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Veröffentlicht am 25.07.2022

Der beste, gleichzeitig furchtbarste Filipenko bisher

Die Jagd
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„Rote Kreuze“ hat mich begeistert, „Der ehemalige Sohn“ hat mir gut gefallen. So war für mich klar, dass ich auch den nächsten Roman von Sascha Filipenko lesen werde.

„Die Jagd“ war undurchsichtig wie ...

„Rote Kreuze“ hat mich begeistert, „Der ehemalige Sohn“ hat mir gut gefallen. So war für mich klar, dass ich auch den nächsten Roman von Sascha Filipenko lesen werde.

„Die Jagd“ war undurchsichtig wie das russische Regime, sie war maximal gefährlich, eine echte Herausforderung. Insgesamt war das Gelesene einfach nur grauenvoll und hat mich entsetzt zurückgelassen. Mein Glaube an das Gute im Menschen wurde massiv erschüttert. Der kaum zu ertragende Inhalt wird dermaßen dicht an Opfern und Tätern erzählt, dass es mir vorkam, als wäre ich live als Zuschauer dabei. Diese Tatsache lässt mich diesen neuen Roman noch ein Tucken besser finden als „Rote Kreuze“. Vielleicht ist es auch der aktuelle Kontext, der mich so stark berührt.

Anton Quint ist Journalist. Er berichtet kritisch über das Regime sowie über die Reichen und Schönen. Anton führt ein normales, recht unaufgeregtes Familienleben bis er eines Tages aus Sicht des Oligarchen Slawin den Bogen überspannt. Die Jagd beginnt. Dabei geht es nicht darum, Anton zu erwischen und ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen, sondern eher um perfide Tierquälerei. Erschreckend dabei ist die Geschwindigkeit, in der das Grauen voranschreitet, und die Leichtigkeit mit der es konstruiert werden kann.

Zu Beginn des Romans war ich unsicher hinsichtlich der Charaktere, wer gehört zu wem, wer sind hier die Guten. So stelle ich mir auch das Leben in Russland vor, unsicher. Man muss stets auf der Hut sein, mit wem man offen reden kann und mit wem nicht. Fragwürdig ist darüberhinaus, ob die Vertrauten von heute auch in Zukunft noch zuverlässig sind. Interessant war dann die Entwicklung der beiden Brüderfiguren, die sich jeder auf seine Weise hochgearbeitet haben im Leben. Wirklich gemocht habe ich übrigens keine Figur im Roman, es gibt allerdings verschiedene Grade der Abneigung, die ich empfinde. Mit Anton Quint habe ich so meine Probleme, weil er nicht nur sich selbst in Gefahr bringt mit seiner Berichterstattung. Vielleicht spüre ich auch den Wunsch nach dem ganz großen Coup bei ihm. Die meiste Abscheu empfinde ich gegenüber dem Oligarchen und seinem Sohn.

Das Besondere an der Jagd ist Sascha Filipenko’s Fähigkeit, uns in die Stimmung, in die Gefühlswelt seiner Charaktere eintauchen zu lassen. Da ist das Versnobte und die Langeweile der reichen Oligarchen-Kids sowie die überbordende Aufgeregtheit der Jagenden, die im gegenseitigen Wettbewerb immer noch einen draufsetzen wollen. Sie wirken wie Suchtkranke auf der Suche nach dem nächsten Kick. Sie wissen genau was sie tun, bedienen sich allerdings einer verharmlosenden Sprache, ziehen ihr Tun ins Lächerliche als wäre alles nur ein großer Witz. Auch die Darstellung Anton Quints ist gelungen. Der Journalist verliert, getrieben durch den Wunsch das Richtige zu tun, die Wahrnehmung, wann er genug für seine Ideale gekämpft hatte.

Für mich ist es eine Sache, eine Ahnung im Sinne einer Vorstellung von einem autoritären Regime mit seinen Eliten zu haben, es eine zweite Sache hier in so deutlicher Prosa davon zu lesen und sein eigenes Bild weit ins Negative zu korrigieren. Was ganz anderes aber dürfte es sein, in so einem Regime leben zu müssen. Ganz ehrlich: Ich kann gut nachvollziehen, warum Massen von Menschen ein angepasstes Leben führen und eben nicht gegen ihre Eliten rebellieren. Bevor man ebendiese Massen leichtfertig als Mitläufer bezeichnet, sollte man unbedingt diesen Filipenko lesen.

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Veröffentlicht am 23.07.2022

Schleichender Verlust eines selbst bestimmten Lebens

Die karierten Mädchen
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Klara ist eine neunzigjährige, bereits erblindete Frau, die ihre Lebenserinnerungen festhält, indem sie unzählige Kassetten bespricht. Das ist eine ganz wunderbare Idee, lässt man die Familie nochmal die ...

Klara ist eine neunzigjährige, bereits erblindete Frau, die ihre Lebenserinnerungen festhält, indem sie unzählige Kassetten bespricht. Das ist eine ganz wunderbare Idee, lässt man die Familie nochmal die eigene Stimme hören und schenkt ihr die Lebensgeschichte, gibt vielleicht das ein oder andere Geheimnis preis. So kann möglicherweise manche Reaktion postum besser nachvollzogen werden.

Wir Leser:innen tauchen ab in Klaras Dasein als junge Frau zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 und begleiten sie bis in die späten 1930er Jahre. Zunächst erleben wir eine glückliche Frau, die unverheiratet und unabhängig ihr Leben gestaltet. Als Lehrerin ist es ihr sogar möglich, ihre Familie, deren Pension schwächelt, zu unterstützen. Bald übernimmt sie sogar für ein Findelkind, Tolla, die Verantwortung. Doch wenig später bekommt das Kindererholungsheim, indem Klara tätig ist, finanzielle Probleme. Eine Lösung könnte staatliche Unterstützung sein. Dazu müssen sich Klara und ihre Kolleginnen allerdings auf die Nationalsozialisten einlassen.

So entwickelt Alexa Hennig von Lange mit ihren „karierten Mädchen“ eine kluge und aus meiner Sicht faire Auseinandersetzung mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus. Sie beschönigt nichts, macht aber auch die Nöte der einfachen Leute zur Weltwirtschaftskrise sichtbar. Sie transportiert sehr gut Klaras innere Ablehnung des Systems, das sie braucht, um weiterhin kranke Kinder pflegen und Haushaltungsschülerinnen ausbilden zu können. Die Autorin richtet gleichzeitig ihren Blick auf hundertprozentige Befürworter, Extremisten und die von ihnen verübten Gräueltaten.

Ich muss zugeben, ich mag Klara. Eine aus heutiger Sicht bessere Entscheidung ihrerseits hätte für alle Bewohner des Erholungsheimes ein schlechteres Leben bedeutet. Ihr Findelkind hätte sie ebenfalls nicht aufziehen können. Sympathie empfinde ich darüber hinaus, weil sie jede Lücke des Systems nutzt, um ihren Schützlingen ein Stück Selbstbestimmtheit zu vermitteln, auch wenn die Möglichkeiten dafür immer weniger werden.

Sprachlich sind „Die karierten Mädchen“ sehr eingängig. Der Roman liest sich flott, aufgrund der aufgebauten Spannung habe ich gern immer weiter und weiter gelesen. Zudem schwingen durchgehend die Gefühle der Protagonisten mit, so dass ich auch persönlich von Klara‘s Schicksal berührt wurde. Ich fragte mich direkt und nicht ohne Gewissensbisse, wie ich wohl entschieden hätte. Ein persönliches Highlight stellt das anhaltiner Setting, meine Heimat, dar.

Ich kann Euch diesen Roman nur ans Herz legen. Ich selbst fiebere jetzt der Fortsetzung entgegen, denn der vorliegende Roman ist der erste Band einer Trilogie.

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Veröffentlicht am 17.07.2022

Außergewöhnliche Liebe

Jahre mit Martha
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Željko Drazenko Kovačević, genannt Jimmy, ist Kind von Einwanderern, die zum Arbeiten nach Ludwigshafen gekommen sind. Auf dem Bau und beim Putzen verdienen Jimmys Eltern gerade so viel, dass sie ihre ...

Željko Drazenko Kovačević, genannt Jimmy, ist Kind von Einwanderern, die zum Arbeiten nach Ludwigshafen gekommen sind. Auf dem Bau und beim Putzen verdienen Jimmys Eltern gerade so viel, dass sie ihre fünfköpfige Familie versorgen und in einer Zweizimmerwohnung unterbringen können. Beim vierzigsten Geburtstag seiner Mutter lernt der 15-Jährige Martha Gruber, Professorin in Heidelberg, kennen. In seinen Sommerferien kümmert sich Jimmy um den Garten der Grubers. Marthas Anziehungskraft ist riesengroß. Željko verliebt sich.

Ich mochte Željko. Er ist klug, forscht Themen aus, die er nicht kennt. In der Bibliothek schlägt er Fremdwörter nach, wodurch er vermutlich mehr davon beherrscht als Gleichaltrige mit deutschen Wurzeln. Željko merkt schnell, dass ihm aufgrund seiner Herkunft Steine im Weg liegen, und weiß sehr genau, dass Bildung die Hürden überwinden kann.
In Martha konnte ich mich gut hineinversetzen. Mit beruflich erfolgreichem Werdegang, Mann und Kind steht sie mitten im Leben als sie Jimmy kennenlernt. Vielleicht ist dieses sorglose Leben mit Putzfrau, verwöhntem Kind und regelmäßig abwesenden Mann von einer gewissen Kälte durchdrungen, die durch eine Dankbarkeit und Zuneigung, die Jimmy ihr entgegenbringt, vertrieben werden kann.

So entwickelt sich eine Liebe zwischen den beiden, die manchmal kindlich in einem Rülpswettbewerb endet, die mütterlich wirkt, wenn Martha ihm Bücher schenkt, die aber vor allem von unterdrückter Leidenschaft und Entbehrung geprägt ist. Nur selten geben sich die Liebenden vollends hin. Das macht das Lesen sehr reizvoll und spannend.

Ganz nebenbei taucht man in das Schicksal der Gastarbeiterfamilien und ihren in Deutschland geborenen Kindern ein. Sie sind die Fremden, die mit Vorurteilen bedacht werden und sich doppelt anstrengen müssen, um sich zu bewähren. So tut Željko alles, um sich maximal zu integrieren und ein anerkannter Bürger zu sein. Dabei droht er sich selbst, seine Identität und seine Persönlichkeit, zu verlieren. Das hat mich stark berührt und lässt mich meine empfundene Toleranz neu reflektieren.

Martin Kordić verbindet gekonnt Liebesgeschichte, Gesellschaftskritik und Zeitgeist. Angenehm in Erinnerung bleiben wird mir die Einbettung seiner Geschichte in das Zeitgeschehen. Seine Ausführungen zu Michael Jackson und zur Fußball-WM in Deutschland haben mich selbst zurückversetzt und das jüngere Lebensgefühl wieder aufleben lassen. Kordićs attraktive, wunderbar lesbare Sprache bildet den perfekten Rahmen für seinen Roman.

Sehr gern empfehle ich die Lektüre.

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Veröffentlicht am 14.07.2022

Fall mit interessanter Entwicklung

Später Frost
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Später Frost ist der erste Fall von nunmehr einer ganzen Krimiserie, die Ingrid Nyström und Stina Forss als Ermitterinnen begleitet. Ich bin ca. mittig in die Serie eingestiegen und verfolge die beiden ...

Später Frost ist der erste Fall von nunmehr einer ganzen Krimiserie, die Ingrid Nyström und Stina Forss als Ermitterinnen begleitet. Ich bin ca. mittig in die Serie eingestiegen und verfolge die beiden seitdem zuverlässig. Für dieses Jahr habe ich mir vorgenommen, die noch fehlenden Bände zu lesen.

Nach einem Unfall fällt Ingrids Chef für Ermittlungen aus. Nyström übernimmt seinen Posten und bekommt auch gleich Verstärkung aus Berlin, die Deutschschwedin Stina Forss. Kurze Zeit später gibt es auch schon den ersten Mordfall. Ein übel zugerichteter Schmetterlingsforscher, Balthasar Frost, ist das Opfer.

Die erste Hälfte des Krimis beschäftigt sich verstärkt mit dem Ermittlungsteam, das aus einer großen Anzahl an Personen besteht. Hier die Übersicht zu behalten ist bestimmt nicht einfach. Dadurch, dass ich schon einige Bände gelesen habe, kam ich schnell im Personenkarussell zurecht. Allerdings wurde meine Vorstellung zu den Personen, zum Beispiel hinsichtlich des Aussehens, nochmal angepasst.

Durch die Einführungsphase wurde es erst in der zweiten Hälfte richtig spannend. Faszinierend wurde der Fall dadurch, dass er Kreise zog. Sah es zunächst nach eine lokalen Tat aus, wuchs er sich nach und nach international aus. Stina Forss darf auch schon ein erstes Mal ihren impulsiven Charakter offenbaren. Auch wenn in diesem ersten Band noch nicht allzu viel verraten wird, merkt man, dass beide Hauptfiguren schon ein Päckchen zu tragen haben. Was das genau sein wird, werden vielleicht die nächsten Bände zeigen.

Ich mag im Übrigen die Aufteilung der Ermittlungsarbeit in Tage und untertägig in recht kurze Kapitel. Für mich entsteht dadurch ein zusätzlicher Sog, der mich zügig weiterlesen lässt. Darüberhinaus wirft das Autorenpaar hin und wieder einen Blick auf den Täter, so dass bei mir der Eindruck eines Wissensvorsprungs gegenüber Nyström und Forss entstanden ist.

Insgesamt mochte ich auch diesen Fall und freue mich nun auf den Nächsten.

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Veröffentlicht am 05.06.2022

Keine Zeit für Liebe

Amelia
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Zuletzt hatte ich „Milchmann“ von Anna Burns gelesen und war begeistert von der ungewöhnlichen Annäherung an ihre Figuren sowie der realistisch erscheinenden Härte der Ereignisse. Deshalb wollte ich auch ...

Zuletzt hatte ich „Milchmann“ von Anna Burns gelesen und war begeistert von der ungewöhnlichen Annäherung an ihre Figuren sowie der realistisch erscheinenden Härte der Ereignisse. Deshalb wollte ich auch unbedingt ihren neuen Roman lesen.

Mit „Amelia“ tauchen wir noch deutlicher, in meinen Augen maximal in den Nordirlandkonflikt ein. Die Brutalität, die „Milchmann“ vergleichsweise nur andeutet, wird hier filmreif herausgearbeitet. Die Leser*innen werden wirklich nicht geschont. Die Familien im Kontext des Romans sind arm und kinderreich. Allgegenwärtig ist zudem der Hass zwischen den Konfliktparteien. Die Troubles sind gekennzeichnet durch Straßenschlachten, Diebstahl und Hauszerstörung. Die Leute bringen sich gegenseitig um, Menschen verschwinden einfach, tauchen nie wieder auf. Männer wie Frauen verschanzen sich, kämpfen bis aufs Blut mit einfachsten Mitteln wie Knüppeln und Feuerhaken. Die britische Armee scheint nur zu kommen, um nach den Geschehnissen wieder aufzuräumen. Den Konflikt auseinanderhalten bzw. -treiben tut sie nicht. Über Allem schwebt die stete Sorge wie die Familie am Abend satt werden soll. Die permanente Angst wird mit Alkohol betäubt, der seinerseits die Probleme weiter anschürt.

Die geschaffene Atmosphäre ist düster, das Leben zur Zeit der Troubles erscheint lieblos. Dabei sehnt sich Amelia ihr ganzes Leben lang nach Liebe, Aufmerksamkeit seitens der Eltern, Unterstützung von Geschwistern, gegenseitiges Verständnis unter Freunden, echte Zuneigung vom anderen Geschlecht. Doch all diese Selbstverständlichkeiten sind unter die Räder gekommen. Jeder kämpft nur noch ums nackte Überleben.

Wie schon „Milchmann“ ist auch „Amelia“ ein fordernder Roman. Die Herausforderung liegt hier weniger in der Extravaganz des Schreibstils, mehr im Ertragen des Gelesenen sowie im Überwinden der Zeitsprünge. Die ausufernde Gewalt, der Alkoholkonsum rücken die Charaktere ins Befremdliche. Während „Milchmann“ für mich teilweise dystopische Züge hatte, weil ich mir gut vorstellen konnte, dass Selbiges in naher Zukunft auch möglich ist, ist meine Wahrnehmung hier rein historisch. Den behandelten Kriegszustand möchte ich mir für unsere Zeit nicht vorstellen, wohlwissend, dass viele Menschen dieser Erde unter ebendiesem Umständen leben müssen.

Besonders sensibel erarbeitet wurde der Einfluss von Konflikt und Krieg auf die Lebensläufe der Betroffenen. Dadurch wird deutlich, dass ein Waffenstillstand oder ein ausgehandelter Frieden längst nicht gleichbedeutend mit einem normalen Leben ist. Dieser Aspekt des Romans hat mir am besten gefallen. Insgesamt wieder ein hervorragender Roman von Anna Burns und bestimmt nicht mein letzter.

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