Die Grenzen eines Königs
Der KönigKann jeder zum Mörder werden? Oder haben einige – ja, die meisten von uns – eine Art mentale oder moralische Sperre, die sie daran hindert, zu töten? Ich rede nicht davon, jemanden in Notwehr oder im Affekt ...
Kann jeder zum Mörder werden? Oder haben einige – ja, die meisten von uns – eine Art mentale oder moralische Sperre, die sie daran hindert, zu töten? Ich rede nicht davon, jemanden in Notwehr oder im Affekt zu töten, sondern davon, ganz normale, anständige Menschen, wie zum Beispiel Bent Halden, dazu zu bringen, einen Mitmenschen kaltblütig und ohne ein anderes Motiv, als das eigene Leben etwas besser oder leichter zu machen, zu töten.
Mit diesen Worten beginnt Jo Nesbo seinen neuen Kriminalroman, der anders als seine Vorgänger, nicht mehr hinter einem schwarzen Cover mit roter Schrift versteckt ist, sondern als hellgraues Buch mit Bronze schimmernden Worten beim ullstein Verlag erschien.
Wie bereits in seinem Buch „Ihr Königreich“ findet sich die Leserin bzw. der Leser in dem fiktiven kleinen Dorf Os wieder, das irgendwo in Norwegen liegt. Die beiden Brüder Carl und Roy „regieren“ über dieses verschlafene Nest, das auf den ersten Blick an ein idyllisches Dorfleben erinnert, unter dessen Oberfläche mehr Geheimnisse und Verbrechen schlummern, als es zunächst den Anschein hat.
Der König ist das Nachfolgewerk von „Ihr Königreich“. Zahlreiche Konflikte vom ersten Buch kommen auch hier wieder zu Sprache. Es ist hilfreich, den ersten Teil zu kennen, da die Charaktere dadurch viel greifbarer werden, es ist jedoch nicht zwingend notwendig. Jo Nesbo erläutert die wichtigsten Verwicklungen und Ereignisse, sodass auch ein Neuling dieser Geschichte ohne weiteres die komplexen Zusammenhänge nachvollziehen kann.
Der Autor liebt es, moralisch komplexe Figuren zu erschaffen und gipfelt dieses Streben mit dem Brüderpaar Roy und Carl, die für die Familie alles tun und vor nichts und niemandem zurückschrecken. Selbst vor Mord nicht. Wie auch schon beim ersten Teil folgen wir dem Älteren der beiden, Roy, auf seinen dubiosen Geschäftswegen und blicken über seine Schulter, während er hemmungslos die Schwäche seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger ausnutzt, um das zu bekommen, was er möchte. Die beiden Brüder agieren als funktionierende Einheit, sie kennen sich in- und auswendig und vertrauen blind auf die Stärken des jeweils anderen. Doch ihre dunkle Vergangenheit droht sie einzuholen und das Band zwischen ihnen wird auf eine harte Probe gestellt.
Ich starrte in die Dunkelheit und wartete auf einen weiteren Blick. Um ihn zu sehen. Um mich zu sehen. Den König des Mülls. Den armen Tropf, der seine Würde auf dem Altar des Überlebens opferte, wie wir alle. Wir verschieben lediglich die Grenzen des Erträglichen und ändern die Spielregeln, damit wir uns selbst ertragen können. Sogar Menschen, die alle und jeden umbringen, die ihnen im Weg stehen […], glauben noch daran, ihre Ehre zu verteidigen. Sie tun das verzweifelter als die meisten anderen, weil ihre Grenzen nicht mehr weiter verschoben werden können, ohne dass sie auch noch den letzten Rest an Selbstachtung verlieren.
Mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Os beleuchtet Jo Nesbo unverhüllt die Seelen der Menschen. Jede und jeder hat ihre/seine eigene Agenda, versucht die eigenen Dämonen zu bekämpfen. Mord, Eifersucht, Inzest, Vergewaltigung – alles schlummert unter der scheinbar friedlichen Schale des Dorfes. Jede und jeder hat eigene Leichen im Keller – manche symbolisch, andere tatsächlich. Die ungeschminkte Realität und nüchterne Betrachtungsweise auf das Leben, die uns der Blick aus Roys Augen gewährt, machen es schwer, die Figur trotz seiner moralischen Abgründe, nicht zumindest zu respektieren wenn nicht sogar für seine Weitsicht und Unverfrorenheit zu bewundern.
Alle Katastrophen sollten ein Präludium haben. Ein Vorspiel, einen warnenden Hinweis auf das, was kommen sollte.
Die Geschichte fließt dahin, wie ein kleiner Gebirgsbach schlängelt sich die Handlung zwischen den unterschiedlichen Figuren hin und her, berührt die einen und umrundet die anderen. Bis es unvermutet zu Stromschnellen kommt. Gerade wenn sich ein Gefühl des Verstehens einfindet, wenn die Leserin bzw. der Leser glaubt, die nächsten Schritte erahnen zu können, ändert der Fluss seine Richtung. Die Karten werden neu gemischt, das Pokern beginnt von vorne.
Fazit
Der König erzählt die Geschichte eines Mannes, für den Mord kein Fremdwort ist und der die notwendige Kaltblütigkeit und Berechnung besitzt, für seine Zwecke erneut Leben zu beenden. Wir folgen dem Erzähler auf seinem Weg, lernen seine Motive und Gedanken kennen, seine Einstellung zum Leben und die Hintergründe für seine Taten. Jeder Schritt in Roys Stiefeln macht uns gleichzeitig zu Mitwissern und, ohne es so recht zu merken, beginnen wir ihn zu verstehen, ihn zu respektieren und manche sogar ihn zu mögen. Die ersten Sätze des Buches bleiben wie eine Art Mahnmal im Gedächtnis verankert, eine Frage, die immer wieder aufs Neue eine Antwort verlangt.
Kann jeder zum Mörder werden? Oder haben einige – ja, die meisten von uns – eine Art mentale oder moralische Sperre, die sie daran hindert, zu töten?
*diese Stellen wurden direkt aus dem Buch (1. Auflage 2024, ullstein) zitiert