„Dämmerstunde“ von Hwang Sok-Yong ist ein ruhiger, melancholischer Roman, der die Hoffnungen, Träume und tiefgreifenden Erkenntnisse innerhalb einer Gesellschaft erforscht, welche ihre sozialschwachen Mitglieder rücksichtslos unter Wirtschaftswachstum und Modernisierung zu begraben pflegt. Hwang Sok-Yong ist ein außergewöhnlicher Geschichtenerzähler und erschafft hier ein hervorragendes und generationsübergreifendes Bild der sozialen Strukturen in der Megametropole Seoul.
Erzählt wird die Geschichte aus zwei wechselnden Perspektiven. Zum einen lernen wir die junge Theaterregisseurin Uhi kennen, die sich mit ihren ausbeuterischen Jobs gerade so über Wasser halten kann. Ihr Leben führt sie täglich an den Rand der Resignation, aber sie hat einen Traum, den sie mit eiserner Entschlossenheit verfolgt.
Und dann gibt es noch Bak Minu, der trotz aller Widrigkeiten alles und noch mehr erreicht hat, das er wollte. Doch der alternde Architekt findet Anlass auf sein Leben und seine Entscheidungen zurückzublicken, seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft in einem neuen Licht zu sehen und beginnt schließlich zu hinterfragen, ob der Preis für seine erfolgreiche Karriere nicht doch zu hoch gewesen ist.
Es sind zwei vollkommen unterschiedliche Lebenswege; zwei Personen, die sich unter normalen Umständen wohl nie begegnet wären. Aber die Begegnung mit einer alten Liebe und einer neuen Freundin führen diese beiden Wege auf überraschende Weise zusammen.
„Dämmerstunde“ war mein erster Roman von Hwang Sok-Yong und ich habe ihn als anspruchsvolle, aber auch sehr einnehmende Lektüre empfunden. Je länger ich über den Inhalt und das Gelesene nachdachte, umso mehr gefiel er mir.
In seiner Erzählweise ist das Buch sehr direkt und fast schon herausfordernd Nüchtern. Das hat es mir gerade zu Anfang etwas erschwert, Zugang zu den Figuren und der Erzählung zu bekommen. Der Schreibstil unterscheidet sich doch sehr von westlicher Literatur und für jemanden, der wenig bis kaum Literatur aus dem Asiatischen Raum liest, kann dieses Ungewohnte schnell zur Hürde werden. Lässt man sich aber möglichst unvoreingenommen auf diesen schnörkellosen und geradlinigen Schreibstil ein, fällt es sehr leicht, sich von den Worten davontragen zu lassen. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich ins Buch hineingefunden habe, wurde dann aber von der Atmosphäre und Entwicklung irgendwann gepackt.
Der Autor lässt sich Zeit mit seinen Figuren, baut ihre Welt und ihren Werdegänge in hingebungsvoller Ausführlichkeit aus und auch wenn ich zu den Charakteren keine wirklich emotionale Bindung aufbauen konnte, haben mich ihre Lebensgeschichten sehr berührt und mitfühlen lassen. Eingangs war es etwas schwer, die vielen Namen einzelner Figuren auseinander- und dabei den Überblick zu behalten, aber auch das Problem hat sich mit der Zeit gelegt.
Am meisten und wohl auch am nachhaltigsten hat mich aber die subtile Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Missständen innerhalb der Südkoreanischen Gesellschaft beeindruckt. „Dämmerstunde“ erzählt die Geschichten individueller Figuren und zeichnet damit ein eindringliches und äußerst realistisches Bild einer ganzen Gesellschaft. In seinem Nachwort schreibt der Autor: „(...) Reue und Scham einer ganzen Gesellschaft: Beides prägt uns. Ist man aber mittendrin im Geschehen, ist einem nie ausreichend bewusst, wie eng das Individuelle und das Gesamtgesellschaftliche immer schon zusammengehören.“ Man muss eine Menge zwischen den Zeilen des Romans lesen, um zu begreifen, wie sehr er von diesem Gedanken durchdrungen ist. Mir hat sehr gefallen, dass das ein Buch ist, welches einem nicht auf Anhieb all seine Geheimnisse verrät, sondern einem als Leser auch einiges an Überlegungen abverlangt.
Generell würde ich sagen, dass „Dämmerstunde“ vielleicht nicht Jedermanns Buch ist und ein gewisses Maß an Aufgeschlossenheit von seinen Lesern verlangt. Wer allerdings wieder einmal Lust auf eine anspruchsvollere Lektüre hat, sollte an dieser definitiv nicht vorbeigehen. Mir hat das Buch gut gefallen und ich kann es daher auch guten Gewissens empfehlen.