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Veröffentlicht am 31.07.2022

Der Schöne

Die Knochenleser
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Auf den ersten Blick könnte er als gescheitert gelten. Michael „Digger“ Digson war ein hervorragender Schüler, dessen Großmutter das Geld für eine weiterführende Schulbildung fehlte. Nun lungert er in ...

Auf den ersten Blick könnte er als gescheitert gelten. Michael „Digger“ Digson war ein hervorragender Schüler, dessen Großmutter das Geld für eine weiterführende Schulbildung fehlte. Nun lungert er in der Stadt rum, wo er vom örtlichen Polizeichef aufgelesen wird. Erstaunlicherweise steht dieser in nicht hinter Gitter, sondern überredet ihn sanft, aber energisch, in den Polizeidienst einzutreten. Digger erweist sich als schlauer Ermittler, der allerdings auch unter den Kollegen mal aneckt. Als dann auch noch K. Stanislaus an der Dienststelle auftaucht, um ihre Arbeit aufzunehmen, kommt einiges ins Rollen. Besonders im Fall des Verschwindens des jungen Nathan, der dem alten Chief Chilman immer sehr am Herzen lag.

Ein Insel der Kleinen Antillen als Ort der Handlung ist aus europäischer Sicht doch mal etwas ganz anderes. Auch wenn die Landschaft für die Handlung nur von untergeordneter Bedeutung ist. Dreh- und Angelpunkte sind Digger, der eine forensische Ausbildung in Groß Britannien erhalten hat, und seine Kollegin Stanislaus, die mehr in der Inselkultur verwurzelt ist. Als Team ergänzen sie sich bestens, beide gleichsam intuitiv, offen für Neues, aber mit unterschiedlichen Denkansätzen. Auch für Michael gibt es einen Fall, der ihn nicht loslässt, das Verschwinden, ihr zu vermutender Tod in den Unruhen des Jahres 1999. Doch in diesem ersten Fall begibt er sich daran, den ungelösten Fall seines Mentors zu lösen.

Das Setting auf einer von hier aus weit entfernten Insel regt erstmal die Phantasie an und den Wunsch, etwas nachzulesen über die Antillen und auf der Karte zu schauen, wo das ungefähr sein könnte. Die Bilder, auf die man dabei stößt, laden wirklich dazu ein, der Weltlage zu entfliehen, wenigstens Gedanklich. Was man sich schon fragt, wieso hat Chilman das Rätsel um Nathans Verschwinden nicht gelöst. Sicher gehen Digger und Stanislaus mit frischen Überlegungen ans Werk, aber so wie Chilman geschildert wird, hätte man ihm das auch zutrauen können. Oder wollte er einfach einen oder zwei geeignete Nachfolger installieren? Sei es drum, der Fall ist unterhaltsam. Man bekommt einen kleinen Einblick in die Mentalität der Inselbewohner und für einen ersten Band einer Reihe, in der die handelnden Personen vorgestellt werden und ihr Rahmen umrissen wird, erscheint dieser Kriminalroman sehr gelungen.

Veröffentlicht am 30.07.2022

Mordtherapie

Das Kind in mir will achtsam morden
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Der nunmehr freiberuflich tätige Anwalt Björn Diemel hat endlich mal die Muße, mit seiner von ihm getrennt lebenden Frau und ihrer gemeinsamen Tochter ein Paar Tage Urlaub zu machen. Er hat sich schon ...

Der nunmehr freiberuflich tätige Anwalt Björn Diemel hat endlich mal die Muße, mit seiner von ihm getrennt lebenden Frau und ihrer gemeinsamen Tochter ein Paar Tage Urlaub zu machen. Er hat sich schon alles ganz genau ausgemalt. Doch ein arbeitsscheuer Kellner macht aus dem schönen Plan ein gefühltes Fiasko. Wie bereits ein halbes Jahr zuvor, schickt Katharina ihn zu seinem Therapeuten. Diemel soll das mit dem überzogenen Ausrasten besser in den Griff kriegen. Und wieder steht Björn Diemel vor Joschka Breitners Tür und wartet nach dem Klingeln geduldig. Bei seinem Therapeuten hört er dann zum ersten Mal von seinem inneren Kind.

Eigentlich sollte es mit dem Morden vorbei sein, nachdem Björn Diemel vor einem halben Jahr gemeinsam mit Sascha alles geregelt hat. Sascha hat die Leitung des Kindergartens übernommen und Björn seine eigene Kanzlei im gleichen Haus. Die Gang leitet er weiterhin im Auftrag von Dragan, der sich auf den Grund des Sees zurückgezogen hat. Doch die Sache mit dem Kellner war wirklich unglücklich und nun ist auch noch Boris verschwunden, der eigentlich seit einem halben Jahr im Keller sitzt. Da ist Björn wirklich heilfroh, dass sein Therapeut ihm seine klugen Ratschläge zukommen lässt.

Bei seinem zweiten Auftritt lernt Anwalt Björn Diemel sein inneres Kind kennen, das Kind, welches in seiner Kindheit von den Eltern nicht genügend beachtet wurde, dessen Wünsche nichts galten. Doch wie kann ihm das jetzt helfen? Zwar muss man sich zu Beginn etwas sehr um Diemels inneres Kind kümmern, doch je mehr er sich mit ihm und seinen einzigen Eltern versöhnt, desto gewitzter werden Diemels Lösungsansätze. Gemeinsam mit Sascha heckt er einen Plan aus, der ihn von allen Problemen befreien soll. Da macht es so langsam Spaß, ihm zu folgen und zu sehen, wohin es führt. Ob das Konzept mit dem Täter auf Selbstfindungstripp ewig funktioniert, ist zwar fraglich, aber dieser zweite Band der Reihe weiß sehr gut zu unterhalten.

Veröffentlicht am 23.07.2022

Die Lage

RCE
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Die Lage ist aussichtslos und die Stimmung ist ohne Hoffnung. Die wenigen Reichen werfen mit Phrasen um sich, um schließlich noch mehr Geld zu scheffeln und den weniger Begüterten einzureden, man tue schon ...

Die Lage ist aussichtslos und die Stimmung ist ohne Hoffnung. Die wenigen Reichen werfen mit Phrasen um sich, um schließlich noch mehr Geld zu scheffeln und den weniger Begüterten einzureden, man tue schon das Beste. Für die Gruppe von Freunden um Ben, die schon einmal versucht haben die Welt zu retten, mittelfristig allerdings gescheitert sind, ist es an der Zeit die Situation zu verändern. Doch können einige noch immer relativ junge Nerds die Welt verändern? Schließlich ist der Versuch schon einmal schief gegangen und die Menschen scheinen noch träger und desinteressierter geworden zu sein.

Entvölkerte Landschaften, zu wenige Arbeitsplätze, leere Regale, heruntergekommene Häuser oder gar keine Häuser, Ausbeutung in den raren Jobs, Europa eine Festung der Überalterung. Gruselig. Kein Wunder, dass die Reichen sich lieber mit dem Kapital, dem Shareholder-Value beschäftigen. Sie bleiben unter sich und ihre Lobbyisten blasen den Politikern, die auch lieber nichts mit der Welt da draußen zu tun haben wollen, schon die richtigen Sätze ein, die zu der richtigen Politik führen. Dann werden die Reichen noch reicher und die Armen noch abhängiger. Die Freunde haben sich das nun lange genug angeschaut, so langsam ist es Zeit, etwas zu unternehmen.

Seit GRM sind einige Jahre vergangen. Die Menschheit steckt weiter in einer Krise, wie kann es erstrebenswert sein, freiwillig das Leben aufzugeben? Kein Wunder, dass Ben sich an seine alten Freunde erinnert und sie gemeinsam einen Plan aufstellen, durch den sich alles ändern soll. Muss es schlimmer werden, damit es besser werden kann? Manchmal ist es so. Auch wenn die Form schon aus GRM bekannt ist, schafft es die Autorin wieder, ihre Leser zu fesseln. Die Beschreibung der überbordenden Macht der Algorithmen, der lenkbaren Individuen, die eigentlich keine individuellen Persönlichkeiten mehr sind, denn anstatt sich zu treffen, hängen sie lieber an ihren sozialen Geräten oder in ihren sozialen Netzen, wo sie am liebsten denen glauben, die unglaublichsten Geschichten erzählen. In so einer Welt möchte man nicht leben, man fragt sich allerdings, ob man nicht schon relativ nahe dran ist. Kann die Menschheit, die so hoffnungslos ist, bewegt werden, etwas zu ändern? Und mit welchen Mitteln? Auch wenn dieser Roman vielleicht nicht ganz den Esprit von GRM hat, so bearbeitet die Autorin diese spannende Frage mit packenden Worten. Wieder hält sie der Gesellschaft einen Spiegel vor. Schön, wenn dies zum Nachdenken anregte.

Veröffentlicht am 20.07.2022

Paradies

Die Arena
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Nicht gerade im besten Viertel von Paris ist Benjamin Grossmann aufgewachsen, nachdem sein Vater abgehauen ist. Doch endlich hat er es geschafft, er ist zum Europachef eines amerikanischen Streaming-Anbieters ...

Nicht gerade im besten Viertel von Paris ist Benjamin Grossmann aufgewachsen, nachdem sein Vater abgehauen ist. Doch endlich hat er es geschafft, er ist zum Europachef eines amerikanischen Streaming-Anbieters aufgestiegen. Mit seiner Lebensgefährtin läuft es bestens. Ein neues Projekt ist ebenfalls am Start. Doch dann verliert er aus Unachtsamkeit - oder wurde es gestohlen? - sein teures Smartphone. Er darf nicht daran denken, wenn der Code geknackt wird. Er muss es schaffen, das Teil zurückzubekommen. Benjamin ahnt nicht, was er mit seiner Suche auslöst, die bei einem vermeintlichen Migranten beginnt und dann eine Kettenreaktion auslöst, die so wirklich nicht vorhersehbar ist.

Seine einfache Herkunft kann Benjamin Grossmann nicht verleugnen. Als seine Mutter ihm eröffnet, dass sie sein Zimmer an einen jungen unbegleiteten Flüchtlingsjungen vergeben hat und ihn bittet, seine Sachen abzuholen, ist er doch verletzt. Im Job ist auch mehr Schein als Sein, die Unsicherheit, die ihn häufiger überfällt, weis er gut zu überspielen. Der Verlust des Handys wirft ihn schon aus der Bahn, bei dem Gedanken, was alles darauf gespeichert ist, wird ihm sehr unwohl. Richtig mit der Angst zu tun bekommt Grossmann es, als der Junge, den er im Verdacht hat, das Handy zu haben, tot aufgefunden wird.

Ein auf den ersten Blick eher dummer Vorfall löst in diesem Roman etwas aus, mit dem nicht zu rechnen war. Nach der Beschreibung erhofft man ein turbulentes Chaos, in dem eine aberwitzige Wendung der nächsten folgt. Tatsächlich bekommt man eine Beschreibung einer Wirklichkeit, die wahrscheinlich nicht allzu fern vom heutigen Paris ist. Etwas schaukelt sich durch falsche Deutungen oder Einschätzungen zu einem Finale auf, das möglicherweise unvermeidlich, aber auch als belastend empfunden werden kann. Man wünscht sich, das Schlimmste hätte verhindert werden können. Was die Lektüre etwas erschwert, ist die vergebliche Suche nach einem Sympathieträger und die manchmal ein wenig ausufernden Beschreibungen. Dann aber gibt es diese mitreißenden Szenen, die einen wirklich packen und durch die man einen Eindruck von der Gemengelage im Paris von heute gewinnt. Ein tiefer Einblick in die Seelen derer, die häufig vergessen werden.

Veröffentlicht am 19.07.2022

Folge dem Wolle

Morduntersuchungskommission: Der Fall Daniela Nitschke
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Otto Castorp ist in die Hauptstadt der DDR versetzt worden, zur zweiten Morduntersuchungskommission. Im Jahr 1987 sind die jungen Leute nicht mehr so leicht zu bändigen. Deshalb müssen die vom Mord auch ...

Otto Castorp ist in die Hauptstadt der DDR versetzt worden, zur zweiten Morduntersuchungskommission. Im Jahr 1987 sind die jungen Leute nicht mehr so leicht zu bändigen. Deshalb müssen die vom Mord auch mal auf der Straße aushelfen. Und dann werden kurz nacheinander zwei Tote gefunden, eine junge Frau aus dem Osten und ein Musiker aus dem Westen. Den Westbürger übernehmen sofort die Politischen, doch die Unbekannte wird ein Fall für die Zweite. Gleichzeitig wird die Sekretärin Erika Fichte gebeten, die Unterlagen ihres Chefs zu sichten und sich Gedanken zu machen. Über den Verbleib von Wolle ist nichts bekannt.

Es ist der dritte Fall für Otto Castorp. Nachdem der letzte große Fall so dramatisch endete, ist Castorp froh, woanders eingesetzt worden zu sein. Der Mord an der jungen DDR-Bürgerin ist rätselhaft. Die junge Frau wirkt zu unscheinbar, um einen Killer anzulocken. Erika Fichte hingegen fragt sich, wieso sie Fragen zum Verschwinden ihres Chefs klären soll. Gibt es da nicht Profis? Wolle war verantwortlich für die Unterstützung des ANC im Kampf gegen das Apartheidregime in Südafrika. Als Sekretärin hat Erika einen anderen Blickwinkel als die professionellen Ermittler. Sie kennt die Arbeitsweise ihres Chefs.

Schon zwei Jahre vor der Wende sind die Veränderungen, die die Zeit damals brachte, zu spüren. Die Einflussnahme des Systems im Osten auf befreundete Organisationen scheint nicht mehr hundertprozentiger Überzeugung durchgeführt zu werden. Und doch sind sie rührig. Auf spannende Art und Weise schildert der Autor die Zusammenhänge, die schließlich dazu führen, dass sich die Wege unterschiedlichster Personen zu einem packenden Finale kreuzen. Aus der Perspektive verschiedener Personen wird die Erzählung vorangebracht. Und so setzt sich das Puzzle langsam zusammen. Dabei wird die politische Lage informativ und fesselnd mit eingebaut. Die Einflussnahme eines vermeintlich stärkeren befreundeten Staates ist interessant beschrieben und wirkt unerwartet als eine Erklärung, wieso sich manche Staaten heutzutage so und nicht anders positionieren. Dieser spannende zeitgeschichtliche Kriminalroman macht neugierig, ob zu erfahren sein wird, wie Otto Castorp die Wendezeit erleben wird.