Großes (Kurzfilm-)Kino
Miss Kim weiß BescheidMit Kurzgeschichten ist das ja immer so eine Sache. Rein persönlich. Manche Einzelgeschichten sind dermaßen brillant, dass es fast schade ist, dass die Figuren nur über wenige Seiten begleitet werden. ...
Mit Kurzgeschichten ist das ja immer so eine Sache. Rein persönlich. Manche Einzelgeschichten sind dermaßen brillant, dass es fast schade ist, dass die Figuren nur über wenige Seiten begleitet werden. Manche Sammlungen sind oft so unterschiedlicher Natur, die Qualität so schwankend, dass am Ende eher eine durchschnittliche Meinung herauskommt. Cho Nam-Joos „Miss Kim weiß Bescheid“ ist da eine sehr erfreuliche Ausnahme: acht Erzählungen, acht Frauenschicksale – fast alle auf hohem Niveau und ihrer Länge genau richtig.
Eine Frau besucht ihre ältere Schwester im Pflegeheim. Eine andere schreibt einen Abschiedsbrief an ihren Nun-bald-Ex-Freund. Eine Schülerin hadert mit ihrer ersten Liebe während der Corona-Pandemie. Eine Lehrerin erfüllt sich einen Lebenstraum. Eine Tochter sucht ihren Vater. Eine Autorin besucht ihre ehemalige Lehrerin. Eine neue Mitarbeiterin wundert sich über mysteriöse Vorkommnisse in ihrer Firma. Zwei Schülerinnen wehren sich gegen sexuelle Übergriffe.
Alle Geschichten haben etwas gemeinsam: gesellschaftliche Probleme und starke Frauen. Und direkt das Wichtigste für alle Leser:innen, die hoffen oder fürchten, dass es sich bei den Problemen um rein koreanische handelt – nein. Hatespeech, sexuelle Übergriffe, Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz und Gaslighting sind leider auch bei uns Alltag. Die Protagonistinnen leiden darunter, wehren sich, schaffen ihren eigenen neuen Platz im Leben.
Frauen, die nach dem Tod ihres Mannes und/oder Sohnes neu aufleben. Frauen, die plötzlich Fck it und Fck you denken. Frauen, die sich gegen klassische Rollenbilder wehren. Ganz stark. Und auch die Autorin selbst wird zu einer Geschichte, so scheint es, so liest es sich in „Trotz“, in der die Figur beschreibt, wie sie nach ihrem Romandurchbruch gefeiert, aber auch angefeindet wurde, so wie Cho Nam-Joo nach ihrem Erfolg mit „Kim Jiyoung, geboren 1982“.
Die vielleicht schwächste Geschichte ist die letzte, einer ersten zarten Händchen-Halten-Liebe, der die Pandemie dazwischengrätscht, auch wenn auch diese ihren ganz eigenen Charme hat. Richtig stark dagegen: „Die Nacht der Polarlichter“, in der eine Endfünfzigerin ihren Lebenstraum erfüllen möchte und mit ihrer Schwiegermutter nach Kanada reist, um Polarlichter zu sehen, statt sich um ihren Enkel zu kümmern. Und „Lieber Hyunnam“, in der eine Frau einem Mann per Brief erklärt, warum sie ihn nicht heiraten wird und die mit den passendsten Schlussworten für ihre gemeinsame, toxische Beziehung endet.
Und auch wenn die Geschichten alle so global gültig sind, nimmt Cho Nam-Joo die Leser:innen dennoch mit auf eine spannende Reise in den koreanischen Alltag, in die Kultur, die Küchen, die Leben südkoreanischer Familien. Im Guten, wie im Schlechten skizziert sie die Schicksale, die Lebenswelten, die so allgemeingültig sind, dass jede:r seine und ihre Lehren daraus ziehen kann – und trotzdem noch Lust hat, einmal selbst in das asiatische Land zu reisen, wenn noch nicht geschehen. Großes (Kurzfilm-)Kino!