Erschreckende Realität
Der Tag XRezension zu „Der Tag X“ von Titus Müller
Inhalt:
Seit ihr Vater als Wissenschaftler zu einem Leben in Russland gezwungen wurde, passt Nelly sich ihrer Ostberliner Umgebung immer weniger an. Sie engagiert ...
Rezension zu „Der Tag X“ von Titus Müller
Inhalt:
Seit ihr Vater als Wissenschaftler zu einem Leben in Russland gezwungen wurde, passt Nelly sich ihrer Ostberliner Umgebung immer weniger an. Sie engagiert sich in einer kirchlichen Jugendorganisation und wird im Frühjahr 1953 kurz vor dem Abitur von der Schule geworfen. Trost könnte sie bei dem jungen Uhrmacher Wolf Uhlitz finden, der sich in sie verliebt. Er will ihr helfen, legt sich dafür sogar mit seinem Vater an, entwendet staatliche Dokumente und landet im Gefängnis.
Nelly steht in einer undurchschaubaren Verbindung mit einem russischen Spion, der Kontakte im Kreml hat. Welches Geheimnis verbindet die beiden? Wie Wolf scheint auch der Fremde von einem Leben mit Nelly zu träumen.
In Berlin und Halle entlädt sich unterdessen die Unzufriedenheit der Menschen mit dem Regime in Massendemonstrationen.
Meinung:
Als Hintergrund dient der 17.Juni 1953. Der Roman ist sehr gut recherchiert und es ist hilfreich, sich ein wenig in der Geschichte auszukennen, da viele Fachbegriffe und Abkürzungen auftauchen, die jedoch auch im Anhang erläutert werden. Trotz der Fachbegriffe lässt er sich leicht und flüssig lesen und man hat das Gefühl mitten im Geschehen zu sein. Die Atmosphäre und die Entwicklung des Aufstandes sind spürbar und werden beeindruckend deutlich.
Der Roman zeigt schon auf den ersten Seiten, was Ideologie bewirken kann. Geschichte sollte immer auch dazu da sein, um aus ihr zu lernen. Daher ist der Roman, obwohl er historisch ist, aktuell, da er anregt über Politik und seine Funktion und Auswirkungen nachzudenken, was ich gerade in unserer Gegenwart mit den politischen Brandherden wichtig finde.
Der Spannungsaufbau gefällt mir sehr gut. Lange bleibt unklar, welche Rolle der russische Spion spielt und wo Nellys Vater steckt. Auch die steigernde Anspannung in der Gesellschaft, die sich dann am Tag X entlädt, trägt dazu bei.
Auch die Charaktere sind toll beschrieben. Nelly gefällt mir sehr gut. Sie ist ein mutiger, beispielhafter Charakter, der all jene vertritt, die sich gegen das Regime aufgelehnt haben. Ihre Geschichte ist realistisch erzählt und vermittelt das Zeitgeschehen.
Wolf ist, zumindest auf politischer Ebene, der perfekte Gegenpart zu Nelly- ebenfalls jung, aber (zunächst) regimetreu. Gut gefällt mir, dass er einerseits regimetreu scheint, andererseits aber an vielen Dingen zweifelt, wie etwa dem Schulverweis. Er versteht nicht, wie Nelly an einen Gott glauben und sich derart negativ über den Staat äußern kann, ist aber andererseits nicht einverstanden mit einigen der vom Staat gegebenen Einschränkungen. An ihm sieht man in jedem Fall was eine ideologische Erziehung nach Vorstellung des Staates und der Angstapparat Stasi bewirkt haben. Der Charakter des russischen Spions ist gnadenlos und mordet, wenn es ihm aufgetragen wird. Er stellt jedoch auch einige Geschehnisse und Verhaltensweisen der Führungsriege Russlands in Frage, was ihn sehr interessant macht.
Fazit:
Der Roman regt zum Nachdenken an. Er macht bewusst, was Politik und Macht anrichten können und wie Komplex die Politik ist, dass alles verpackt in einer tollen Geschichte mit starken Charakteren. Gerade in unserer heutigen Zeit sollten wir daran denken und uns unserer Verantwortung bewusst sein, die wir bei jeder Wahl tragen.
Ein beeindruckender Roman, den ich jedem ans Herz legen kann, der sich für Geschichte und Politik interessiert.