Vielschichtig und spannend
Das Kind der LügenHelga Glasener hat uns hier einen sehr interessanten Krimi vorgelegt. Die Handlung spielt im Jahr 1929 und neben der Handlung kommen auch brisante Themen jener Zeit auch zu Tage. Dabei stellen wir fest, ...
Helga Glasener hat uns hier einen sehr interessanten Krimi vorgelegt. Die Handlung spielt im Jahr 1929 und neben der Handlung kommen auch brisante Themen jener Zeit auch zu Tage. Dabei stellen wir fest, es ist nichts Neues unter der Sonne: Gewalt gegen Frauen und Kindern und Tieren ist ja heute noch weit verbreitet. Es geschieht aber nicht mehr im öffentlichen Raum. Damals, 1929, wurde das absolut öffentlich ausgetragen: Ein auf brutale Art und Weise getöteter Hund, ein gepeitschtes Pferd, ein paar in aller Öffentlichkeit sexuell belästigte Frauen? Aber meine Herren, wer wird sich so echauffieren? War doch nur Spaß, die Herren Studiosi haben nur Kurzweil betrieben, alles ganz harmlos. Oder?
Im Nachhinein betrachtet frage ich mich, ob die Studenten zufällig da aufgetaucht sind? (ja, sie tauchen nämlich im weiteren Verlauf des Romans nicht mehr auf). Zuerst wird Signes Hund getötet, Kurz darauf wird Paulas Kollegin und Freundin lebensgefährlich verletzt, sie erliegt dann ihren Verletzungen. Der Leiter der Spurensicherung hat einen Unfall, weil an seinem Auto herum manipuliert wurde. Alles nur Zufälle? Oder auch falsche Spuren, so von der Autorin gelegt, um den Leser zum Raten und Spekulieren zu animieren.
Wo ich einige Fragen hätte: wieso können in Deutschland des Jahres 1929, im Jahr der
Weltwirtschaftskrise und des erstarkenden Faschismus zwei lesbische Frauen offen
miteinander leben und in der gleichen Behörde, sprich Kriminalamt arbeiten? Absolut
unerhört für die Zeit. Aber vielleicht waren die Menschen noch toleranter als vier Jahre
später?
Die drei Familien, die wir hier kennenlernen dürfen, scheinen alle dysfunktional zu sein:
Paulas Eltern können ihre Berufswahl nicht akzeptieren und wollen sie zurück “auf den Pfad
der Tugend” bringen, sprich sie soll heiraten, Kinder kriegen und als Hausfrau ihre Erfüllung
finden. Interessant, dass ausgerechnet Paulas Mutter, am Ende, als sie fast in die Luft
geflogen wäre bei dem Anschlag auf dem Friedhof, zur Besinnung kommt und Paulas Beruf
akzeptiert und gut heißt.
Martins Eltern sind noch schlimmer. Obwohl Student, meldet sein Vater ihn bei den
Rekrutierungsbüros heimlich an, Martin wird eingezogen, er muss in den Ersten Weltkrieg. Was für ein Vater macht so etwas? Riskiert das Leben seines einzigen Sohnes für was? Das deutsche Reich? Auch seine Sprüche im Buch lassen klar erkennen: Herr Bruder Senior ist ein Anhänger der NSDAP reinsten Wassers. Seine Mutter flüchtet sich in Liebesromane wie sie in der “Gartenlaube” gängig sind, baut sich ihre Welt genau nach diesen Romanen aus. So hat sie eine “Gesellschaftsdame”, von der sie träumt, sie und ihr Sohn sollen ein Paar werden, heiraten und glücklich bis ans Lebensende leben, wie in Märchen oder Trivialliteratur. Dass diese Dame ihrem Sohn ein Kind vorgetäuscht hat, 11 Jahre lang, spielt wohl keine große Rolle. Wer sein Leben nach Groschenromanen ausrichtet, geht über solche Betrügereien großherzig hinweg. Wie soll Martin mit diesen Eltern auskommen? Die Mutter ist in ihrer Verblendung wohl noch harmlos, die Verblendung des Vaters wird sich zukünftig böse auswirken.
Dritte Familie, die auch zu diesem Kreis der dysfunktionalen Typen gehört, sind Signes Zieheltern. Signes Ziehmutter lässt kein gutes Haar an ihrer Ziehtochter. Mannstoll sei sie als Kind gewesen, wäre allen Männern nachgelaufen, sie hätte ihr Neugeborenes im Stich gelassen und wäre weggelaufen. und sie, Signes Zieheltern hätten nun auch ihren Sohn großgezogen, da der eigene Sohn in Amerika sei.
Der Kreis schließt sich auf unerwartete Weise. Der Roman beginnt mit einer offiziellen
Hinrichtung. Von Amts wegen müssen zwei der Polizisten, die in diesem Fall ermittelt haben,
anwesend sein. Paula Haydorn und Martin Bruder sind offiziell die Zeugen der Hinrichtung.
Und der Roman schließt mit den Folgen dieser Hinrichtung.
Eigentlich haben wir es hier mit zwei Kriminalfällen zu tun: einmal die Folgen der Hinrichtung
von Mette und zweitens die Entführung von Signes kleiner Tochter. Hinzu kommt noch die
sich vielleicht und eventuell anbahnende Liebesgeschichte zwischen Paula und Martin. Auf eine Fortsetzung dieser Romanserie können wir hoffen. Vielleicht erfahren wir dann auch wie es mit Paula und Martin weitergeht.
Christiane Marx macht einen phantastischen Job als Vorleserin in diesem Hörbuch. Die Bandbreite und Modulierbarkeit ihrer Stimme ist phänomenal. Vor allem, wenn die Autorin Signe mit anderen Personen im Buch zu Wort kommen lässt, kann man das sehr gut hören.