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Veröffentlicht am 10.02.2023

Überzeugend

Lapvona
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Lapvona, ein mittelalterliches Fürstentum. Das ist der Ort, an dem Otessa Moshfeghs neuer Roman spielt. Villiam, der Fürst, thront in seinem Schloss über dem Dorf. Mithilfe des Pfarrers, Wachposten und ...

Lapvona, ein mittelalterliches Fürstentum. Das ist der Ort, an dem Otessa Moshfeghs neuer Roman spielt. Villiam, der Fürst, thront in seinem Schloss über dem Dorf. Mithilfe des Pfarrers, Wachposten und Räuberbanden hält er die Dorfbevölkerung unter Kontrolle, erstickt jede Unzufriedenheit im Keim und lässt die Menschen Hunger leiden und verdursten, wenn ihm danach ist.

"Furcht und Schrecken waren gut für die Moral, glaubte Villiam."

Marek ist der Sohn des Lammhirten Jude. Er wächst ohne Mutter auf, ist missgebildet, kindlich und naiv. Als er versehentlich den Sohn des Fürsten umbringt, verändert sich sein Leben schlagartig, denn er zieht ins Schloss und ersetzt dem Fürsten fortan den verlorenen Sohn.

Otessa Moshfeghs Roman kreist, wie man es von ihr gewohnt ist, um das Düstere, Dunkle und bisweilen auch Eklige. Doch er tut dies nicht um derer selbst willen. Er will nicht schockieren, nur um zu schockieren. Ganz im Gegenteil offenbart er durch diesen Fokus die Abgründe der Menschen. Machtverhältnisse, Tyrannei, die Funktionsweisen von Unterdrückung: All diese Themen machen den eigentlichen Kern des Romans aus.

Das gelingt besonders gut durch Mareks Weltenwechsel. Die erste Hälfte des Romans macht den Leser mit dem Leben im Dorf vertraut, die zweite nimmt ihn an Mareks Seite mit ins Schloss, also ganz nah heran an die Lächerlichkeit der Mächtigen. An Villiam, der von ständiger Langeweile geplagt wird und der sich von seiner Dienerschaft bespaßen lässt. Er verkörpert auf anschaulichste Weise eine Herrscherfigur, die den Bezug zur Realität nicht verloren, sondern ihn nie gehabt hat.

Moshfegh zeichnet ein groteskes Porträt der menschlichen Gesellschaft, das zwar im Mittelalter angesiedelt ist, sich aber nie weit weg anfühlt. Und das ist vielleicht das Erschreckende, aber gleichzeitig auch Grandiose an diesem Roman.

Zusätzlich überzeugt der Roman sprachlich, stilistisch und schafft es in gewohnter Moshfegh-Manier, den Lesenden in seine Welt zu ziehen. Deshalb gilt: Lapvona sollte man nicht, man muss es gelesen haben! 🐑

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Veröffentlicht am 05.02.2023

“Ich habe einen Traum...“ für Kinder

Jede*r kann die Welt verändern! - Ich bin Martin Luther King Jr.
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Ein neues Buch in der Reihe „Jeder kann die Welt verändern“. Und es ist ein ganz wunderbares! Dieses Mal steht Martin Luther King Junior im Mittelpunkt. Die Lichtgestalt des friedlichen Protests, des Kampfes ...

Ein neues Buch in der Reihe „Jeder kann die Welt verändern“. Und es ist ein ganz wunderbares! Dieses Mal steht Martin Luther King Junior im Mittelpunkt. Die Lichtgestalt des friedlichen Protests, des Kampfes um die Gleichberechtigung von Weißen und Schwarzen in den USA wird den jungen Leserinnen vorgestellt.

Das gelingt, wie ich finde, ausgesprochen gut! Das Buch beginnt mit Kings Kindheit und Jugend, mit den Ungerechtigkeiten, die er schon während der Schulzeit erlebt und den Fragen, die er sich stellt. Schnell versteht er, welche Macht Worte haben und wie wirksam friedlicher ziviler Ungehorsam sein kann.

Seine Reden, seine Taten sind in die Geschichte eingegangen und in Form dieses Buches wird Kindern beigebracht, wie wichtig es ist, für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zu kämpfen und für den Frieden einzustehen.

Für mich ist es daher ein Buch, das unverzichtbar ist, wenn man möchte, dass die eigenen Kinder nicht nur mit dieser wichtigen historischen Persönlichkeit vertraut gemacht werden, sondern auch verstehen, dass Träume die Realität verbessern können.

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Veröffentlicht am 17.01.2023

Ein harmonisches Gesamtbild

Der Inselmann
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Ein Junge steht mit seinem Vater und seiner Mutter am Ufer eines Sees. Sie warten auf einen Kahn, der sie auf eine Insel übersetzen soll. Es ist Winter, der Kahn kommt nicht, ist im Eis eingefroren. Als ...

Ein Junge steht mit seinem Vater und seiner Mutter am Ufer eines Sees. Sie warten auf einen Kahn, der sie auf eine Insel übersetzen soll. Es ist Winter, der Kahn kommt nicht, ist im Eis eingefroren. Als er die kleine Familie endlich zur Insel, ihrem neuen Zuhause bringt, wirkt dieses wie eine verlassene, unwirtliche Festung.

So fängt dieser außergewöhnliche Roman von Dirk Gieselmann an. Er erzählt die Geschichte eines Jungen, Hans, der in der Natur einer kleinen Insel, die für ihn „von Beginn an die größte der Welt“ ist, obwohl er sie in einer halben Stunde umrunden kann, eine Heimat findet. Er krönt sich selbst zum Inselkönig, macht sich den Ort zu eigen. Benennt beispielsweise die Bucht nach seinem einzigen Freund aus der Stadt, baut sich einen Kalender aus Kieselsteinen am Strand, sucht die Weihnachtsgeschenke für seine Eltern in der Natur und findet im Hund des verstorbenen Schäfers, der vor ihnen die Insel bewohnt hat, einen Freund.

„Hans wollte sie beide umarmen, den Vater, die Mutter, damit sie und diese Welt nicht gleich wieder zerbräche, ganz fest umarmen, damit alles heil bliebe und eins.“

Gieselmann schreibt in einer Sprache, die Bilder heraufbeschwört, die Landschaften vor dem inneren Auge flirren lässt. Das ist teilweise so beeindruckend, dass man bestimmte Sätze und Abschnitte noch mal lesen muss, weil man sie nicht gleich wieder vergessen, sondern festhalten möchte.

„Wohin zieht sich das Frühjahr zurück, bis es zurückkehren darf? Wo übersteht er den Winter?

Aber es sind nicht nur die Naturbeschreibungen, nicht nur das Leben des Jungen auf der Insel, die zu überzeugen vermögen. Es ist das Gesamtbild. Alles harmoniert miteinander, die Sprache ist durchgehend schön, die Geschichte bis zum Ende überzeugend. Selten liest man diese Art von Büchern, die bewegen, ohne tief graben oder laut schreien zu müssen. Die es schaffen, etwas in einem zu berühren, scheinbar mühelos. Und genau solch ein Buch ist „Der Inselmann“.

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Veröffentlicht am 04.09.2022

Geschichte einer Metamorphose

Anleitung ein anderer zu werden
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Wenn man bereits Edouard Louis’ Buch „Das Ende von Eddy” sowie die beiden Bücher über seine Eltern gelesen hat, dann könnte man sich fragen, ob man nicht schon alles gehört hat, was dieser junge Autor ...

Wenn man bereits Edouard Louis’ Buch „Das Ende von Eddy” sowie die beiden Bücher über seine Eltern gelesen hat, dann könnte man sich fragen, ob man nicht schon alles gehört hat, was dieser junge Autor über sein Leben und über seinen sozialen Aufstieg zu erzählen hat. Die Antwort auf diese Frage lautet ganz klar nein und „Anleitung ein anderer zu werden“ ist der Beweis dafür.

Es ist zusammen mit „Das Ende von Eddy“ sein wohl bis dato mutigstes Buch, weil es so persönlich ist und auf eindrückliche, bewegende Weise aus der eigenen Vergangenheit erzählt. Während „Das Ende von Eddy“ vor allem die Kindheit und Jugend zum Thema hat, also die Zeit vor seiner Flucht nach Amiens, setzt „Anleitung“ genau da an.

Der Wunsch nach einem anderen, einem besseren Leben, das nicht von Armut, Gewalt und Prekarität geprägt ist, in der das Schicksal einer jeden Generation der vorherigen bis ins Detail gleicht und in der sich ein homosexueller Junge nicht verstecken und verstellen muss, sorgt dafür, dass der Wunsch entsteht, ein anderer zu werden. Edouard, damals Eddy, will raus aus dem Dorf, will woanders leben, reich werden. Die Flucht wird zu seinem größten Traum, zu seiner Raison d’Être.

Früh merkt er, dass es die Kunst, das Theater, das Kino, die Literatur und das Wissen sind, die ihm den Aufstieg ermöglichen können. Er trifft auf Menschen, die ihm helfen, die ihn dazu ermutigen, seinen Weg zu gehen. Elena, seine Freundin im Lycée und deren Familie werden die ersten, die er sich zum Vorbild nimmt. Doch als er Didier Eribon kennenlernt, wird ihm auch Amiens zu klein. Er will nach Paris, schafft es sogar, an der prestigereichen École normale supérieure aufgenommen zu werden und beginnt schließlich zu schreiben.

Die Aneignung von Wissen, aber auch seine Hartnäckigkeit und der unbedingte Wunsch, sich von der eigenen Herkunft so weit wie möglich zu entfernen, werden zu treibenden Kräften. Louis ändert seinen Namen, lässt sich die Zähne richten, ändert seine Art zu reden, zu lachen, zu essen, sich zu kleiden und sogar zu gehen. Changer (frz. Originaltitel), sich verändern: davon ist fast alles in seinem Leben betroffen.

Édouard Louis hat ein kraftvolles und beeindruckendes Buch geschrieben. Aus jeder Zeile sprechen Schmerz, aber auch ein ungeheurer Wille, ein Antrieb und es ist genau das, was so sehr beeindruckt. Eine große Empfehlung für dieses Buch, das eines der besten ist, die ich in diesem Jahr bisher gelesen habe.

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Veröffentlicht am 22.07.2022

Geschichten, Bilder, Stimmen

Singe ich, tanzen die Berge
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In ihrem Roman “Singe ich, tanzen die Berge” beschwört Irene Solà die Landschaft und das Leben in den Pyrenäen herauf. Zu Beginn des Romans wird ein Mann von einem Blitz getroffen, Hexen erscheinen, eine ...

In ihrem Roman “Singe ich, tanzen die Berge” beschwört Irene Solà die Landschaft und das Leben in den Pyrenäen herauf. Zu Beginn des Romans wird ein Mann von einem Blitz getroffen, Hexen erscheinen, eine Mutter verliert ihren Sohn durch einen Jagdunfall, ein Reh kann seinen Jägern entkommen… Solà lässt einen Chorus von Stimmen ertönen, die sich nebeneinander entfalten, sich miteinander verknüpfen und ein Geflecht an Eindrücken und Bildern ergeben, das zu fesseln vermag, aber gleichzeitig auch herausfordert.

Der erzählten Welt des Romans haftet von Beginn an etwas Mythisches und Archaisches an. Sie lebt von Geschichten, von Wesen wie Wasserfrauen, Geistern und Waldkobolden. Aber auch von Krieg, Verlust und Entbehrungen. Es ist eine Welt, die durch das Leben wie auch durch den Tod geprägt ist.

Dem Roman liegt ein Verständnis von Literatur zugrunde, das über Handlungs- und Spannungsbögen hinausgeht. Es ist die Polyphonie, die diesen Roman ausmacht. Menschen, Tiere, Naturphänomene und die Berge sind in der Wiedergabe ihrer Wahrnehmung gleichberechtigt. Es kommt zu einem Bruch mit dem Monoperspektivischen und auch - das ist meiner Meinung nach besonders hervorzuheben - mit dem Anthropozentrismus. Im Erzählten wird alles eingeschlossen, was die Berge und das Leben in ihnen ausmacht.

“Singe ich, tanzen die Berge” ist ein Buch, das man langsam lesen muss, das man wahrscheinlich noch mal wird lesen müssen, weil es so vielschichtig ist, sich in unterschiedliche Richtungen ausdehnt und weil eine Lektüre nicht ausreicht, wenn man das Erzählte wirklich verinnerlichen möchte. Der Roman ist anders, ist gewagt und widerstrebt jeglicher Einordnung. Deshalb lege ich ihn allen von euch ans Herz, die sich gerne auf Außergewöhnliches einlassen.

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