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Veröffentlicht am 08.09.2022

Lebenslange Suche nach Heimat und Halt

Zugvögel
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Wie den Zugvögeln fällt es Franny Lynch schwer, länger an einem Ort zu bleiben. Sie fühlt eine tiefe Verbundenheit mit dem Meer und den Vögeln, die insgesamt nicht nur vom Aussterben bedroht sind, sondern ...

Wie den Zugvögeln fällt es Franny Lynch schwer, länger an einem Ort zu bleiben. Sie fühlt eine tiefe Verbundenheit mit dem Meer und den Vögeln, die insgesamt nicht nur vom Aussterben bedroht sind, sondern bereits kaum noch gesichtet werden. Für die junge Frau ist es eine innere Notwendigkeit, den letzten Küstenseeschwalben von Grönland bis in die Winterquartiere in der Antarktis zu folgen - um jeden Preis. Als sie tatsächlich ein Fischerboot findet, das sie mitnimmt, wird die lange Fahrt zu einer Reise in die eigene Vergangenheit.

Die Handlung spielt in einer nicht genauer definierten Zukunft, die allerdings näher ist, als wir uns wünschen. Das fatale Aussterben verschiedener Tierarten geht einem wirklich sehr zu Herzen, verstärkt durch den intensiven Schreibstil der Autorin. Da die Geschichte immer wieder zwischen verschiedenen Zeitebenen in Frannys Leben hin und her springt, ist teilweise konzentriertes Lesen erforderlich und am besten auch längere Passagen am Stück. Die Charaktere sind alle gut herausgearbeitet, jeder und jede wird mit einer individuellen, glaubhaften und schicksalhaften Biographie versehen. Allerdings ist mir die Protagonistin nicht sehr nahe gekommen. Sie bleibt für mich in einigen Teilen ihres Wesens ein Rätsel. Vielleicht waren mir in ihrer Familie auch einfach zu viel "Schicksal", zu viele Metaphern und zu viel "Flucht" vorhanden.

Dennoch ist die Geschichte sehr lesenswert, die einmal mehr den Finger in die Wunde "Klimawandel" legt. Diese globale Katastrophe wird geschickt in eine dramatische Lebensgeschichte eingebunden und umspült von den Wellen des Atlantiks.

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Veröffentlicht am 01.09.2022

Mephisto im ländlichen Vermont

Ein Mann mit vielen Talenten
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In einer Kleinstadt in Vermont lebt der pensionierte Lehrer Langdon Taft in einem großen Haus, einsam, unzufrieden und immer einer Flasche "Sir Walter Scott" zugetan. Plötzlich, aber irgendwie auch nicht ...

In einer Kleinstadt in Vermont lebt der pensionierte Lehrer Langdon Taft in einem großen Haus, einsam, unzufrieden und immer einer Flasche "Sir Walter Scott" zugetan. Plötzlich, aber irgendwie auch nicht völlig überraschend, steht ein smarter Unbekannter mit einem verlockenden Angebot vor der Tür: Mr. Dangerfield - welch sprechender Name - gewährt Taft freien Zugang zu allen Talenten, die er besitzt. Freilich zeitlich begrenzt und nicht ohne Gegenleistung. Wer aber denkt, dass Taft ganz im Sinne von Faust durch rücksichtslosen Egoismus sich und seine Umgebung in die Katastrophe führt, kennt Taft schlecht.

Das kleine Büchlein (175 Seiten) von Castle Freeman besticht durch die lässige Art, mit der Taft dem geckenhaften Dangerfield gegenübertritt, der stets dem jeweiligen Anlass entsprechend gekleidet ist und sich überheblich und siegessicher gibt. Schnell ist jedoch klar, wer hier eigentlich die Oberhand hat. Temporeich und spaßig wird es, wenn sich die beiden unterhalten, denn nur Taft kann Dangerfield hören und sehen. Optisch hat Freeman dies hervorgehoben, indem Dangerfields wörtliche Rede ohne Anführungszeichen, dafür aber kursiv gesetzt ist. Die Episoden, in denen Taft die neuen Talente anwendet, sind kurzweilig und witzig. So lernt man zahlreiche Personen des kleinen Ortes in Neuengland und ihr Schicksal kennen.

Das Buch hat mich wirklich gut unterhalten und ich habe es schnell durchgelesen. Die Idee und die Entwicklung der Geschichte haben mich angesprochen. Allerdings fand ich sie nicht ganz rund, ich kann nicht genau sagen warum eigentlich. Die Taten erschienen mir teilweise zu willkürlich, ein Rahmen hat gefehlt und am Ende hatte ich mir etwas mehr Raffinesse erhofft. Dennoch kann ich das Buch empfehlen, das auf coole und witzige Art das Faust/Mephisto-Thema aufgreift.

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Veröffentlicht am 15.07.2022

Die Bekenntnisse des Sprücheklopfers Werner Weber

Die Lange Stille
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Werner Weber - ein Name wie gemacht für einen unauffälligen und peniblen Durchschnittsmann, lebenslang gefangen in der mittleren Beamtenlaufbahn. Weit gefehlt. Trotz unvollendeter gymnasialer Laufbahn ...

Werner Weber - ein Name wie gemacht für einen unauffälligen und peniblen Durchschnittsmann, lebenslang gefangen in der mittleren Beamtenlaufbahn. Weit gefehlt. Trotz unvollendeter gymnasialer Laufbahn hat es Sprücheklopfer Werner Weber zu einem ansehnlichen Guthaben bei der örtlichen Sparkasse gebracht. Er kann als die norddeutsche Version von Steve Rubell und Ian Schrager gelten, jenen legendären Betreibern des Studio 54 in New York. Werners Beteiligung an der Wum Wum-Diskothekenkette und dem Wegschleppen der schwarzen Scheine in Plastiktüten wird aber ebenso wie ehedem den New Yorkern ein unschönes Ende gesetzt, der Steuerfahndung sei Dank. Was Werner noch alles widerfährt, "hätte man gut auf fünfzig Mann verteilen können. Da wäre keiner zu kurz gekommen." (S. 243)

Wir begleiten Werner von der Tanzschule, wo er seine Jugendliebe Karin im Discofox über die Tanzfläche schiebt, über seine zahlreichen beruflichen Stationen bis zu seinem Blick in den Abgrund. Und damit beginnt der Roman. Da er Gesprächs- und Gruppentherapie verweigert, wird ihm angeraten, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Und das macht das selbsternannte Genie dann auch, und zwar "schnodderig und überheblich, da ist kein Einsehen oder gar eine Selbstanalyse erkennbar." (S. 78). Statt Reflexionen gibt es nur Selbstdarstellung, aber das höchst amüsant.

Der Autor läßt Werner durch die 80er, 90er und 2000er Jahre düsen und fängt gleichzeitig das Flair dieser Jahrzehnte ein. Das fand ich sehr gelungen. Natürlich ist Werner als Charakter ein Chauvi, oberflächlicher Draufgänger, Fremdgeher, Aufschneider, Lügner und Betrüger ... Aber er ist auch witzig, ideenreich, findig, charmant und hat eine Schwäche für die strebsame und seriöse Karin, die große Schweigsame bzw. die lange Stille. Ob Karin ihn retten kann?

Das Buch hat mich angenehm überrascht. Es liest sich flott und witzig und hat mich gut unterhalten. Da ich vorher einige "schwerere" Romane gelesen hatte, war es jetzt genau das Richtige. Was dem Protagonisten alles widerfährt, aber welche glücklichen Zufälle ihm auch oft zur Hilfe kommen, ist wirklich vergnüglich. Absolut lesenswert auch die Musikkritiken, die im Text eingestreut sind und ein weiteres berufliches Standbein von Werner darstellen.

Gestört haben mich zwei Dinge: Zum einen ein Satz auf Seite 197, der hier nicht erwähnt werden kann, weil Spoilergefahr besteht und zweitens das etwas sehr biedere Cover. Das wird dem Inhalt nämlich in keiner Weise gerecht.

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Veröffentlicht am 02.07.2022

Klimt im Spazierstock

Waldinneres
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Das kleine Gemälde "Waldinneres" von Gustav Klimt gilt seit Ende des Krieges als Raubkunst und ist verschollen. 2009 taucht es in einem Bankschließfach in Zürich wieder auf. Der Barbesitzer Gottfried kann ...

Das kleine Gemälde "Waldinneres" von Gustav Klimt gilt seit Ende des Krieges als Raubkunst und ist verschollen. 2009 taucht es in einem Bankschließfach in Zürich wieder auf. Der Barbesitzer Gottfried kann sich nicht erklären, wie das Bild in den Besitz seines Vaters Hermann gekommen ist, der sich vor Jahrzehnten erhängt hat. Hatte die schwere Depression des Vaters mit dem Gemälde zu tun?

Der Roman beginnt in der Gegenwart mit einem am Boden liegenden Maler und rollte die Geschichte des Klimt-Bildes dann von hinten auf. Es gibt viele Zeitsprünge und Perspektivwechsel, die verwirren könnten; da ich das Buch aber an zwei Tagen durchgelesen habe, habe ich gut durch die Geschichte hindurchgefunden. Die Handlung ist wirklich faszinierend, allerdings klingt sie spannungsgeladener, als sie ist. Das Geschehen wird ruhig erzählt und die Fluchtgeschichte spielt auch nur eine kleine Rolle, der größte Teil der Handlung findet in der Gegenwart statt und was das Geheimnis und das Bild mit den Beteiligten und den Nachkommen gemacht haben.

Gottfrieds Café-Bar ist das Herzstück, hier gehen alle Charaktere ein und aus. Ein Zufluchtsort für den ehemaligen Weltenbummler und seine Freunde. Ich hätte mir noch ein bisschen mehr Tiefe bei den Figuren gewünscht, sie sind mir nicht so nahe gekommen und das Ende war dann etwas "überfrachtet". Dennoch hat mich das Buch gut unterhalten und ich habe es wirklich gerne gelesen. Der Titel des Bildes, das es übrigens wirklich gibt, ist gleichzeitig ein Schnittpunkt in der Fluchtgeschichte, denn im Inneren des Waldes verschwindet nicht nur das Bild.

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Veröffentlicht am 26.04.2022

Wendewunden

Eine andere Zeit
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Was ist aus Suse geworden? Auch nach 30 Jahren kann ihre Schwester Enne nicht mit dem ungewissen Schicksal abschließen, dass Suse bei der Grenzöffnung in Ungarn 1989 im Gewühl der Menge verschwunden ist. ...

Was ist aus Suse geworden? Auch nach 30 Jahren kann ihre Schwester Enne nicht mit dem ungewissen Schicksal abschließen, dass Suse bei der Grenzöffnung in Ungarn 1989 im Gewühl der Menge verschwunden ist. Suse ist fort und Enne ist geblieben, in dem winzigen Ort an der Ostsee, in den auch die Cousine aus dem Ruhrpott gezogen ist. Christina hat schon als Kind ihre Ferien im Osten verbracht und fühlte sich dort wohler als im Westen. Als im Haus gegenüber von Enne eine gewisse Frau Pohl einzieht, die sich sehr geheimnisvoll gibt, brechen bei allen alte Gefühle auf.

In ruhigem Ton, fast schon nüchtern, erzählt Helga Bürster in ihrem neuen Roman von der "Kriegsenkel"-Generation. Anhand einer Familie wird ein Netz von Schicksalen aufgezeigt. Da ist die Elterngeneration, die als Kinder und Jugendliche den Krieg erlebt haben, vieles verdrängt und totgeschwiegen haben. Die nächste Generation wiederum (Suse, Enne und Christina) wächst im geteilten Deutschland auf. Während Enne fest an den Arbeiter- und Bauernstaat glaubt, ist Christina mit ihrem Leben im kapitalistischen Westen unzufrieden und blüht nur auf, wenn sie nach Vorpommern an die Küste reisen kann.

Helga Bürster wertet nicht, sie schildert Ost und West facettenreich. Weder ist hier alles gut, noch dort alles schlecht. Die Menschen stehen im Mittelpunkt und was sie aus ihrem Leben gemacht haben, welche Chancen sie hatten und welche sie davon genutzt haben oder auch nicht. Durch Rückblicke wird die Vergangenheit seit den 1970er Jahren herangeholt an die Gegenwart, als Frau Pohl auftaucht.

Der Roman lebt von der spröden, direkten Sprache. Den kurzen Sätzen und klaren Ansagen, oft mit Humor gewürzt. Typisch Norddeutsch möchte man sagen. Wie bei "Luzies Erbe" liest sich dies wirklich wunderbar. Geschickt werden historische Fakten eingebaut, so der unglaubliche Lehrerüberhang in den 1980er Jahren, die Schneekatastrophe 1978/79. Gefallen haben mir auch die kleinen Dinge, denen die Autorin Aufmerksamkeit geschenkt hat: ein angebrannter Topf (noch gute Vorkriegsware) oder die RAF-Fahndungsplakate in den Postämtern. So wird nicht nur die Stimmung an der vorpommerschen Küste eingefangen, sondern auch die Atmosphäre in der kleinen Küche der Familie Jendrich.

Wer eintauchen möchte, in eine ruhig erzählte Familiengeschichte, ist hier genau richtig. Es handelt sich nicht um einen Spannungsroman, wie vielleicht durch das Verschwinden von Suse und das plötzliche Auftauchen von Frau Pohl vermutet werden kann. Am Ende bleibt einiges offen, wie im richtigen Leben: Es gibt nicht auf alles eine Antwort.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und es hätte durchaus etwas länger sein können.

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