Vergangenes oder die Angst vor der Zukunft
In “Zeitzuflucht” entwirft der bulgarische Autor Georgi Gospodinov eine Zukunft, in der Menschen in einer Klinik für die Vergangenheit in alten Zeiten leben können. Was zunächst als geriatrische Einrichtung ...
In “Zeitzuflucht” entwirft der bulgarische Autor Georgi Gospodinov eine Zukunft, in der Menschen in einer Klinik für die Vergangenheit in alten Zeiten leben können. Was zunächst als geriatrische Einrichtung für Alzheimer- und Demenzkranke gedacht ist, die in der einzigen Zeit, an die sie sich noch zu erinnern vermögen, glücklich ihre letzten Lebensjahre verbringen sollen, wird schon bald so beliebt, dass sich auch gesunde Menschen in die Zimmer einmieten.
Und dann macht sich die Vergangenheit auf, ganz Europa zu erobern. Plötzlich wollen Menschen wieder an Schreibmaschinen schreiben, wollen, dass ihre Milch von Milchmännern gebracht wird, lesen Zeitungen, hören Radio, tragen Trachten und sprechen antiquiert. Der Höhepunkt der Zeitzuflucht wird erreicht, als es zu nationalen Abstimmungen kommt, in der jedes Land entscheiden soll, in welchem Jahrzehnt sie von nun an leben wollen.
Was ist Vergangenheit? Was sind Erinnerungen? Und vor allem: Wie sicher sind sie und wie sehr kann man sich auf sie verlassen? Bis zu welchem Grad sind sie unsere eigenen und wie sehr werden sie von anderen beeinflusst? Auch: Wie schnell vergessen wir das, was wirklich war, idealisieren das Vergangene, verklären, blenden aus und schwelgen kritiklos?
All diesen Fragen widmet sich Gospodinov mit seinem Gedankenexperiment, das vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine plötzlich nicht mehr nur wie eine utopische Fantasie wirkt, sondern in gewisser Weise längst in die Realität eingedrungen ist.
Und deshalb erscheint es einem plötzlich kaum noch abwegig, wenn sich die Menschen in Bulgarien wieder mit “Genosse” ansprechen und wenn die Rückkehr zum Sozialismus so reibungslos verläuft, dass es wirkt, als wäre er nie weg gewesen.
Trotzdem bleibt der Humor und die Ironie, die die Geschichte ausmachen. Das Komisch-Absurde der ganzen Situation wird immer wieder auf die Spitze getrieben, zum Beispiel wenn der Erzähler eine Karte eines Großbulgariens sieht „von dem ich mich nicht erinnern konnte, wie genau es in dieser Form existiert hätte [...]. Fast ganz Europa war bulgarisch, plus zwei Stück, die von Asien abgeschnitten worden waren“.
Der Roman bricht mit dem Traum einer geordneten Vergangenheit, die Geborgenheit und Sicherheit bietet, weil in ihr die Zukunft bereits feststeht und sie nichts Unerwartetes bereit hält. Er ist klug, scharfsinnig und geistreich. Eine lohnende Lektüre!