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Veröffentlicht am 18.09.2022

Episodenhafte Erinnerungen

Sempre Susan
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Sigrid Nunez ist 25 Jahre alt, als sie die bereits berühmte und berüchtigte Susan Sontag 1976 als Assistentin unterstützen soll. Sie lernt mit dieser schwierigen Persönlichkeit umzugehen, aus allernächster ...

Sigrid Nunez ist 25 Jahre alt, als sie die bereits berühmte und berüchtigte Susan Sontag 1976 als Assistentin unterstützen soll. Sie lernt mit dieser schwierigen Persönlichkeit umzugehen, aus allernächster Nähe, denn schon bald verliebt sie sich in Sontags Sohn David und zieht in das gemeinsame New Yorker Apartment ein. Dieses Intermezzo zu dritt dauert ca. ein Jahr und hauptsächlich aus dieser Zeit schöpft Nunez episodenhaft Erinnerungen.

Tatsächlich erfährt man wenig über die Beziehung zwischen Nunez und David Rieff, die Autorin stellt klar Sontag in den Mittelpunkt. Nunez beschreibt Sontag anschaulich, als eine hyperaktive Frau, die viel Ausdauer besaß, jedoch unglaublich disziplinlos war; die ihre Kindheit und Schlaf als Zeitverschwendung betrachtete, dafür aber ein übergroßes Bedürfnis nach ständiger Gesellschaft hatte; eine Masochistin und eine Sadistin, die gerne andere demütigte. Eine Frau, die zu Übertreibungen neigte, von einer obsessiven Neugier getrieben war und schrecklich indiskret war.

Dennoch spricht auch viel Bewunderung aus ihren Zeilen. Nunez las, was Sontag ihr empfahl, sortierte ihre Bücher so, wie Sontag es tat und nahm sich viele andere Ratschläge zu Herzen. Für sie war es ein "Glücksfall" Sontag kennengelernt zu haben: "... ihr Einfluss auf meine Art zu denken und zu schreiben [war] tiefgreifend." (S. 55)

Dieses schmale Werk (141 Seiten) wirft ein sehr intimes Licht auf Sontag, offenbart vielerlei Unbekanntes, das selbst in der 900-Seiten-Biographie von Benjamin Moser nicht enthalten ist bzw. auch nicht sein kein. Die Person Sontag wird in all ihrer Widersprüchlichkeit nahbarer, Charakterzüge mit Verhaltensweisen und Erlebnissen unterfüttert.

Für mich ein sehr gutes und interessantes episodenhaftes Porträt, das viele Aspekte auf den Punkt bringt. Es hat mir sehr gut gefallen und eigentlich müsste man es gleich ein zweites Mal lesen, um Sprache und Inhalt abermals auf sich wirken zu lassen.


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Veröffentlicht am 25.08.2022

Steigt mit ein!

Lincoln Highway
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Ein unglaublich schönes Buch hat Amor Towles hier vorgelegt, voller wunderbarer und skurriler Figuren, atmosphärischer Bilder und kluger Sätze.

Als sein Vater stirbt, wird der 18-jährige Emmett 1954 vorzeitig ...

Ein unglaublich schönes Buch hat Amor Towles hier vorgelegt, voller wunderbarer und skurriler Figuren, atmosphärischer Bilder und kluger Sätze.

Als sein Vater stirbt, wird der 18-jährige Emmett 1954 vorzeitig aus Salina entlassen, einer Jugendbesserungsanstalt in Kansas. Die elterliche Farm fällt an die Bank und Emmett und sein achtjähriger Bruder Billy wollen neu anfangen. Nur mit einem Rucksack und im 1948 Studebaker soll es nach Kalifornien gehen, denn dort will Billy unbedingt seine Mutter finden, die die Familie vor Jahren verließ und nur einige Postkarten geschickt hat. Diese Postkarten zeigen Orte entlang des legendären Lincoln Highway, der von New York nach San Francisco führt und 1912 erfunden wurde. Als jedoch zwei Kumpel bei Emmett auftauchen, die sich selbst aus Salina entlassen haben, gerät die Fahrt zu einer fulminanten Reise quer durch die USA. Immer dabei: Billys heiß geliebtes Handbuch von Professor Abernathie "Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden" - das 25. Kapitel ist für Billys Abenteuer bestimmt.

Was für ein Roadtrip! Auf 575 Seiten sind wir hautnah dabei, wenn der Weg unserer Helden von den merkwürdigsten Gestalten und Begebenheiten gekreuzt wird. Immer wieder nimmt die Handlung eine unerwartete Wendung und man fragt sich, ob die Jungs überhaupt je ankommen werden.

Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt, das macht die Handlung besonders spannend und schnell und bietet zudem die Möglichkeit für einige Cliffhanger. Die Handlung ist so dicht und gleichzeitig federleicht erzählt und strotzt voller gehaltvoller Sätze, Weisheiten und Querverbindungen; oft genug durch den altklugen Billy zum Besten gegeben. Alle Charaktere sind mit unglaublicher Detailfreude dargestellt, nicht nur Emmett und Billy, auch Woolly und Duchess, die beiden Ausreißer. Um sie entfalten sich Geschichten, die jeweils für ein eigenes Buch gereicht hätten. Dem Autor gelingt es großartig für jede Figur eine eigene Sprache zu finden.

Ich bin voll auf begeistert von dieser Geschichte, die einen einsaugt, wenn man erstmal mit dem Lesen begonnen hat. Manchmal haftet ihr etwas Märchenhaftes an, aber das hat mir besonders gut gefallen. Sprachlich und inhaltlich hat mich der Roman total überzeugt und ich kann ihn nur aus vollem Herzen weiterempfehlen.


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Veröffentlicht am 09.08.2022

Spannendes Porträt einer Nicht-Ikone

Susan Sontag. Geist und Glamour
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Sie wollte weder das Label als feministische Autorin, das der lesbischen Schriftstellerin, noch das der Miss Camp und doch war sie auch all das. Daniel Schreiber zeichnet den Lebensweg von Susan Sontag ...

Sie wollte weder das Label als feministische Autorin, das der lesbischen Schriftstellerin, noch das der Miss Camp und doch war sie auch all das. Daniel Schreiber zeichnet den Lebensweg von Susan Sontag (1933-2004) nach, von der vaterlosen Kindheit bis zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und ihrem Tod im darauf folgenden Jahr.

Von Susan Sontag wußte ich vor diesem Buch kaum etwas, das hat sich nun geändert. Schreiber hat das Leben und Werk der amerikanischen Intellektuellen in das jeweilige Umfeld aus Gesellschaft, Literatur, Kunst, Politik, Freundschaften etc. gekonnt eingebettet und die Beziehungen und Einflüsse auf Sontag und ihre Texte und auch ihre Einflüsse auf andere herausgearbeitet. Das liest sich sehr, sehr interessant und viele Arbeiten wären ohne den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund nicht einzuordnen. Schreiber setzt Sontags Texte in Bezug zu anderen Autorinnen und Autoren, erläutert die Entstehungsgeschichten und fast die Texte auch zusammen. Ich gebe gerne zu, dass ich hier nicht immer alles verstanden habe. Es geht oft um Theorien, vor allem in ihren Essays. Dennoch hat man selbst bei den kompliziertestes Passagen zumindest eine Ahnung, um was es Sontag ging.

Schreiber schildert den teilweise problematischen Alltag, die schwierigen Partnerschaften, die ständigen Geldsorgen, die Versagensängste, die schwere Krankheit Sontags und ihre nicht enden wollende Umtriebigkeit, ihr großes Interesse für alles, was mit Kunst und Kultur zu tun hatte.

Herausgekommen ist das Porträt einer Frau, die von Ambivalenz geprägt war, die sich oft selbst inszenierte und sich einer eigenen Anspruchshaltung in Bezug auf ihr Schaffen gegenübersah, die sie häufig nicht erfüllen konnte. In Perioden großer Produktivität ersann sie so viele Projekte, dass häufig keines davon umgesetzt wurde. Ein schönes Zitat von Jeff Seroy, Publicity-Direktor ihres Verlages FSG, zeigt auf, wie radikal sie auch mit den Menschen in ihrer Umgebung umging: "Bei Susan saß man entweder auf dem Beifahrersitz, oder man war ein überfahrenes Tier am Straßenrand, aber auf dem Beifahrersitz war es eine großartige Erfahrung." (S. 250f.)

Insgesamt hat mich die Biografie wahnsinnig fasziniert und ich habe mit Schrecken festgestellt, wie viele Personen aus dem engeren und weiteren Umfeld von Sontag mir nichts gesagt haben. Das Buch ist voller Post-Its und ich werde noch weitere Bücher über und vor allem auch Texte von Sontag lesen. Als umfassende Einführung in Leben und Werk fand ich das Buch ideal.

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Veröffentlicht am 09.08.2022

Eine Jugend auf Sand gebaut

Das Leben vor uns
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Anja und Milka sind zwei Teenager, die Musik und Jungs im Kopf haben. Die aber auch über Politik und Literatur diskutieren und sich auf die Zukunft freuen, auf die Zeit, wenn sie endlich erwachsen sind. ...

Anja und Milka sind zwei Teenager, die Musik und Jungs im Kopf haben. Die aber auch über Politik und Literatur diskutieren und sich auf die Zukunft freuen, auf die Zeit, wenn sie endlich erwachsen sind. Aber sie werden in der Sowjetunion der 80er Jahre erwachsen; in einem Umfeld, das noch von der Revolution, dem Krieg, der Angst vor der Tyrannei von Lenin und Stalin und der allgegenwärtigen Mangelwirtschaft geprägt ist. In all diesem Chaos des eigenen Lebens und dem Chaos um sie herum, halten Anja und Milka zusammen. Sie verbringen herrliche Sommer in der Datscha der Eltern, feiern und treffen sich mit Jungs. Aber der Zusammenbruch der Sowjetunion geht auch an den Mädchen nicht spurlos vorüber.

Kristina Gorcheva-Newberry hat einen fulminanten Debütroman geschrieben. Eine Geschichte vom Erwachsenwerden hinter dem eisernen Vorhang. Voller kluger Sätze, voller Widersprüche und Zerrissenheit. Es wird ein Einblick in die "russische Seele" gegeben und das in wunderbar bildhafter Sprache.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, das nicht nur eine besondere Coming-of-Age-Story enthält, sondern - aktueller denn je - auch stark die Politik des Landes thematisiert. Dies kann in einer Geschichte, die im Zeitalter von Glasnost und Perestroika spielt, auch gar nicht anders sein. Während wir im Westen voller Freude die Politik von Generalsekretär Gorbatschow begrüßt haben, sahen die Sowjetbürger zerfallen, woran sie Jahrzehnte geglaubt hatten. Ihre völlige Orientierungslosigkeit versteht die Autorin gekonnt abzubilden. Die beiden Mädchen und ihre Freunde stehen für die verlorene Jugend dieser Zeit, deren Zukunft so verheißungsvoll begann, aber offene Grenze sind nicht alles.

Der Roman hat wunderbare helle Momente, ist aber grundsätzlich von einer eher traurigen und melancholischen Stimmung geprägt. Der im Zentrum der Geschichte stehende Apfelgarten von Anjas Eltern spiegelt den gesamten Roman wider und steht zudem in enger Verbindung zu Tschechows Theaterstück "Der Kirschgarten". Leider wurde der englische Originaltitel "The Orchard" nicht wörtlich übersetzt - schade.

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Veröffentlicht am 28.07.2022

Beeindruckend geschriebene Familiengeschichte

Die Unschärfe der Welt
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Hannes ist Pfarrer im rumänischen Banat; seine Frau Florentine ist schwanger, fast verliert sie ihr Kind. Mit dem Blick auf dieses Paar und seine Umgebung, auf die Freunde im Dorf und den Besuch aus Ostdeutschland ...

Hannes ist Pfarrer im rumänischen Banat; seine Frau Florentine ist schwanger, fast verliert sie ihr Kind. Mit dem Blick auf dieses Paar und seine Umgebung, auf die Freunde im Dorf und den Besuch aus Ostdeutschland beginnt der Roman von Iris Wolff. In sieben Episoden wird die Geschichte dieser Familie über vier Generationen erzählt. Dabei entfaltet die Autorin in einer unglaublich zarten Sprache mit vielen Bildern eine ruhige und doch fesselnde Geschichte. Dabei kommen die innersten Gedanken der Charaktere ans Licht, über Heimat, Familie, Freundschaft, Liebe und Verlust aber auch die äußeren Umstände werden deutlich aufgezeigt: Bespitzelung, Willkürsystem, Folter, Verfolgung, Flucht und Widerstand.

"Vielleicht wäre es besser, die frühen, glücklichen Erinnerungen nicht zu haben. Vielleicht wäre es ohne überhaupt nicht zu ertragen." (S. 90)

Der grazilen und doch präzisen Sprache der Autorin stehen die eher verhaltenen Stimmen der Figuren gegenüber, allen voran Florentine und ihr Sohn Samuel. Florentine schweigt lieber, anstatt zu reden. Für sie können Worte nur unscharf die Welt wiedergeben, die man durch Erfahrung kennenlernt. Der Roman ist oft vor allem durch die Gedanken der Figuren geprägt. Gedanken z.B. über ein System, das aufrechterhalten wird, obwohl es ein Phantasiegespinst ist und das schließlich doch zusammenbricht.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Trotz der episodenhaften Anlage des Romans sind für mich keine Lücken in der Handlung entstanden. Die 213 Seiten hatte ich nicht so schnell gelesen, wie gedacht. Das Beziehungs- und Familiengeflecht der Personen ist überschaubar, aber es stehen so viele kluge Sätze in diesem Buch und - ich kann es nur wiederholen - in einer so schönen poetischen Sprache, dass man sich dafür Zeit nehmen sollte.

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