Zwischen London und Hongkong - Familiengeheimnisse
Du hast mir nie erzähltWiz Wharton erzählt in ihrem Debüt-Roman von einer Hongkongerin, die 1966 nach London auswandert, und von deren Tochter Lily, die sich in London mit ihren asiatisch-europäischen Wurzeln nicht zugehörig ...
Wiz Wharton erzählt in ihrem Debüt-Roman von einer Hongkongerin, die 1966 nach London auswandert, und von deren Tochter Lily, die sich in London mit ihren asiatisch-europäischen Wurzeln nicht zugehörig fühlt. Lily erhält 1997das Angebot eines ihr unbekannten Geschäftsmannes, ein Erbe persönlich in Hongkong anzutreten. Auch ihre ältere Schwester Maya bekommt dieses Angebot, lehnt es aber ab, denn "solch eine fette Gans liegt nicht auf der Straße herum", wie sie Lily sagt.
Der Roman berichtet uns in abwechselnden Kapiteln vom Leben der Mutter Sook-Yin und ihrer Entwicklung in London und von Lily, die sich in Hongkong auf die Suche nach Herkunft, Identität und Spuren der Vergangenheit begibt. Wird Lily das Geheimnis um den Grund des ihr angebotenen Erbes lösen?
Das Buchcover zieht mit knalligem Pink und chinesischen Symbolen an. Das chinesische Wort für Pink lautet (Fěnsè de), was "fremde Farbe" bedeutet, denn erst durch westliche Einflüsse wurde Pink in China bekannt. Wie passend ist daher Pink für die Geschichte, in der sich die 22jährige Sook-Yin auf Schiffsreise nach Großbritannien begibt. Sie will als Krankenschwester ihr Geld verdienen und sich den Stolz ihrer Familie erwerben. Lily versucht sich in Hongkong zu erinnern, wie sie dort eine kurze Zeit lebte, als sie knapp 5Jahre alt war. Sie lernt ihre Verwandten und auch Angehörige des ominösen Geschäftsmannes kennen.
Der Roman um die Hauptfiguren Sook-Yin und Lily gefällt mir außerordentlich gut. Nach und nach lösen sich Geheimnisse auf und Spannung wird bis zum Ende aufrechterhalten. Das erste Kapitel ist mit "Anfänge" überschrieben und einem gezeichneten Koi, der für Stärke, Fortschritt, Ausdauer und Strebsamkeit steht. Genau diese Eigenschaften kennzeichnen Sook-Yin, die aber auch voller Selbstzweifel und Trauer ist, denn von ihrem Bruder als Familienoberhaupt erfährt sie nur äußerste Ablehnung und Spott. Lily wirkt alles andere als strebsam, lebt in den Tag hinein und ist auf Hilfe eines Psychotherapeuten angewiesen. Während ihrer Reise wird sie mutiger, aufgeschlossener und entschiedener. Als Nebenfiguren sind bedeutend ihr verträumter, geschäftsuntüchtiger, verantwortungsloser Vater und ihre Schwester Maya, deren "Scheitel so akkurat gezogen wie eine Fluglandebahn" sei, wie Lily denkt. Dieser Vergleich trifft es, denn Maya ist ehrgeizig, strukturiert und behütet und bestimmt Lily.
Originelle, manchmal schwierig zu erschließende Vergleiche und Metaphern fallen im Schreibstil Wiz Whartons auf. Ich kann kaum glauben, dass es ihr Debüt ist, so toll und durchdacht ist es geschrieben.
Die Autorin scheint zum Teil in Lily zu stecken, denn in einem Interview las ich, dass sie als Chinesisch-Europäerin lange nach ihrer Identität suchte und auch seelisch erkrankt ist - manisch depressiv. Ihre eigenen Erfahrungen hat sie in die Geschichte eingewoben, wodurch diese sehr glaubhaft wirkt. Ich habe mit beiden Hauptfiguren mitgefiebert, auch wenn Sook-Yin anziehender und interessanter wirkte.
Dieser Roman um Familie, Familientragödien, Kulturshock, Identitätssuche, Rassismus, Hongkong und Schwesternbeziehung wirkt intensiv, sprachlich beeindruckend und ist eine absolute Leseempfehlung.