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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 16.08.2022

Ein Finanzgenie

Treue
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New York in den 1920er-Jahren: Die Wirtschaft boomt, die Finanzbranche wächst. Und ein Mann profitiert davon besonders. Selbst beim großen Börsencrash 1929 fährt er saftige Gewinne ein. Welche Art Mensch ...

New York in den 1920er-Jahren: Die Wirtschaft boomt, die Finanzbranche wächst. Und ein Mann profitiert davon besonders. Selbst beim großen Börsencrash 1929 fährt er saftige Gewinne ein. Welche Art Mensch ist er? Und wie ist dieser erstaunliche Erfolg bloß möglich?

„Treue“ ist ein Roman von Hernan Diaz.

Meine Meinung:
Der Roman gliedert sich in vier Teile, die als Werke unterschiedlicher Urheber ausgegeben werden: der Roman „Verpflichtungen“, eine Autobiografie, ein Memoir und ein Tagebuch, erzählt aus verschiedenen Perspektiven. Ein interessanter und gut durchdachter Aufbau.

Die Geschichte fokussiert sich auf die 1920er- und 1930er-Jahre, umspannt aber auch weitere Jahrzehnte. Ihr Schwerpunkt liegt in New York.

Sprachlich variiert der Roman sehr stark. Das passt einerseits hervorragend zu den verschiedenen, teils unzuverlässigen Erzählstimmen, ihren jeweiligen Hintergründen und Intentionen. Andererseits sorgt dies dafür, dass mich manche Teile mehr, manche weniger angesprochen haben. Vor allem der zweite Teil ist in stilistischer Hinsicht kein Vergnügen. Festzustellen ist aber, dass es der Autor trefflich versteht, mit Sprache umzugehen. Immer wieder tauchen kluge Sätze und Gedanken auf, die man sich merken möchte.

Für mich gibt es im gesamten Roman keine klassischen Sympathieträger. Dennoch haben wir es mit reizvollen Charakteren zu tun, die bewusst ein wenig ambivalent und diffus bleiben.

Inhaltlich dreht sich die Geschichte - zumindest vordergründig - um Reichtum, Macht, Moral und Deutungshoheit. Der Handel an der Börse und die Finanzwelt nehmen breiten Raum ein. Davon sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen, denn es gelingt Diaz sehr gut, diese Themen verständlich zu machen. Darüber hinaus steckt aber noch viel mehr darin, wobei ich an dieser Stelle nicht zu viel vorwegnehmen möchte. Ich kann allerdings verraten, dass Täuschung und Wahrheit weitere zentrale Motive sind. Alles in allem ist die Geschichte facettenreich und vielschichtig angelegt.

Auf den mehr als 400 Seiten gibt es durchaus kleinere Längen. Durch die unterschiedlichen Perspektiven kommt aber dennoch keine Langeweile auf. Zum einen kann der Roman immer wieder überraschen. Zum anderen entsteht ein spannendes Verwirrspiel, was den Lesesog noch verstärkt. Sobald man glaubt, man habe verstanden, wie sich alles zugetragen hat, lässt ein neues Mosaiksteinchen das zuvor Gelesene in neuem Licht erscheinen. Erst am Ende ergibt sich ein vollständiges Bild. Dann wird die Gesellschaftskritik in Gänze ersichtlich, die dazu führt, dass der Roman noch länger nachhallt.

Nur ein kleines Manko: Der deutsche Titel kommt bei Weitem nicht an die Mehrdeutigkeit des englischsprachigen Originals („Trust“) heran und passt nach meinem Empfinden nur mäßig gut zum Inhalt.

Mein Fazit:
Mit „Treue“ ist Hernan Diaz ein in mehrfacher Sicht ungewöhnlicher und kreativer Roman gelungen. Eine besondere Geschichte mit vielen Ebenen, die zwar ein wenig Ausdauer erfordert, die sich aber lohnt. Eine empfehlenswerte Lektüre und ein Lesehighlight des Jahres 2022.

Veröffentlicht am 16.08.2022

Von übellaunigen Drachen und störrischen Prinzessinnen

Der kleine Raubdrache
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Der kleine Drache hat es nicht leicht. Er will keine Prinzessinnen rauben, weil das eine undankbare Aufgabe ist. Aber er hat keine Wahl und daher schlechte Laune. Und dann läuft auch noch alles schief…

„Der ...

Der kleine Drache hat es nicht leicht. Er will keine Prinzessinnen rauben, weil das eine undankbare Aufgabe ist. Aber er hat keine Wahl und daher schlechte Laune. Und dann läuft auch noch alles schief…

„Der kleine Raubdrache - Das vorschriftsmäßige Rauben von Prinzessinnen“ ist ein Kinderbuch von Dagmar H. Mueller, geeignet für Jungen und Mädchen ab fünf Jahren.

Meine Meinung:
Die Geschichte besteht aus 18 Kapiteln mit einer angenehmen Länge. Zeit und Ort bleiben unklar, sind aber fürs Verständnis irrelevant.

Die Sprache ist auf die Altersgruppe abgestimmt. Die Beschreibungen sind anschaulich und gut verständlich. Der Text eignet sich gut zum Vorlesen. Einzelne Wörter wie „mucksch“ sind allerdings schon recht speziell.

Der kleine Drache ist ein sympathischer Protagonist. Auch die frechen Prinzessinnen sind interessante Charaktere.

Auch in inhaltlicher Hinsicht hat uns das Buch überzeugt. Die Geschichte um Drachen und Prinzessinnen, die sich gegen Rollenerwartungen, Klischees und Zwänge auflehnen, ist nicht nur ein amüsantes Lesevergnügen. Sie liefert auch Gesprächsstoff und vermittelt begrüßenswerte Botschaften.

Die Illustrationen von Sabine Rothmund gefallen uns ebenfalls sehr gut: zeitgemäß, mit Liebe zum Detail und lustigen Elementen. Sie ergänzen die Geschichte perfekt.

Die Covergestaltung spricht uns ebenso sehr an. Der Titel ist recht lang und etwas redundant, aber passt zum Inhalt.

Mein Fazit:
Mit „Der kleine Raubdrache - Das vorschriftsmäßige Rauben von Prinzessinnen“ ist Dagmar H. Mueller ein witziges Vorlesebuch gelungen, das auf liebevolle Weise mit Geschlechter- und Rollenklischees spielt. Pädagogisch sinnvoll und zugleich unterhaltsam. Wir freuen uns schon jetzt auf die angekündigte Fortsetzung.

Veröffentlicht am 15.08.2022

Ein Jahr mit dem Zesel

Grimm und Möhrchen – Frühling, Sommer, Herbst und Zesel
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Buchhändler Grimm muss nicht mehr alleine in seinem Haus im Dorf leben. Der kleine Zesel Möhrchen ist zu einem Freund und Mitbewohner geworden. Zusammen entdecken sie die Bräuche der Menschen...

„Grimm ...

Buchhändler Grimm muss nicht mehr alleine in seinem Haus im Dorf leben. Der kleine Zesel Möhrchen ist zu einem Freund und Mitbewohner geworden. Zusammen entdecken sie die Bräuche der Menschen...

„Grimm und Möhrchen - Frühling, Sommer, Herbst … und Zesel“ von Stephanie Schneider ist der zweite Band um den Buchhändler und seinen ungewöhnlichen Mitbewohner, geeignet für Kinder ab fünf Jahren.

Meine Meinung:
Wieder ist das Kinderbuch in Kapitel mit einer angemessenen Länge eingeteilt. Dieses Mal sind es 14. Die Überschriften sind einfach, aber passend.

Die Beschreibungen sind anschaulich, alle Texte für die Altersgruppe entsprechend formuliert. Zum Vorlesen eignet sich das Buch sehr gut. Wegen der großen Schrift können Grundschüler aber auch alleine darin stöbern. Besonders gefallen hat mir der immer wieder aufblitzende Wortwitz.

Vorkenntnisse des ersten Bandes sind nicht vonnöten. Das Buch erschließt sich auch so. Ich empfehle dennoch, zunächst den Auftaktband zu lesen.

Wie schon im ersten Buch stehen der liebenswerte Buchhändler und der Zesel im Vordergrund der Geschichte. Ein wunderbares Gespann. Vor allem der freche, sympathische Zesel konnte mich erneut begeistern.

Inhaltlich begleitet der Leser die beiden chronologisch durch ein ganzes Jahr. Die Kapitel lassen sich auch einzeln lesen. Thematisch bietet es sich an, das Buch immer wieder zu den jeweiligen Anlässen hervorzuholen, zum Beispiel zu Karneval, im Herbst und an Weihnachten. Die Geschichte überzeugt mit fantasievollen Einfällen und pädagogisch einwandfreien Botschaften.

Praktisch sind die zwei Lesebändchen, farblich passend in Schwarz und Weiß, denn das Buch mit mehr als 130 Seiten lässt sich nicht in einem Rutsch lesen.

Die bunten Illustrationen von Stefanie Scharnberg sind rundum gelungen. Sie wirken zeitgemäß und sind mit viel Liebe zum Detail gestaltet. Manche Zeichnungen erstrecken sich über eine Doppelseite, manche sind etwas kleiner. Allen gemeinsam ist, dass sie die Geschichte auf hübsche Weise bereichern und das Textverständnis erleichtern.

Das Cover ist ebenfalls wieder sehr ansprechend geworden. Der Titel ist treffend gewählt.

Mein Fazit:
Mit „Grimm und Möhrchen - Frühling, Sommer, Herbst … und Zesel“ ist Stephanie Schneider eine schöne Fortsetzung ihres kreativen Kinderbuches gelungen. Wir hoffen auf weitere Geschichten über dieses Duo.

Veröffentlicht am 26.07.2022

Was es heißt, eine Frau zu sein

Es ist ein Mädchen
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Rouen im Jahr 1959: Oh nein, schon wieder ein Mädchen! Für den Allgemeinmediziner Matthieu Barraqué ist die Geburt seiner Tochter Laurence eine Enttäuschung. Wie sehr hätte er sich über einen Jungen gefreut. ...

Rouen im Jahr 1959: Oh nein, schon wieder ein Mädchen! Für den Allgemeinmediziner Matthieu Barraqué ist die Geburt seiner Tochter Laurence eine Enttäuschung. Wie sehr hätte er sich über einen Jungen gefreut. Es wird nicht das letzte Mal bleiben, dass Laurence die Last ihres Geschlechtes spürt…

„Es ist ein Mädchen“ ist ein Roman von Camille Laurens.

Meine Meinung:
Untergliedert in vier Teile und einen Epilog, ist der Aufbau komplexer als zunächst gedacht. Schon im umfassenden ersten Teil, der sieben Kapitel umfasst, wechselt die Perspektive mehrfach. Mal wird aus der Ich-Perspektive aus Sicht von Laurence erzählt, mal in der Du-Perspektive. Die Handlung erstreckt sich über etliche Jahrzehnte und spielt vorwiegend in Rouen.

In sprachlicher Hinsicht hat mir vor allem der erste Teil besonders gut gefallen. Er ist gespickt mit Wortspielen und gewitzten Formulierungen. Diese Raffinesse verliert sich leider etwas im weiteren Verlauf des Romans. Auffällig ist jedoch, dass der schnörkellose Schreibstil im gesamten Roman Emotionen sehr gut zu transportieren vermag.

Laurence ist keine klassische Sympathieträgerin. Sie wirkt in Bezug auf ihren Charakter wegen ihrer Ecken und Kanten sehr menschlich. Ihre Lebensgeschichte per se ist jedoch überspitzt gezeichnet. Sie ist sozusagen eine Mischung unterschiedlicher Schicksale und Erlebnisse, die in diesem Umfang nicht einer einzigen Person zuzuordnen sind.

Die Ausgestaltung der Figur hat damit zu tun, dass die Autorin offenbar sämtliche Facetten von Misogynie und der Benachteiligung von Frauen vor Augen führen wollte, ohne ein riesiges Personal unterzubringen. Darin ist auch das Hauptthema des Romans zu suchen. Sie schildert anhand der fiktiven Geschichte der Protagonistin, wie Frauen von der Geburt bis ins hohe Alter diskriminiert, abgewertet und übervorteilt werden, wie sie Opfer von psychischer, physischer und insbesondere sexueller Gewalt werden und nur auf dem Papier gleichberechtigt sind. Zwar wiederholen sich einige Aspekte, und in der Summe erscheint die Geschichte recht überzogen. Dies ist jedoch mit Sicherheit so gewollt. Der Roman hat es geschafft, auch bei mir für einige Aha-Momente zu sorgen, obwohl ich mich schon intensiv mit feministischen Themen befasst habe. Zudem fiele mir persönlich auch keine bessere Umsetzung ein, um alle Bestandteile von Misogynie abzudecken, ohne einen Wälzer zu schreiben.

Das vorliegende Werk ist mit seinen knapp 250 Seiten kein unterhaltsamer Schmöker, sondern ziemlich kompakt. Der Roman hat mich nicht nur zum Nachdenken angeregt. Er hat mich auch an mehreren Stellen überrascht.

Das deutsche Cover finde ich ansprechend und auch in Bezug auf das Motiv gelungen. Der mehrdeutige Titel des Originals („Fille“) lässt sich schwer ins Deutsche übertragen. Die gewählte Lösung kommt aber nahe heran.

Mein Fazit:
„Es ist ein Mädchen“ von Camille Laurens ist mehr eine feministische Anklage als ein Unterhaltungsroman. Bei mir hat das Buch einen Nerv getroffen. Eine empfehlenswerte Lektüre!

Veröffentlicht am 05.07.2022

Eine lehrreiche Liebeserklärung ans Buch

Papyrus
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Seit fast 5000 Jahren faszinieren das Buch und seine Vorstufen die Menschheit. Wie ist es entstanden und wie hat es sich entwickelt? Eine Reise in die Geschichte fördert Erstaunliches zutage.

„Papyrus ...

Seit fast 5000 Jahren faszinieren das Buch und seine Vorstufen die Menschheit. Wie ist es entstanden und wie hat es sich entwickelt? Eine Reise in die Geschichte fördert Erstaunliches zutage.

„Papyrus - Die Geschichte der Welt in Büchern“ ist ein literaturhistorisches Sachbuch mit autobiografischen Zügen von Irene Vallejo.

Meine Meinung:
Das Buch besteht aus zwei Teilen, die insgesamt 34 Kapitel umfassen. Sie werden eingerahmt durch einen Prolog und einen Epilog.

Die Sprache ist leicht verständlich, sehr anschaulich und unprätentiös, aber nicht zu simpel. Dank des plastischen Schreibstils gelingt es der Autorin, Historisches auf lebhafte Art zu vermitteln.

Inhaltlich liegen die Schwerpunkte eindeutig auf den alten Griechen und dem antiken Rom. Wissenswerte Details und weniger bekannte Aspekte rund um Bücher, Bibliotheken und das Schreiben greift das Buch auf und stellt damit auch für Geschichtsbewanderte eine große Fundgrube dar.

Trotz der mehr als 600 Seiten konnte mich die Autorin immer wieder überraschen. Längen und Wiederholungen halten sich in Grenzen. Zwar ist das Buch aufgrund des Themas und der Faktenfülle in inhaltlicher Sicht durchaus gewichtig und lässt sich nicht in Rekordtempo durchlesen. Dennoch hat es mich zu keinem Zeitpunkt gelangweilt.

Obwohl der Fokus auf der länger zurückliegenden Vergangenheit ist, geht die Autorin auch auf jüngere Werke ein. Das macht Lust, diese Bücher selbst zu lesen, und es verdeutlicht, dass sie weiß, wovon sie schreibt.

Persönliche Erinnerungen und Anekdoten unterbrechen die historischen Ausführungen. An diesen Stellen weicht der Genretyp des Sachbuches stark auf. Auch die damit verknüpfte Ich-Perspektive ist gewöhnungsbedürftig. Dies jedoch macht auch den Charme des Buches aus.

Das umfangreiche Quellenverzeichnis, die weiterführende Literatur und das Personenverzeichnis runden das Buch ab. Sie belegen noch einmal die fundierte und ausführliche Recherche der Autorin.

Die Gestaltung des Hardcovers mit den Goldelementen, dem Leineneinband und dem Lesebändchen wirkt ansprechend und hochwertig. Einzig der deutsche Untertitel ist nicht ganz so gut gelungen, weil er missverständlicher formuliert ist als das spanischsprachige Original („El infinito en un junco - La invención de los libros en el mundo antiguo“).

Mein Fazit:
Nicht nur in optischer, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht ist „Papyrus - Die Geschichte der Welt in Büchern“ ein Schmuckstück im Regal. Das Werk von Irene Vallejo ist sehr empfehlenswert nicht nur, aber vor allem für Bibliophile.