Eines jener Bücher
Die Stimme meiner SchwesterDies ist eines jener Bücher, die man gelesen haben sollte. Es vermittelt fundierte Kenntnisse über eine Zeit und Gesellschaftsschicht, von denen wir in Europa so gut wie gar nichts wissen: es gab Sklaven, ...
Dies ist eines jener Bücher, die man gelesen haben sollte. Es vermittelt fundierte Kenntnisse über eine Zeit und Gesellschaftsschicht, von denen wir in Europa so gut wie gar nichts wissen: es gab Sklaven, die wurden irgendwann befreit, so wie in den USA während des Bürgerkriegs und alles war gut. Mitnichten. Die ehemaligen Sklaven und ihre Nachkommen waren nur dem Namen nach frei. Wie und wo lebten sie? Hatten sie die gleichen Rechte wie die weißen Plantagenbesitzer? Dieses Buch zeigt, wie ehemalige Sklaven zurechtkamen. Es gibt diesen bisher stimmlosen Menschen eine Stimme, beziehungsweise viele Stimmen. Sie haben nun, nach der Freilassung, die Freiheit, die sie so heiß ersehnt hatten, aber vor dem Gesetz sind sie rechtlos. Sie dürfen zwar gerne von einer Fazenda zur anderen ziehen, aber überall sind die Bedingungen gleich. Sie dürfen sich zwar Häuser bauen, aber nur aus Lehm, der erste Regen vernichtet sie wieder. Sie dürfen für Eigenbedarf Gemüse- und Obstgärten anlegen, aber in den Überschwemmungsgebieten der Flüsse oder wo der schlechteste Boden ist. Anbauen dürfen sie nur, nachdem sie auf den Feldern der Gutsbesitzer gearbeitet haben. Und wenn die Zeit ist, die eigenen Gärten abzuernten, kommt der Verwalter und nimmt ihnen die ganze Ernte weg. Wer nicht beizeiten einen Teil seiner eigenen Ernte versteckt, muss mit seinen Kindern hungern. Kinder dürfen diese ehemaligen Sklaven haben, je mehr, je besser, denn das sind nur zukünftige billigste Arbeiter auf den Plantagen. Schulbildung? Brauchen sie nicht, die Kirche und der Faziendero sagt ihnen alles, was sie wissen müssen. Wenn ein Fazendero zu Tode kommt, kommt sofort die Polizei und ermittelt gegen alle und jeden, Verhaftungen, Schläge, Beschuldigungen, alles was die Exekutive leisten kann. Wenn ein Schwarzer getötet wird, vor aller Augen, legt die Polizei den Fall schnell zu den Akten, als Streit unter Alkohol oder Drogeneinfluß und stellt alle Ermittlungen ein.
Den Menschen steht eigentlich eine Rente zu, für die vielen langen Jahre als Löhner auf den Gütern der weißen Grundbesitzer. Aber dafür benötigen sie Papiere, die beweisen, dass sie tatsächlich gearbeitet haben. Nur haben sie immer ohne Verträge und ohne Bezahlung gearbeitet. Für das Bleiberecht und für die Karen aus Lehm haben sie unentgeltlich auf den Feldern gearbeitet. Also können sie nicht ihre Arbeitsjahre belegen. Die wenigsten Fazenderos sind bereit, ihnen solche Dokumente auszustellen. Dabei werden die Schwarze nicht als Nachkommen der Sklaven anerkannt. “Auf diesen Ländereien hat es nie Quilombolas gegeben” (S. 263), äußern sich die Gutsbesitzer, um die Ansprüche der Schwarzen abzuwehren. Wenn die Schwarzen aber belegen können, dass der Besitzer die Grundsteuer für die Fazenda errichtet hat, können sie aufgrund dieser Urkunde, den Rentenantrag stellen. “Eine Kopie der Bescheinigung über die Bezahlung der Grundsteuer durch den Eigentümer wurde von Hand zu Hand gereicht. Sie galt als Nachweis dafür, dass die Älteren auf der Fazenda gearbeitet und somit Anspruch auf eine Rente hatten.” (S. 184)
Schulen? Werden nur unter Druck errichtet. Weil ein schwarzer Heiler das Kind eines Bürgermeisters geheilt hat und der Heiler als Dank und Lohn den Bau einer Schule erbittet, wird die Schule tatsächlich errichtet. Da trägt auch der Fazendero sogar mit dazu bei, aber nur, weil es ihm gerade in den Kram passt, sich wohltätig zu zeigen, zu beweisen, dass er demokratisch denkt und ein großes Herz für die Schwarzen hat.
Die Religion der Schwarzen in Brasilien ist ein faszinierender und eigenartiger Mix aus Elementen des Voodoo, des Christentums und Bruchstücken des alten animistischen Glaubens, den sie aus Afrika mitbrachten. Die Heiler können ihre Körper und Stimmen Geistern zur Verfügung stellen, die merkwürdige Namen tragen: Santa Rita Pescadeira. Eine heilige Rita gibt es im katholischen Glauben, aber sie ergreift nicht Besitz von Frauen oder Männern. Andere Verzauberte heißen Oxóssi, Mâe d’Água - die Meerjungfrau, Ventania - der Sturm. diese Verzauberten begleiten die Menschen und helfen ihnen, mit ihrem schweren Leben fertig zu werden. Aber nur solange die Menschen noch an sie glauben.
Die Heiler tragen zwei Namen: den offiziellen, José Alcino da Silva, aber auch einen Heilernamen, unter dem sie eher bekannt sind: Zeca Chapéu Grande. José Alcino da Silva muss schuften, wie ein Sklave, der er im Grunde immer noch ist, trotz der posaunten Freiheit. Als Zeca Chapeu Grande wird er verehrt, sein Wort hat Gewicht und er ist bestrebt, Gutes zu tun. Er heilt Menschen, nimmt sie unentgeltlich in seinem Haus auf, bis die Behandlung gewirkt hat, er überredet den Bürgermeister, eine Schule zu bauen, ist dabei aber bitterarm und haust mit Frau und Kindern in einer Lehmhütte, die jeder Regen in den Boden spülen kann.
Das Buch ist faszinierend. Die Menschen die da zu Wort kommen, hätten wir sonst nie kennengelernt, In einfachen Sätzen erzählen sie unaufdringlich von ihrem harten Leben, den Entbehrungen und ihren Schmerzen. Das Buch offenbart uns ein Leben, wie wir es uns nie hätten vorstellen können im 20. Jahrhundert.