Ein hochemotionaler historischer Roman im Köln der 50er Jahre
FindelmädchenIn „Findelmädchen – Aufbruch ins Glück“ von Lilly Bernstein tauchen wir ein ins Köln der 50er Jahre.
Helga und ihr Bruder Jürgen haben in den Wirren der Nachkriegszeit beide Eltern verloren – die Mutter ...
In „Findelmädchen – Aufbruch ins Glück“ von Lilly Bernstein tauchen wir ein ins Köln der 50er Jahre.
Helga und ihr Bruder Jürgen haben in den Wirren der Nachkriegszeit beide Eltern verloren – die Mutter mutmaßlich verstorben, der Vater nie aus dem Krieg heimgekehrt – und sind nach Jahren in den Trümmern Deutschlands bei liebevollen Zieheltern in Frankreich aufgewachsen. Eine Erinnerung an ihre frühere Kindheit haben beide nicht.
Plötzlich taucht ihr Vater aus der russischen Kriegsgefangenschaft wieder auf und holt die beiden in die Heimat nach Köln zurück.
Zu Beginn ist sowohl bei Jürgen als auch bei Helga die Freude groß, doch schon bald muss vor allem Helga erkennen, dass ihr großer Traum, aufs Gymnasium zu gehen und später Lesen und Schreiben zu studieren, in weite Ferne gerückt ist. Stattdessen schickt ihr Vater sie auf eine Haushaltungsschule, wo sie lernen soll, später eine gute Ehefrau zu sein. Im Zuge eines Praktikums im Waisenhaus muss sie die grausame Behandlung der Kinder durch die Nonnen miterleben und versucht ihr Möglichstes, um den Kindern das Leben zu erleichtern.
Der Schreibstil von Lilly Bernstein ist bildhaft, hochemotional und fesselnd.
Man erfährt die Geschichte aus der Sicht von Helga. Sie wird mit all ihren Gefühlen und Unsicherheiten so gut beschrieben, dass man sie förmlich vor Augen hat und mit ihr mitfiebert.
Auch die anderen Charaktere sind sehr lebendig und authentisch beschrieben. So habe ich von Beginn an eine große Sympathie für Fanny verspürt, die ihren Traum von einer eigenen Milchbar im Haus erfüllen will. Helgas Bruder Jürgen fasst Fuß in Köln, findet Arbeit und auch seine erste Liebe. Aber auch fiese Charaktere wie Tante Meta dürfen in einer gelungenen Geschichte nicht fehlen.
Als zweiter Handlungsstrang sind sehr geschickt Tagebucheinträge der Mutter von 1945 eingefügt, aus denen der Leser Stück für Stück in die Vergangenheit der Kinder blicken kann und so erfährt, was in den Wochen nach Kriegsende tatsächlich passiert ist.
Die Zeit der 50er Jahre, vor allem auch die Stellung der Frau und deren Abhängigkeit von der Männerwelt, werden gut eingefangen. Auch die Folgen des Krieges, die immer noch überall spürbar sind und gleichzeitig der Versuch der Menschen, das Grauen und auch die eigenen Taten unter den Teppich zu kehren, bleiben nicht unerwähnt. Es wird deutlich, dass die Aufarbeitung der Naziherrschaft nicht sofort und allumfassend angegangen wurde.
Auch die Situation der Flüchtlinge aus den von den Nazis zurückeroberten Gebieten findet im Roman Anklang.
Die Geschichte und Erfahrungen von Helga sind teilweise sehr traurig und vor allem die Situationen, die man als Leser im Waisenhaus erfährt, sehr erschreckend, sodass mir der Mund offen stehen blieb und ich auch Tränen in den Augen hatte. Wenn man am Ende des Buches auch noch erfährt, dass die geschilderten Situationen auf Erfahrungen von damaligen Heimkindern beruhen, ist es umso bedrückender.
Sehr schön finde ich hingegen, dass der Autorin gelungen ist, ab und an einen Bezug zum Vorgängerroman „Trümmermädchen“ zu setzen, den man zwar nicht gelesen haben muss, welcher aber nun definitiv auf meiner Wunschliste steht.
Dieses Buch hat in mir während des Lesens eine ganze Palette von Gefühlen ausgelöst – von Fröhlichkeit und Freude bis zu Trauer und Entsetzen war alles dabei. Es war ein Roman, der mich von der ersten Seite an gefesselt und wunderbar unterhalten hat und der in mir noch eine ganze Weile nachklingen wird.
Dafür gibt es von mir eine ganz klare Leseempfehlung!