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Veröffentlicht am 03.10.2022

Flucht ins Baumhaus

Die Grasharfe
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Vom Friedhof der Kleinstadt, irgendwo im Süden der Vereinigten Staaten, blickt man auf das Feld mit dem hohen Präriegras, das sich im Herbst rot färbt und in dem der Wind wundersame Töne erklingen lässt. ...

Vom Friedhof der Kleinstadt, irgendwo im Süden der Vereinigten Staaten, blickt man auf das Feld mit dem hohen Präriegras, das sich im Herbst rot färbt und in dem der Wind wundersame Töne erklingen lässt. Tante Dolly nennt es die Grasharfe. Bei ihr und ihrer Schwester Verena wurde der 11jährige Collin Fenwick nach dem Tod seiner Eltern untergebracht. Außerdem lebt noch Catherine, die schwarze Freundin von Dolly, mit im Haushalt. Es ist eine gute Zeit, die Collin bei den beiden unverheirateten Tanten hat, bis diese sich zerstreiten. Mitten in der Nacht fliehen Dolly und Catherine zusammen mit dem nunmehr 16jährigen Collin in den nahen Wald, wo sie Unterschlupf in einem Baumhaus finden. Am nächsten Morgen durchstreift der 18jährige Riley den Wald und entdeckt die drei. Er weiß nicht besseres mit seiner Zeit anzufangen und schließt sich ihnen an. Als die spießigen Honoratioren des Ortes die Ausreißer gewaltsam zurück holen wollen, empört sich der alte Richter Charlie Cool und kletter auch zu ihnen ins Baumhaus. Zu fünft verteidigen sie nun ihr vermeintlich freies Leben, was natürlich nicht ohne Blessuren abgeht …

Truman Capote, der Autor dieser Geschichte, wurde 1924 in New Orleans geboren. Er wuchs zunächst bei seiner Großmutter auf, bis er 1935 vom zweiten Ehemann seiner Mutter adoptiert wurde. Er kam ins Internat, wo er bald den Entschluss fasste, Schriftsteller zu werden. 1946 gelang ihm der Durchbruch, er galt als literarisches Wunderkind, seine Romane brachten ihm Ruhm und Geld ein, was ihn jedoch offensichtlich überforderte. Nach 1966 veröffentlichte er keine wichtigen Werke mehr, lebte luxuriös, wurde alkohol- und drogenabhängig und verfiel psychisch und körperlich. 1984 stirbt er in Los Angeles an einer Überdosis Tabletten.

„Die Grasharfe“ war der zweite Roman des Autors und ist sein erster großer Verkaufserfolg. Er erschien 1951 und enthält einige autobiografische Elemente aus Capotes Kindheit in Alabama. Hier lässt er den Protagonisten Collin in der Rückschau erzählen, was der Geschichte eine etwas melancholische Note verleiht, die aber immer wieder von beinahe slapstickhafter Komik begleitet wird. Fünf Menschen sitzen ein paar Tage im Baumhaus und haben die Gesellschaft des Ortes gegen sich. Alle fünf haben seelische Wunden im Umgang mit Mitmenschen erlitten, doch hier im Baumhaus ist plötzlich ein Miteinander, eine vertrauensvolle Nähe und Liebe möglich – sie sind ja „einige Meter näher bei Gott“. Der Schreibstil ist sehr poetisch und voll menschlicher Wärme. Es ist nicht die Geschichte die das Buch ausmacht, es sind die Worte, die im Inneren berühren und die es schaffen, Gerüche und Geräusche real erscheinen zu lassen. Die detailreiche Schilderung der meist liebenswert-skurrilen Charaktere lassen das Geschehen sehr lebendig wirken.

Fazit: Ein leises Buch voller Poesie – sehr lesenswert!

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Veröffentlicht am 25.09.2022

Sie nannten sie Marschmädchen

Der Gesang der Flusskrebse
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Mit Blutergüssen und Platzwunden im Gesicht, die vom letzten Wutausbruch ihres jähzornigen Mannes stammen, verlässt die Mutter frühmorgens für immer die armselige Hütte – zurück bleiben fünf Kinder. Auch ...

Mit Blutergüssen und Platzwunden im Gesicht, die vom letzten Wutausbruch ihres jähzornigen Mannes stammen, verlässt die Mutter frühmorgens für immer die armselige Hütte – zurück bleiben fünf Kinder. Auch die ergreifen nach und nach die Flucht, bis die sechsjährige Kya noch alleine mit dem alkoholkranken Vater zurückbleibt. Sie ist zu jung um auch abzuhauen, hat aber gelernt sich vor den Gewaltexzessen des Vaters zu schützen, indem sie sich in den Weiten der Marschlandschaft North Carolinas versteckt. Irgendwann ist dann auch der Vater verschwunden, Kya ist nun allein und muss lernen, in und mit der Natur zu überleben. Die Jahre vergehen, sie wächst zur jungen Frau heran und bald interessieren sich auch die jungen Männer des Dorfes für die seltsame Einsiedlerin. Dann wird eines Tages der allseits beliebte Chase Andrews tot im Sumpf aufgefunden. Unfall oder Mord? Der Verdacht fällt auf das „Marschmädchen“, wie sie von allen genannt wird. Eine gnadenlose Hetzjagd beginnt …

Delia Owens, geb. 1949 als Cordelia Dykes in Thomasville, Georgia, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und Zoologin. Nach ihrer Schulzeit studierte sie an der University of Georgia in Athens und an der University of California in Davis Zoologie und Animal Behavior, was sie mit einem Bachelor of Science abschloss. 1972 heiratete sie den Biologen Mark Owens. „Der Gesang der Flusskrebse“ ist ihr Debütroman, der 2019/2020 monatelang die internationalen Bestsellerlisten anführte.

Die Autorin befasst sich hier nicht, wie es ihr Beruf und Buchtitel vermuten lassen, überwiegend mit der Tierwelt, sondern mehr mit der Erbarmungslosigkeit des Verlassenwerdens, der Einsamkeit und dem Überlebenswillen eines kleinen Mädchens. In Zeitsprüngen und Rückblenden verdeutlicht sie, wie Kya zu einer ungewöhnlichen und äußerst intelligenten Frau heranreift, in welchem Verhältnis diese zu dem Toten im Sumpf stand und wie dieser zu Tode kam. Neben dieser gut konstruierten Kriminalgeschichte ist es auch ein Buch über eine unvergleichliche Landschaft, den Sümpfen der Küstenregion North Carolinas, mit seinen Salzwiesen und Sandbänken, wo die Grenze zwischen Land und Wasser fließend ist.

Dieses Buch ist eines der wenigen, die mich von Anfang an gefesselt haben. Allein das Heranwachsen des kleinen Mädchens zur jungen Frau und ihre vielfältigen Erlebnisse in der Natur beinhalten bereits eine geheimnisvolle Spannung, hinzu kommen noch die Ermittlungen im Todesfall des jungen Mannes, so dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Der Schreibstil ist beeindruckend, ein angenehm flüssiger Sprachrhythmus, gepaart mit einer gut konstruierten Story und wunderbaren Landschaftsschilderungen, intensiv und atmosphärisch beschrieben, mit einem nicht vorhersehbaren Ende – kurzum, ein ganz besonderes Lesevergnügen!

Fazit: Literatur wie sie sein soll, ernsthaft und trotzdem unterhaltend – sehr empfehlenswert.

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Veröffentlicht am 22.09.2022

Kann man dem Schmerz und der Trauer entfliehen?

Insel im Sommer
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Er war nicht mehr er selbst, seit er eines Morgens seinen Sohn tot auffand. Der Schmerz war so groß, dass er sich komplett in sich zurück zog und niemanden mehr an sich ran ließ. So verlor er alle Freunde ...

Er war nicht mehr er selbst, seit er eines Morgens seinen Sohn tot auffand. Der Schmerz war so groß, dass er sich komplett in sich zurück zog und niemanden mehr an sich ran ließ. So verlor er alle Freunde und auch seine Frau verließ ihn. Dieser Zustand änderte sich jedoch allmählich, nachdem er eines Tages von einer fremden Frau angesprochen wurde. Ihr Wesen berührte in tief im Inneren, er ließ eine Freundschaft zu, die bald in Liebe überging. Doch dann stellte sie ihm eine Forderung, die zu erfüllen er nicht bereit war. Auf der Flucht vor sich selbst reist er zunächst nach Paris und dann nach Südfrankreich, Orte, an denen er mit seinem Sohn glücklich war. Er wohnt dort bei Freunden, die einzigen die ihm noch verblieben sind, und findet endlich so etwas wie inneren Frieden. Doch erst ein kleines Mädchen öffnet ihm die Augen für eine neue Dimension der Wahrnehmung …

Wolfgang Hermann ist ein österreichischer Schriftsteller. Er wurde 1961 in Bregenz geboren, wuchs in Dornbirn (Vorarlberg) auf, studierte Philosophie in Wien, wo er 1986 mit einer Arbeit über Friedrich Hölderlin zum Doktor promovierte. Seit 1987 ist er freier Schriftsteller und schreibt Prosa, Lyrik, Theaterstücke und Hörspiele. Seine Publikationen wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Wolfgang Hermann ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland und lebt heute in Wien.

Es ist schier unglaublich, wie leicht und lebendig man über ein so ein ernstes Thema schreiben kann. In wunderbarer, schon beinahe poetischer Sprache, führt uns der Autor durch den Schmerz und das Leid eines großen Verlustes zu einem hoffnungsvollen Neubeginn. Es entsteht eine ganz besondere Atmosphäre die den Protagonisten, und mit ihm den Leser, aus dem schwarzen Loch der Leere allmählich ins helle Licht einer schrittweisen Genesung und Verheißung auf bessere Tage holt. Man spürt die Leichtigkeit des südfranzösischen Klimas, fühlt den Sommerwind und riecht beinahe den Duft der Kräuter – und das alles auf gerade mal 70 Seiten.

Fazit: Das dünne Buch liegt leicht in der Hand, sein literarisches Gewicht ist jedoch beachtlich.

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Veröffentlicht am 02.09.2022

Wenn das Gewissen über den Verstand siegt …

Untrennbar zerrissen
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Georg ist jetzt Mitte vierzig, verheiratet, Vater zweier Mädchen und Schriftsteller. Tagsüber schreibt er Geschichten und Romane und, wenn es seine Gesundheit gerade erlaubt, versorgt er nebenbei noch ...

Georg ist jetzt Mitte vierzig, verheiratet, Vater zweier Mädchen und Schriftsteller. Tagsüber schreibt er Geschichten und Romane und, wenn es seine Gesundheit gerade erlaubt, versorgt er nebenbei noch seine Kinder. Vor vielen Jahren, als er gerade 18 war, geschah ein Unglück, bei dem sein kleiner Bruder sein Leben verlor. Georg fühlt sich schuldig an seinem Tod, sein Schmerz ist übermächtig, und er meint, er hätte es verhindern können. Er leidet seither an schweren Depressionsanfällen mit Angststörungen und ist ständiger Gast beim Psychologen und in Nervenheilanstalten. Sein Verstand sagt ihm zwar, dass er im Hier und Heute lebt, sein Gewissen jedoch führt ihn jede Nacht ins Damals zurück, ins Jahr 1991. In seinen sehr realen nächtlichen Träumen lebt sein Bruder noch und Georg versucht alles, diesen Zustand aufrecht zu erhalten …

Georg Haderer, geb. 1973 in Kitzbühel (Tirol) ist ein österreichischer Autor von Kriminalromanen. Nach dem Besuch des Gymnasiums in St. Johann (Tirol) und einem abgebrochenen Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Schuhmacher. Nebenbei jobbte er auch als Redakteur, Barkeeper, Landschaftsgärtner und Skilehrer. Heute lebt Haderer in Wien und arbeitet neben dem Krimischreiben auch als Werbetexter. „Untrennbar zerrissen“ ist sein erster autofiktionaler Roman über seine psychische Gesundheit und seine Rolle als Vater.

Wie geht man damit um wenn man glaubt, man hätte den Tod des Bruders verhindern können? Wie lebt es sich im Heute, wenn das Gestern zu sehr belastet und ein Morgen nicht mehr denkbar ist? Der Autor versucht diese Fragen zu lösen, indem er sich jede Nacht in selbsthypnotischen Träumen auf eine Zeitreise begibt. Er lebt wieder im Elternhaus, wird wieder zum Sohn seines Vaters und zum großen Bruder, erlebt Nacht für Nacht die Gedanken und Gefühle seines 18jährigen Ichs und weiß, dass sein kleiner Bruder schon bald ums Leben kommen wird. Wie Sisyphos mit seinem Stein, so kämpft Georg mit seinen Gefühlen.

Dass auch ein Autor von Kriminalromanen ausgezeichnete Literatur schreiben kann, hat Georg Haderer hier bewiesen. Schonungslos setzt er sich mit sich selbst auseinander, kehrt sein Inneres nach außen und zieht so seine Leserschaft in den Bann. Er nimmt uns mit in seine Parallelwelt, in die 1990er nach Kitzbühel zu seinen Eltern und in die Gegenwart nach Wien, wo er mit seiner Familie lebt. Dadurch entstand für mich eine subtile Spannung, ein Sog, der mich immer tiefer in das Geschehen zog und hoffen ließ, dass Georg letztendlich in der Lage wäre, das Unglück noch abzuwenden.

Fazit: Eine Biografie, ein autofiktionaler Roman, bei dem Realität, Fiktion und Illusion verschwimmen – großartig gemacht, sehr empfehlenswert!

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Veröffentlicht am 24.08.2022

Fremde, eisige Welt

Das Lied der Arktis
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Uqsuralik war nur ein paar Meter vom Iglu ihrer Eltern entfernt, als mit ohrenbetäubendem Krachen das Eis brach und sie von ihrer Familie getrennt wurde. Zusammen mit dem treuen Familienhund Ikasuk, einem ...

Uqsuralik war nur ein paar Meter vom Iglu ihrer Eltern entfernt, als mit ohrenbetäubendem Krachen das Eis brach und sie von ihrer Familie getrennt wurde. Zusammen mit dem treuen Familienhund Ikasuk, einem Bärenfell als Schutz vor der Kälte und dem kleinen Messer, das sie ständig bei sich trägt, driftet sie auf einer Eisscholle in der Dunkelheit dahin. Sie weiß, um zu überleben muss sie in Bewegung bleiben, muss nach Robben jagen und auf Hilfe hoffen. Nach Tagen der Einsamkeit naht die Rettung - sie trifft auf einen anderen Familienclan und wird von ihnen aufgenommen. Doch auch da ist sie nicht in Sicherheit, es droht eine andere Gefahr …

Bérengère Cournut, geboren 1979 in Asnières-sur-Seine nordwestlich von Paris, ist eine französische Schriftstellerin, Übersetzerin und Lektorin. Sie schreibt seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr, zunächst Kinder- und Jugendliteratur, bevor sie ihre Liebe zur Anthropologie, zu fernen Welten und alten Überlieferungen entdeckt. Für „Das Lied der Arktis“ hat sie sieben Jahre lang die Lebensweise der Inuit recherchiert und deren Geschichte studiert. Das Werk wurde 2019 mit dem FNAC-Romanpreis ausgezeichnet.

Kein fantasievoll ausgedachter Roman, sondern eine realistisch anmutende Geschichte aus dem Leben der Inuit. Das Buch bietet ungemein spannende Einblicke in eine fremde, brutale, vergangene Kultur, die mir bis dahin völlig unbekannt war. Man erfährt das Geschehen aus Uqsuraliks Perspektive und ist somit hautnah dabei wenn sie auf die Jagd geht, Robben erlegt, ihre Bäuche aufschlitzt, das rohe Fleisch isst und ihr Blut trinkt. Wir erleben mit ihr Zeugung und Geburt, Krankheit und Tod - für die Inuit ganz natürliche Vorgänge – und erschauern, wenn die unberechenbare Natur wieder gnadenlos zuschlägt.

Zu erwähnen sind auch die Lieder der Inuit, deren Text immer mal wieder zwischen den einzelnen Abschnitten eingefügt ist. Sie behandeln das aktuelle Geschehen, die Träume und die Hoffnungen der verschiedenen Protagonisten, und erweitern somit unseren Blickwinkel. Ein Glossar mit den gebräuchlichsten indigenen Begriffen und zahlreiche Fotos über die Menschen, Tiere und Natur der Arktis, am Ende des Buches, bereichern die Geschichte und tragen zum besseren Verständnis des Gelesenen bei.

Fazit: Ein großartig recherchierter Roman, der durch seine bildhafte Erzählweise besticht und ganz nebenbei auch einiges an Wissen vermittelt. Sehr empfehlenswert!

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