Unsterbliche Paula - Deutsche Geschichte wunderbar erzählt
Als wir unsterblich waren"Und über uns im schönen Sommerhimmel war eine Wolke, die ich lange sah. Sie war sehr weiß und ungeheuer oben, und als ich aufsah, war sie nimmer da.“
Bertold Brecht, „Erinnerungen an die Marie A.“
Die ...
"Und über uns im schönen Sommerhimmel war eine Wolke, die ich lange sah. Sie war sehr weiß und ungeheuer oben, und als ich aufsah, war sie nimmer da.“
Bertold Brecht, „Erinnerungen an die Marie A.“
Die schüchterne und zurückhaltende Alexandra lebt allein mit ihrer 93-jährigen Großmutter Momi in Ostberlin, als am 9. November 1989 die Mauer fällt. Mit ihrer Freundin Meike macht sie sich nach dieser Nachricht auf, um die offene Grenze auszuprobieren und verliert in dem Menschengetümmel zwar Meike, trifft aber auf Oliver. Zwischen den beiden ist ein Erkennen, eine tiefe Verbindung – die Liebe auf den ersten Blick. Meike bleibt für einige Tage bei Oliver am Leopoldplatz im Wedding, die beiden lernen sich immer mehr kennen und wollen sich gar nicht trennen. Als Oliver sie zu ihrer Großmutter nach Hause begleitet, um diese kennenzulernen, erschrickt Momi bei seinem Anblick und seinem Namen zu Tode, bricht zusammen und liegt kurz darauf auf der Intensivstation. Alexandra ist völlig am Boden zerstört und will Oliver nicht wiedersehen, zu groß ist die Angst, Momi zu verlieren, denn sie ist ihre einzige Familie, von der sie so gut wie nichts weiß. Bei Nachforschungen in Momis Schlafzimmer entdeckt sie eine alte Kiste mit Fotos und Zeitungsausschnitten. Als ihre Großmutter wieder bei Bewusstsein ist, drängt Alexandra sie, ihr von der Vergangenheit zu erzählen, denn sie möchte mehr über ihre Familie wissen und vor allem herausfinden, warum Momi so ablehnend Oliver gegenüber ist. Dann beginnt Momi Stück für Stück, ihrer Enkelin von ihrem Leben zu erzählen:
Es ist einer der letzten schönen Tage im Strandbad Wannsee im August 1912…
„Als wir unsterblich waren“ von Charlotte (Lyne) Roth erzählt zum einen die Rahmenhandlung von Alexandra in der Gegenwart des Jahres 1989 und zum anderen die Hauptgeschichte von Paula und Clemens von August 1912 bis Januar 1933. Der Leser wird sowohl in Deutschlands jüngste Vergangenheit entführt, aber das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Zeit der Weimarer Republik, in denen Paula, Clemens, Manfred, Harry, Kutte und ihre Freunde aufwachsen und sich gegen die Ausbeutung der Arbeiter und die Misshandlung von Frauen durch ihre Ehemänner auflehnen und sich politisch engagieren. Man erfährt von knappen Lebensmitteln, vielen Entbehrungen, den täglichen Kampf ums Überleben mit sehr wenig Geld, dem Ausbruch des ersten Weltkriegs und die politischen Hintergründe, die bald zum Aufstreben der NSDAP führten. Aber auch den einfachen schönen Dingen wie einem Tag im Strandbad mit einem Picknick oder der engen Freundschaft untereinander wird Platz eingeräumt. Charlotte Roth schafft es mit ihrem außergewöhnlichen Talent, Geschichten zu erzählen, und einem wunderbaren Schreibstil auf sehr eindrucksvolle Weise, den Leser in die Vergangenheit zu entführen. Man hat das Gefühl, Teil von Paulas Freundeskreis zu sein und sie bei ihrem täglichen Leben zu begleiten. Auch der geschichtliche Hintergrund ist akribisch recherchiert und sehr gut in die Handlung eingebettet. Die Charaktere der einzelnen Protagonisten sind so vielschichtig, individuell und authentisch angelegt, wie man es selten in Romanen findet. Dabei ist Paula der Star unter ihnen, sie ist lebenshungrig, aufopfernd, mitfühlend und einfach zum Verlieben. Sie glaubt an die Liebe und an das Gute im Menschen. Clemens hat ein ausgesprochenes Talent zu reden und zu überzeugen, dabei ist er tief im Inneren ein Zweifler, ein Suchender, eine zerrissene Seele. Paulas Bruder Manfred ist der ewig Kämpfende, Unerbittliche. Oder Kutte: er ist ein Bär von einem Mann, der für seine Freunde durch die Hölle geht und immer zu Hilfe eilt. In jedem von ihnen findet man ein Stück von sich selbst, deshalb wirken sie so vertraut, wie Freunde eben, die man gut kennt.
Charlotte Roth schreibt so authentisch, warmherzig, liebevoll und mit einer Prise Humor, dass man als Leser gar nicht anders kann, als sich von ihrer Geschichte einfangen und hinwegtragen zu lassen. Man findet die Liebe ebenso wie großes Leid, die unendliche Hoffnung auf bessere Zeiten, die Trauer um geliebte Menschen und den Kampf für eine lebenswertere Zukunft. Die Gefühle spielen Achterbahn und sind doch sehr real. In diesem Roman wird deutsche Geschichte wieder lebendig und ganz präsent. Einmal mehr wird einem vor Augen geführt, was unsere Vorfahren für uns getan haben, dass wir heute in Frieden und Freiheit leben können. All das sollte man von einem guten historischen Roman erwarten und genau dies wird hier über alle Maßen erfüllt.
Besser als Charlotte Roth mit „Als wir unsterblich waren“ kann man es nicht machen. Absolute Leseempfehlung für das Highlight 2014. Chapeau!!!