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Nilchen

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.10.2022

Eine Verwebung von politischem und privaten Entwicklungen

Lektionen
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Ian McEwan hat so einige hochgelobte Romane hervorgebracht, die gar verfilmt worden sind wie ‚Abbitte‘. Genauso hat er auch schon zwiespältige Romane geschrieben wie ‚Nussschale‘. Es gibt Schwankungen, ...

Ian McEwan hat so einige hochgelobte Romane hervorgebracht, die gar verfilmt worden sind wie ‚Abbitte‘. Genauso hat er auch schon zwiespältige Romane geschrieben wie ‚Nussschale‘. Es gibt Schwankungen, aber was er gerne macht und da kommt mir gleich der etwas ältere Roman ‚Saturday‘ in den Sinn ist das Private mit dem Politischen zu verbinden. Und genau das tut er hier auch. Auch wenn es vordergründig um den Protagonisten Roland Baines geht und dessen gesamtes Leben. Roland Baines, geboren 1948, genau wie Ian McEwan. Überhaupt webt der Autor scheinbar an der ein und anderen Stelle sein eigenes Leben ein, wie sollte es auch ausbleiben, wenn der Blick sich zurückwendet.
Baines ist ein durchschnittlicher Typ, anhand dessen Leben und seinen intimen Erfahrungen auch das großen Weltgeschehen der letzten Jahrzehnte aufgerollt wird und immer wieder die Frage wie weit dringt das Politische in den eigenen Lebensraum ein und verändert uns und den Lauf unseres Lebens.
Bei Baines sind es aus meiner Sicht drei starke Momente die hier zum Tragen kommen: Tschernobyl 1986, da setzt auch der Roman ein. Dann eine Rückblende in seine Jugend ins Jahr 1962 mit der Kubakrise und wieder etwas später auf dem Strahl der Geschichte die Wiedervereinigung. Hier muss man natürlich die starke britische Brille des Autors bedenken. Er kennt sich aus, aber es ist eben ein Blick von außen.
Auf den 700 Seiten kommen natürlich auch noch andere Menschen zum Tragen und vor allem seine deutsche Ex-Frau Alissa, die ihn zum Einsetzen des Romans 1986 verlässt um zu schreiben und ihn mit dem 7 Monate alten Baby zurücklässt. Auch hier wieder ein „klassisches“ McEwan-Motiv in dem er eine moralische Frage in den Raum wirft: Darf man die Familie hinter sich lassen um sein eigenes Glück zu suchen, weil es woanders liegt? Das ist bei weitem nicht die einzige moralische Frage, die hier erörtert wird. Auch sollte man eine Triggerwarnung beachten, denn hier geht es auch zentral um einen nicht-verarbeiteten Missbrauch.
Der große britische Literat, der auch oft als Literaturnobelpreisanwärter gilt, hat mit ‚Lektionen‘ aus meiner Sicht einen guten, aber nicht seinen besten Roman vorgelegt.

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Veröffentlicht am 08.09.2022

Schmal, aber gehaltvoll

Isidor
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Mir hat dieser schmale Band eines jüdischen Lebens in Form von Dr. Israel Geller, auch genannt Isidor, vorzüglich gefallen. Seine Großnichte, Shelly Kupferberg, hat sich der Geschichte ihres Großonkels ...

Mir hat dieser schmale Band eines jüdischen Lebens in Form von Dr. Israel Geller, auch genannt Isidor, vorzüglich gefallen. Seine Großnichte, Shelly Kupferberg, hat sich der Geschichte ihres Großonkels angenommen und sein spannendes wie trauriges Leben in diese Biographie gegossen. Er war ein Mann der sich hochgekämpft hat, von Galizien nach Wien, von unten nach oben. Ein hart arbeitender Mann, der aber auch ein Genießer des schönen Lebens war. Bis die Nazis ihm brutal mit ihrem Judenhass den Boden unten den Füßen entzog.
Dieses Buch ist der Debütroman von Shelly Kupferberg und ist eine sehr persönliche Arbeit. Ob das zu diesem großartigen Schreibstil geführt hat? Sie schreibt mitreißend, gut und hat mich voll überzeugt. Auch wenn dieses Porträt nur knapp 240 Seiten umfasst, zeigt es uns Charaktere mit Ecken und Kanten und zeichnet sie lebhaft.
Das zusätzliche Interview mir Shelly Kupferberg am Ende des Buches über ihre Recherche und Herangehensweise war auch hochinteressant, um die Hintergründe zu verstehen um das Entstehen des Buches. Ach und natürlich ist der Stammbaum ganz am Ende auch hilfreich – ich habe ihn leider erst recht spät entdeckt.
Ein jüdisches Leben – eine Innenansicht, bedrückend und so wichtig diese Erinnerung zu bewahren.

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Veröffentlicht am 04.08.2022

Eine eiskalte Ehrlichkeit

Wütende Bärin
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„Ein Kind zu bekommen ist der äußerste Egoismus, ein Versuch, sich selbst neu zu erschaffen, nur besser. Hat man das Recht, ein Kind zu neunzig Jahren leiden zu verurteilen, nur, um jemanden zu haben, ...

„Ein Kind zu bekommen ist der äußerste Egoismus, ein Versuch, sich selbst neu zu erschaffen, nur besser. Hat man das Recht, ein Kind zu neunzig Jahren leiden zu verurteilen, nur, um jemanden zu haben, in dem man sich wiedererkennt? Sex zu haben, um schwanger zu werden, das kann mir das kam mir absurd vor; nicht zu versuchen, den Samen zu blockieren oder abzutöten, fand ich absolut verantwortungslos.“ (S. 106)

Im Grunde begegnen wir nur drei Personen, aber denen umso intensiver. Denn die Perspektive wechselt reihum. Im Mittelpunkt steht Njal, ein Mann über 40, akademischer Klimaforscher mit dem Hobby der altertümlichen Ritterspiele. Sein Lebensziel, um scheinbar jeden Preis, ist es Vater zu sein und das Vatersein leben zu dürfen. An diesem Ziel ist seine Ehe mit der Pastorin Sol gescheitert. Und deshalb kam seine Kollegin Nina ins Spiel, erst eine Affäre, dann die Mutter seiner Tochter Lotta. Doch Nina leidet unter einer postnatalen Depression und hat Zwangsvorstellungen. Eine hochexplosive Mischung an Charakteren. Die Geschichte dreht sich um diese drei Personen, ihr Miteinander, das Kind und ein Forschungsauftrag, um den sich Nina und Njal streiten. Es soll in den hohen Norden zur Inselgruppe Svalbard gehen um dort das Abschmelzen der Polarkappen zu erforschen.
Ein zermürbendes Kammerspiel wird uns hier aufgeführt mit brutaler Ehrlichkeit. Alle kommen zu Wort aus ihrem tiefsten Inneren. Alle leiden, alle haben ihre Sorgen und die merkwürdigsten Gedanken. So mancher Gedanke, denn ich hier las, befremdete mich und bescherte mir Unbehagen. Ein Roman, in dem sexuelle Kontakte eine große Rolle spielen, ob gewollt oder nicht, ob kontrolliert oder nicht, ob richtig oder falsch. Ein Spiel mit der Psyche, bei allen dreien mit der eigenen und auch gegenseitige Manipulation ist hier vorhanden.
Ach, und die wütende Bärin, die hat nur einen kleinen Auftritt, dafür umso durchschlagender. Die meiste Zeit des Romans spielt im Frühjahr & Sommer in Bergen und erst dann verlagert das Geschehen sich auf den letzten Seiten in eine Hüte, gefühlt am Ende der Welt in die erbarmungslose Kälte.

Die norwegische Autorin Ingebjorg Berg Holm hat sprachlich einen sehr durchdringenden Roman vorgelegt. Die Prosa ist gut geschrieben und als Leserin konnte ich mich (leider) gut einfühlen. Auch bestens von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann übersetzt. Es hat sich ein bisschen so angefühlt beim Lesen als ob man an einer Brombeerhecke steht und die Brombeeren unbedingt essen möchte, sich aber beim Pflügen die Hand zerkratz. Und doch tut man es immer wieder. Keine Lektüre die schnell verklingt, keine Lektüre bei der man sich in Sicherheit wägt und sich wohlfühlen kann. Unbehagen macht sich breit und umklammert einen wie eine kalte nasse Decke, die sich nicht abschütteln lässt, denn es kommen viele extreme Themen zur Sprache wie Vergewaltigung, ungewollte Schwangerschaften, Unfruchtbarkeit, Abtreibungen, Mee too, Samenspende, Behinderungen bei Ungeborenen, psychologischer Druck. Das muss man aushalten können, der Roman ist intensiv und war für mich teilweise erschlagend.

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Veröffentlicht am 21.07.2022

Andre Sprachen, andere Schreibstile

Dämmerstunde
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„Im Lauf der Zeit sorgt menschliche Schwäche dafür, dass man nur einen Bruchteil von seinen ursprünglichen Idealen aufrecht erhält – den Rest passt man eben an, sofern man ihn nicht vollkommen über Bord ...

„Im Lauf der Zeit sorgt menschliche Schwäche dafür, dass man nur einen Bruchteil von seinen ursprünglichen Idealen aufrecht erhält – den Rest passt man eben an, sofern man ihn nicht vollkommen über Bord wirft. Aber selbst das wenige, dass man eigentlich aufrechterhalten wollte, landet letztendlich oft in einer Rumpelkammer der bloßen Erinnerung – das übliche Schicksal von Altenkrempe, für den man schon die längste Zeit keine Verwendung mehr hatte.“ (S. 14)
Dieses Buch ergründet anhand einer fiktionalen Biografie wie der Zufall des Geburtsortes die eigene Zukunft bestimmt. Bak Minu hat es geschafft aus einem Vorort von Seoul sich durch harte Arbeit und Glück hochzuarbeiten und ist angesehener Architekt mit eigener Baufirma. Der Roman erzählt, nicht geradlinig, wie dieser Werdegang verlaufen ist. Reflektierend aus der Sicht von Bak Minu. Hinzu kommt eine zweite Erzählebene, die uns mitnimmt in das traurige Leben der Uhi in der Gegenwart, eine junge Frau, die Regisseurin werden will und nachts zum Überleben in einem 24h-Shop arbeiten muss. Sie haust in einem Souterrain-Zimmer. "Aber keine Bange. Letzten Endes geht's auch mir ums Überleben." (S.87)
Natürlich haben die beiden Erzählstränge miteinander zu tun und natürlich ist es keine leichte Lektüre die hier vorliegt. Aber bereichernd. Der Text ist stoisch und sehr monoton erzählt und doch hat er eine gewisse Kraft und dringt mit seiner Botschaft immer wieder durch. Der Erzählstil ist nüchtern, aber doch mit Anklang zur Poesie. Auch hat mich positiv gestimmt, dass so viele koreanische Elemente enthalten sind, wenn da von Sojus, Gwangju und vielen anderen Begriffen die Rede ist. In der Tat hätte der deutschen Ausgabe ein Glossar gutgetan.
Bezeichnet ist die bauliche Veränderung die um und in Seoul vor sich ging in den letzten Jahrzehnten. Hier wird eindringlich beschrieben wie der Slum verlassen wurde, wie die Städte immer weiter ausfransen, wie der Platz und Raum für die stetig wachsende Bevölkerung nicht nachkam. Auch die wenig menschenfreundliche Art mit Mitarbeitern umzugehen ist ein Kernelement dieses Romans. Leben wurde und wird wenig Wertschätzung entgegengebracht.
Hwang Sok-Yong hat 2015 diesen Roman im Original vorgelegt, nun ist er von Andreas Schirmer ins Deutsche übertragen worden. Dämmerstunde ist ein eigenständiges Werk vom Autor, auch wenn der Klappentext hier irreführend sein kann. Und, wenn das Buch nun gelesen werden sollte, ganz dringend das Nachwort lesen, wenn nicht sogar vorab! Das setzten die Geschichte auch noch einmal in ein anderes Licht.
Fazit: Wer gerne mal sehr koreanisch lesen möchte, ist hier bestens bedient.

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Veröffentlicht am 11.07.2022

Urbanes Gesellschaftsreflektion

Der Biss
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Früher war alles mal anders…. Und nun ist die Welt mehr als komplex und viele werden leider abgehängt. Florian Scheibe gibt uns mit seinem Roman „Der Biss“ ein literarisches Hilfsmittel an die Hand uns ...

Früher war alles mal anders…. Und nun ist die Welt mehr als komplex und viele werden leider abgehängt. Florian Scheibe gibt uns mit seinem Roman „Der Biss“ ein literarisches Hilfsmittel an die Hand uns diesem gesellschaftlichen Wandel einmal fiktional zu nähern.
Es geht im Grunde genommen um einen Vorfall auf dem Spielplatz. Da ist zum einen die Familie die nach neusten Idealen und Vorstellungen lebt. Vegan, nur Bio, David ist Hausmann mit all der Care-Arbeit für den Sohn Jonas, Sybil macht Karriere und ist Nachhaltigkeitsbotschafterin. Natürlich haben die beiden eine tolle Wohnung in hipper Berliner Lage. Jonas, der Sohn ist schwierig und da liegt auch der Pfeffer im Korn.
David ist mit Jonas auf dem Spielplatz und da geschieht es : „Der Biss“. Ein anderes Kind beißt Jonas und David rastet förmlich aus. Der Vater des anderen Kindes ist völlig perplex und versteht die Situation nicht, weil seine Deutschkenntnisse sehr limitiert sind. Petre und seine Frau Aurica kommen aus Rumänien und erhoffen sich ein besseres Leben in Deutschland. Sie ist Krankenschwester, deren Berufsausbildung nicht anerkannt wird und er ist Koch und auf der Suche nach Arbeit.
Der Roman stellt diese diametral gegenüberliegenden Lebenssituationen sehr gut dar und beleuchtet die Gegebenheiten. Hier prallen zwei Welten mit voller Wucht auf einander und die Geschichte spiegelt uns hier so viele Themen die mit Zuwanderung, Gentrifizierung, Diskriminierung, Bubble-Leben, Privilegiertes Leben, Zukunftsvisionen vs Ängste. Ein spannendes gesellschaftliches Portrait unserer urbanen Zeit.
Es gab einige unnötigen Stellen, die den Roman nicht bereichert haben. Das hätte Florian Scheibe sich sparen können. Aus meiner Sicht fast kontraproduktiv zum Kern des Romans. Aber davon mal abgesehen eine gute Lektüre.

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