis Dienst getan, und aus dieser Tätigkeit speisen sich die Themen seiner Romane. Für diesen hier hat er über einen längeren Zeitraum vor Ort im Dschungel recherchiert. Tagsüber sich die Geschichten der Migranten erzählen lassen, ihre Interaktionen beobachtet, nachts mit den Polizisten unterwegs, die angewiesen sind, deren Überfahrt nach England zu verhindern. Randnotiz: Frankreich hat sich von GB dafür seit 2015 mit mindestens 131 Millionen Euro entlohnen lassen.