Erschütternd
Das WolfsmädchenNachdem der Historiker Dr. Christian Hardinghaus bereits in seinen Büchern über die Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges berichtet und jeweils Frauen, Männer und den Kindersoldaten eine Stimme gegeben hat, ...
Nachdem der Historiker Dr. Christian Hardinghaus bereits in seinen Büchern über die Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges berichtet und jeweils Frauen, Männer und den Kindersoldaten eine Stimme gegeben hat, erzählt er in "Das Wolfsmädchen" über ein ganz besonderes Schicksal. Stellvertretend für die Gruppe von Kindern, die 1945/46 aus dem ehemaligen Ostpreußen vor den sowjetischen Truppen nach Litauen geflohen sind, spricht Ursula Dorn über ihre Erlebnisse, die teilweise sehr schwer zu verdauen sind. Christian Hardinghaus hat ihr Schicksal in diesem Roman dokumentiert und wieder einen sehr interessanten Zeitzeugenbericht, gemeinsam mit der heute über Achzigjährigen Ursula Dorn, verfasst.
Als elfjähriges Mädchen flüchtet sie aus Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, das bis fast zum Ende des zweiten Weltkrieges verschont blieb. Doch nach dem Kriegsende überrennen die sowjetischen Truppen Ostpreußen und lassen eine Spur der Verwüstung hinter sich. Königsberg wird von den Sowjets besetzt und die Einwohner systematisch ausgehungert. Das ehemalige Ostpreußen gibt es nicht mehr und trotzdem bleiben die meisten Königsberger in der Stadt, wo sie elendig verhungerten. Auch Ursulas Mutter Martha weigert sich mit ihren Kindern die zerbombte Stadt zu verlassen. Als Ursula keine Möglichkeiten mehr sieht irgendwo Nahrung aufzutreiben, springt sie auf den nächsten Güterzug ohne zu wissen, wohin der Zug fährt. Sie landet in Litauen, wo die Menschen noch genug zu Essen haben. Dort wird sie mit Nahrung versorgt, kann sich waschen und endlich wieder in einem Bett schlafen. Nachdem sie sich etwas erholt hat, geht sie zurück nach Königsberg und versorgt die nächste Zeit ihre lethargische Mutter und ihre Geschwister. Doch eines Tages kann Ursula nicht mehr zurück....
Im Großen und Ganzen war mir der Begriff "Wolfskinder" bekannt, jedoch habe ich noch keinerlei Literatur dazu gelesen. Nach dieser erschütternden Lektüre empfinde ich es als großes Versäumnis der Deutschen Republik, dass diese Schicksale totgeschwiegen wurden. Tausende von Kinder mussten täglich um ihr Leben kämpfen. Sie hungerten, frierten und waren völlig auf sich alleine gestellt. Die Schilderungen von Ursula Dorn sind teilweise kaum zu ertragen. Als es auch in Litauen nichts mehr zu holen gibt, weil es den Einheimischen verboten wurde den deutschen Kindern zu helfen, wird die Lage unerträglich. Zwischen den litauischen Partisanen und den sowjetischen Truppen aufgerieben, müssen die Kinder täglich um ihr Leben fürchten. Sie hausen in den Wäldern und verrohen zunehmend. Erst durch die Gefangennahme und Deportierung in die DDR, wird versucht ein "normales" Leben für die ostpreußischen Flüchtlinge wiederherzustellen... Große Hilfe gibt es dabei kaum.
Das Desinteresse von Ursulas Mutter und ihr gefühlskaltes Benehmen hat mich durchgehend entsetzt. Sie hat sich weder um ihre Kinder gesorgt, noch hat sie Verantwortung übernommen. Ursula ist mit ihren zwölf Jahren in die Mutterrolle geschlüpft und hat versucht allen das Leben zu retten. Was für eine Bürde für ein zwölfjähriges Mädchen! Auch wenn man erkennt, dass die Mutter an einer schweren Depression litt, empfand ich ihr Benehmen bereits vor der Vertreibung kaum anders. Meistens hat sich nur der Vater oder die Tante um die Kinder gekümmert.
Positiv fand ich, dass Ursula Dorn ihre Geschichte im hohen Alter erzählte. Sie hat ihre Erlebnisse aufgeschrieben und wollte diese den Menschen mitteilen. Das Schreiben war für sie eine Art Selbsttherapie. Umso unverständlicher war es für mich, dass kein Verlag Interesse an ihrer Geschichte hatte bzw. diese nicht verlegen wollte. Erst viel später wurde ihr Buch doch noch veröffentlicht. 2020 fuhr Ursula Dorn noch einmal nach Kaliningrad. Dieser Besuch war für sie alles andere als einfach und sehr schmerzhaft.
Am Ende des Buches kommen noch zwei weitere ehemalige Wolfskinder zu Wort. Im Abschluss warnen alle drei von einer Eskalation durch den Ukraine Krieg, was mich mehr als beunruhigt zurückgelassen hat.
Fazit:
Wer wie ich bereits mehrere Bücher des Historikers und Autors gelesen hat, weiß wie einfühlsam und hervorragend recherchiert Christian Hardinghaus die Lebensgeschichten der letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges zu Papier bringt. Seine Bücher sind wertvolle Berichte für alle nachfolgenden Generationen und immer wieder eine Leseempfehlung!