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Veröffentlicht am 06.09.2022

Édouard Louis - Anleitung ein anderer zu werden

Anleitung ein anderer zu werden
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Mit seinem Roman „Das Ende von Eddy“ ist Édouard Louis 2014 schlagartig zum Star geworden. Der autobiografische Roman, der von seiner ärmlichen und von Gewalt geprägten Kindheit auf einem Dorf in der französischen ...

Mit seinem Roman „Das Ende von Eddy“ ist Édouard Louis 2014 schlagartig zum Star geworden. Der autobiografische Roman, der von seiner ärmlichen und von Gewalt geprägten Kindheit auf einem Dorf in der französischen Picardie erzählt, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Es folgten „Im Herzen der Gewalt“, „Wer hat meinen Vater umgebracht“ und „Die Freiheit einer Frau“, die alle Themen seines Lebens aufgriffen – Gewalterfahrung, die schwierige Beziehung zu seinem Vater, das trostlose Leben seiner Mutter. Nun widmet er sich seiner Transformation, dem schwierigen Wegs aus dem unteren Arbeitermilieu über das Bürgertum bis hin zu den Reichen und Adligen, die die anerkanntesten Universitäten des Landes besuchen. Es ist sein Leben, aber nicht nur eines, denn er hat auf dem Weg zum berühmten Schriftsteller zahlreiche Leben gelebt – und das mit nicht einmal 30 Jahren.

Es ist die Geschichte eines Kindes, das anders ist als die anderen, das früh Ausgrenzung und Diffamierung erlebt und nicht die Erwartungen der Familie, des Umfelds erfüllen kann. Er zieht sich zurück, versteckt sich in den Pausen in der Bibliothek, wo er auf den ersten Menschen trifft, der ihm eine Tür öffnet: die Tür zum Gymnasium. Als er Hallencourt hinter sich lässt und nach Amiens zieht, beginnt seine Verwandlung. Seine Freundin Elena zeigt ihm, dass es auch andere Leben gibt als jenes, das er kennt. Er macht Bekanntschaft mit Kunst und Literatur, saugt das bürgerliche Leben auf und ist wie betrunken davon. Zugleich entfernt er sich zunehmend von seiner Herkunft. Als er bei einer Lesung des Philosophen und Soziologen Didier Eribon hört, der einen ganz ähnlichen Weg hinter sich hat, erkennt er, dass er gerade Mal eine einzige Etappe gemeistert hat. Es gibt noch viel mehr, jenseits von Amiens und er entwickelt ein neues Ziel: es kann nicht weniger als die berühmte École normale supérieure für ihn sein, auch wenn alles dagegen spricht, dass er dort aufgenommen wird.

Louis schildert die Geschichte eines Aufstiegs, des Weges von der ärmlichsten Klasse, wo das Essen knapp ist und Fernsehen und Alkohol dominieren, hin zum intellektuellen Olymp Frankreichs. Der junge Eddy merkt bald, dass es nicht alleine die formale Bildung, der Schulabschluss des Abiturs ist, der den Unterschied macht. Mit seiner Herkunft geht auch ein Habitus einher, den er nicht so leicht ablegen kann. Die Sprache verrät ihn, er muss lernen sich richtig zu kleiden, das Besteck anders zu halten – und immer wieder gibt es Grenzen. Jede Stufe höher, jede neue Klasse endet letztlich in der Erkenntnis, dass es noch eine andere darüber gibt.

Die Demütigungen, die er als Kind erlebt hat, die Scham ob seiner bescheidenen Herkunft, aber auch die Wut auf die Eltern, die ihm nicht das gegeben haben, was andere ihren Kindern mitgeben – all das treibt ihn an und immer weiter. Zugleich kann er das Gefühl nicht ablegen ein Eindringling zu sein, nie wirklich dazuzugehören. Am Ende ist nichts mehr von dem kleinen Eddy übrig, als er plötzlich doch wieder alles infrage stellt.

Das Thema des sozialen Aufstiegs ist seit einigen Jahren in autofiktionalen Romanen in Frankreich wie auch in Deutschland populär. Christian Baron schildert seinen Weg in „Ein Mann seiner Klasse“, Deniz Ohde in „Streulicht“ die komplexe Beziehung zum Vater, nachdem sie sich als Kind entfernt hat. Jenseits der Grenze setzen sich beispielsweise der bereits erwähnte Eribon in „Retour à Reims“ oder Annie Ernaux etwa in „La Honte“ mit der Frage von Herkunft, Identität und den sozialen Klassen auseinander. Sie alle zeigen, dass Bildung allein nicht ausreicht, wie sehr die Herkunft prägt und dass nur ein Bruch mit dieser zu dem tatsächlichen Aufstieg führen kann – ein Preis, der hoch ist. Mit einigen Jahren Abstand erkennt das auch Édouard Louis, weshalb seine Bücher nicht nur seine Therapie sind, sondern auch eine Gesellschaftskritik, die nachdenklich stimmt und für Deutschland genauso wahr ist, wie für Frankreich.

Veröffentlicht am 03.09.2022

Yael Inokai - Ein simpler Eingriff

Ein simpler Eingriff
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Marianne ist die neue Patientin, die die Krankenschwester Meret vor der innovativen Behandlung betreut. Es ist ein simpler, aber wirkungsvoller Eingriff, der Mariannes Wut, die sie schon ihr Leben lang ...

Marianne ist die neue Patientin, die die Krankenschwester Meret vor der innovativen Behandlung betreut. Es ist ein simpler, aber wirkungsvoller Eingriff, der Mariannes Wut, die sie schon ihr Leben lang begleitet, endlich für immer eindämmen soll, so dass Marianne ein normales Leben führen kann. Unzählige Mal schon hat der Arzt die Operation erfolgreich durchgeführt, auch wenn die Nebenwirkungen bisweilen erheblich sind, aber das Leiden, das die Frauen zu ihm führten, konnte behoben werden. Meret mag ihre Arbeit und vertraut dem Arzt, doch dieses Mal geht etwas schief und die Zweifel, die sie bis dato in ihrem Inneren versteckt hatte, kriechen jetzt langsam hervor. Sie fühlt sich mitschuldig daran, das Verfahren lange Zeit unterstützt zu haben, und muss sich nun in ihrem Leben neu justieren.

Yael Inokai hat mich vor einigen Jahren mit ihrem Roman „Mahlstrom“, für den sie mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, bereits beeindrucken können. Auch „Ein simpler Eingriff“ spielt wieder in einem sehr kleinen und engen Setting, das die Handlung auf das Wesentliche konzentriert und doch die großen Fragen aufreißt. Vieles bleibt schleierhaft und vage, man weiß weder genau wann, noch wo die Geschichte spielt, aber die Protagonistin, die man als Leser begleitet, durchlebt stellvertretend große Emotionswogen, die einem gleichermaßen mitreißen.

Der Roman bietet ein großes Spektrum an Sinnfragen an, denen man nachhängen kann. Zentral natürlich die ethisch-moralische Frage danach, was Medizin darf und was die Mehrheitsgesellschaft als „normal“ oder „akzeptabel“ definiert. Die psychische Erkrankung der meist jungen Frauen scheint hierbei etwas aus der Zeit gefallen, verbindet man dies doch eher mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, als die typisch weibliche Hysterie die Mediziner faszinierte.

Auch Meretes erste Erfahrungen der Liebe, so natürlich und unschuldig sie entstehen, erscheinen bald für die anderen Figuren als fragwürdig. Gleichermaßen angerissen das Verhältnis zur Schwester, die ausbrach aus dem starren vorgefertigten Rahmen und nach eigenen Maßstäben lebt. Machtverhältnisse von Männern als Chef und Frauen als Untergebenen, aber genauso von älteren Frauen, die qua Erfahrung den Freibrief zur Tyrannei glauben erhalten zu haben – viele Facetten des Lebens werden von Inokai als Angebot zum Nachdenken gemacht. Sie beantwortet diese nicht, gibt keine Lösungen vor oder wertet. Die Sprache, die ich oft nüchtern und sachlich empfand, unterstützt die Distanz, die durch den Erzähler geschaffen wird und so Raum für den Leser und seine Gedanken eröffnet.

Eine Einladung zum Dialog mit sich selbst. Eine Geschichte, die mir erst durch die Nominierung auf der Longlist des Deutschen Buchpreis aufgefallen ist, wo sie ihren Platz mehr als verdient hat.

Veröffentlicht am 28.08.2022

Daniela Dröscher - Lügen über meine Mutter

Lügen über meine Mutter
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Ein Dorf im Hunsrück der 1980er Jahre. Ela ist noch ein Kind und versteht nicht alles, was um sie herum geschieht. Offenkundig ist jedoch, dass das Gewicht ihrer Mutter ein Problem ist. Mehr als das, es ...

Ein Dorf im Hunsrück der 1980er Jahre. Ela ist noch ein Kind und versteht nicht alles, was um sie herum geschieht. Offenkundig ist jedoch, dass das Gewicht ihrer Mutter ein Problem ist. Mehr als das, es scheint die Ursache für alles Unglücks ihres Vaters zu sein. Ein Mann, der sich immer für Großes geboren sah und seiner Frau die Schuld dafür gab, dass er nicht befördert wurde, nicht über so viel Geld und Bildung wie sie verfügte, im Dorf nicht so anerkannt war, wie er sich das gewünscht hätte. Aber wie sollte er das auch erreichen, mit einer dicken, nicht präsentablen Frau an seiner Seite? Als Erwachsene Blickt Ela zurück, spricht endlich mit ihrer Mutter über das Jahrzehnte lange Martyrium, das diese stoisch ertragen hat und mit ihrer Gesundheit bezahlte.

Zugegebenermaßen hat mich erst die Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2022 so richtig neugierig auf „Lügen über meine Mutter“ gemacht. Die rheinland-pfälzische Provinz als Schauplatz fand ich eher wenig attraktiv, kenne ich sie doch zur Genüge und weiß um den Horror, der Dorfleben bedeutet. Daniela Dröscher verdichtet den Roman jedoch, die Handlung spielt sich weitgehend im Nukleus der Familie, den eigenen vier Wänden ab, die zur Kampfarena zwischen den Eltern werden mit einem Kind, das zu jung ist, um die Mechanismen des innerfamiliären Krieges zu verstehen. Eine schonungslose Milieustudie, die letztlich das Portrait einer ganzen Generation von Frauen ist.

Als Erwachsene stellt die Erzählerin fest, dass sie ihre Mutter nie verstanden hat und beginnt endlich, mit ihr über die Erinnerungen zu reden. Episoden aus der Kindheit wechseln sich so mit Analysen ab und ordnen den ganzen Schrecken ein, den die Mutter widerspruchslos zum Wohle der Töchter ertragen hat. Immer wieder läuft es darauf hinaus, dass der Vater versucht seine Unterlegenheit und Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden, indem er die Mutter klein macht. Als Schlesiendeutsche ist sie keine richtige Deutsche, sie spricht ja nicht einmal den richtigen Dialekt! Das Geld ihrer Familie kann nur illegal erworben sein, Verbrecher müssen sie sein, nie kann man durch ehrliche Arbeit so vermögend werden. Ihre Bildung? Sie will doch nur angeben, das sind gar keine richtigen Diplome die sie hat.

Endlos ist die Liste der Angriffspunkte, zentral wird jedoch immer wieder ihr Gewicht. Vieles kann der Mann kontrollieren, wohin sie geht, wofür das Geld ausgegeben wird, aber ihr Gewicht unterliegt trotz aller Bemühungen – öffentliches Wiegen und Notieren der Zahl in einem Buch! – nicht seiner Macht. Alle Schikanen erträgt sie, frisst alles in wahrsten Sinne des Wortes in sich hinein und kümmert sich doch selbstlos um alle anderen um sie herum.

Es ist beim Lesen oftmals fast unmöglich auszuhalten, was Elas Mutter an psychischer Gewalt angetan wird und man fragt sich, weshalb sie nicht ausbricht, nicht einfach geht. Und zugleich weiß man, dass es so einfach nicht ist und erinnert sich, wie viele dieser kleingeistigen Männer man selbst erlebt hat, die sich für etwas Besseres hielten, wenn sie im ballonseidenen Jogginganzug mit dem Cabrio vorm dörflichen Tennisplatz vorfuhren und sich für den König der Provinz hielten und dabei doch nur alle Peinlichkeit zur Schau trugen.

Was in den 80ern als völlig normales Familienleben erschienen sein mag, würde man heute ganz anders einordnen, wie es die Erzählerin auch tut und womit sie ein Licht auf eine ganze Generation von Frauen wirft, die von ihren Müttern noch zum Schweigen erzogen wurden, ihren eigenen Töchtern jedoch Stimmen mit auf den weg gegeben haben.

Auch sprachlich bietet der Roman viele interessanten Facetten, weshalb er für mich ganz eindeutig ein würdiger Kandidat für den diesjährigen Buchpreis wäre, vor allem, um dem Thema die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken.

Veröffentlicht am 27.08.2022

Max Seeck - Feindesopfer

Feindesopfer
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Just am Tag des 50-jährigen Jubiläums seiner Firma wird Eliel Zetterborg durch einen Messerstich ins Herz ermordet. Verdächtige gibt es viele, denn der Unternehmer war hart zu sich und anderen und hat ...

Just am Tag des 50-jährigen Jubiläums seiner Firma wird Eliel Zetterborg durch einen Messerstich ins Herz ermordet. Verdächtige gibt es viele, denn der Unternehmer war hart zu sich und anderen und hat rücksichtslos alles der Firma untergeordnet. Da Jessica Niemi vom letzten Einsatz noch regenerieren muss, wird Jusuf die Ermittlung übertragen und er hat schnell schon den richtigen Riecher: ausgerechnet ein Puzzle in der Wohnung des Opfers kann der Schlüssel zur Lösung sein. Ein weiterer Hinweis auf einem Foto jedoch führt sie zu einem zweiten Opfer – sollte es sich etwa um eine ganze Serie von Rachemorden handeln?

Der dritte Band der Serie um Jessica Niemi, die Polizistin mit dem feinen Gespür für Zwischentöne setzt die parallele Handlung ihres persönlichen Familienhorrors und eines aktuellen Kriminalfalls fort. Auch wenn sie in „Feindesopfer“ nicht ganz im Zentrum steht, ist es wieder einmal ihr Blick für Details und das untrügliche Gefühl, dass die Puzzleteile doch noch nicht so zusammenpassen, wie es scheint. Dies sorgt einmal mehr für zahlreiche Wendungen, wenn man schon längst glaubt, den Täter gefunden und den Hergang erkannt zu haben.

Wie bereits in den beiden vorherigen Geschichten „Hexenjäger“ und „The Ice Coven“ (dt. Teufelsnetz) besticht der Autor durch komplexe Figuren, die nicht in die gängigen Schemata der Kriminalkommissare passen. Dadurch, dass Jessica Niemi ein wenig in den Hintergrund tritt, können die anderen Mitglieder des Teams etwas mehr Raum einnehmen und sich ebenfalls entfalten. Einerseits bringen alle ihre individuellen Stärken mit ein, die in der Gemeinschaftsarbeit letztlich zum Ziel führen, andererseits offenbaren sie auch ihre kleinen und großen Schwächen, die Unzulänglichkeiten und Sorgen, die sie menschlich und glaubwürdig erscheinen lassen.

Der Fall mutet zunächst recht simpel an, immer mehr Faktoren verkomplizieren die Ermittlung jedoch und erlauben es gerade am Ende, wenn man sich schon am Ziel wähnt, nochmals unerwartet viel Spannung aufzubauen. Es braucht keinen Kommissar Zufall, akribische Kombination der vorhandenen Fakten, immer wieder zu hinterfragen, ob alles verstanden und richtig interpretiert wurde – es ist kleinschrittige Polizeiarbeit, die zum Täter führt. Und dann wird man als Leser an eine Begebenheit erinnert, die man schon längst vergessen hatte und die nochmals ein ganz neues Licht auf alles wirft. So schafft es Max Seeck auf den allerletzten Seiten nochmals einen grandiosen Punkt zu setzen und seinen Platz unter den nordischen Thrillerautoren zu festigen. Eine Thrillerreihe, in der schlichtweg alles passt.

Veröffentlicht am 24.08.2022

Stefanie vor Schulte - Schlangen im Garten

Schlangen im Garten
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Güldene Kammer Nummer 14, drittes OG rechts. Dort wohnt Familie Mohn. Vater Adam, die Kinder Micha, Linne und Steve. Alles war gut, doch jetzt ist nichts mehr gut, denn Mutter Johanne fehlt und nach und ...

Güldene Kammer Nummer 14, drittes OG rechts. Dort wohnt Familie Mohn. Vater Adam, die Kinder Micha, Linne und Steve. Alles war gut, doch jetzt ist nichts mehr gut, denn Mutter Johanne fehlt und nach und nach lösen sich die Erinnerungen auf und gehen Gegenstände kaputt, die sie mit ihr verbunden hatte. Alles, was der Familie geblieben ist, sind die Tagebücher, die sie nicht lesen, sondern aus denen sie allabendlich Seiten reißen und essen. Jedes der vier Mitglieder geht anders mit der Trauer um, aber niemandem gelingt es wirklich, mit der großen Lücke, die die Abwesenheit reißt, umzugehen.

Stefanie vor Schulte macht in ihrem zweiten Roman Trauerarbeit zum zentralen Thema, bzw. eher nicht stattfindenden Trauerarbeit, denn alle Figuren in „Schlangen im Garten“ sind einfach alleingelassen mit dem Schrecken, der das plötzliche Fehlen in ihnen auslöst.

Der Vater wird apathisch, schafft es nicht, die Strukturen aufrecht zu erhalten. Micha versinkt in einer Traumwelt, Linne reagiert mit Trotz und Wut, die sich in Gewalt äußern. Steve, etwas älter als die Geschwister, versucht aufzufangen, was der Vater nicht leisten kann und leidet doch selbst auch. Die Nachbarn und Lehrer beobachten, was mit den vier passiert, doch statt zu helfen, klagen sie an, beschweren sie sich, versuchen sie zu bestrafen. Warum funktionieren sie einfach nicht mehr? So sind sie untragbar, suspekt.

Die Reaktionen der einzelnen Figuren auf den plötzlichen Tod der Mutter sind für mich gut nachvollziehbar und wirken authentisch. Jeder reagiert auf seine Weise, hat andere Bedürfnisse, gerät auf andere Weise aus der Bahn. Der gegenwärtige Glaube, dass man schon nach zwei Wochen wieder ins alte Leben zurückkehren könne, als wenn nichts geschehen wäre, ist absurd, wusste man früher doch von einem ganzen Trauerjahr, das es erfordert, um das Leben ohne einen geliebten Menschen zu gestalten. Erschreckend, wie empathielos das Umfeld reagiert, dem offensichtlich Verständnis, aber auch Mittel fehlen, um adäquat zu reagieren und mit dem umzugehen, was die Familie durchmacht.

Das Ende stimmt zwar etwas versöhnlich, aber es bleibt ein fader Beigeschmack, denn der Roman zeigt genau das auf, was heute unsere Gesellschaft prägt: niemand will wirklich damit konfrontiert werden, dass es einem anderen nicht gut geht. Alle sollen doch bitte reibungslos funktionieren und die ihnen zugewiesene Rolle ausfüllen. Ausreißer sind ein Problem fürs System, dabei würde ein wenig Zuwendung und Verständnis schon so viel bewirken können.

Sicherlich kein leichter Roman und bestimmt kein Thema, das jeder mal eben nebenbei konsumieren kann und will, aber lesenswert ist er allemal.