Der Dschungel der Erwachsenenwelt
Das kleine Mädchen Claudia lebt mit ihrer Mutter gleichen Namens und ihrem Vater, der um viele Jahre älter als seine Frau ist, in einer Wohnung voller Pflanzen. So wie ihr Zuhause einem Dschungel gleicht, ...
Das kleine Mädchen Claudia lebt mit ihrer Mutter gleichen Namens und ihrem Vater, der um viele Jahre älter als seine Frau ist, in einer Wohnung voller Pflanzen. So wie ihr Zuhause einem Dschungel gleicht, so undurchdringlich und voller Gefahren erscheint ihr auch das Leben der Erwachsenen. Dies wird besonders in dem Moment deutlich, in dem Claudias Mutter und der jüngere Lebenspartner ihrer Tante sich füreinander zu interessieren beginnen und das dem Kind bekannte, so verlässliche Konstrukt aus Vater-Mutter-Tochter mehr und mehr zu einem Tanz entlang des Abgrunds wird.
Der Roman zeichnet sich dadurch aus, dass er Claudias Perspektive und ihre begrenzten Erkenntnishorizonte mit ihrer unzuverlässigen Erzählstimme geradezu perfekt ausleuchtet. Vieles wird nicht gesagt, ausgelassen, nicht weiter erörtert – einfach deshalb, weil es Claudias Fassungsvermögen völlig übersteigt. Das ist sehr eindrucksvoll und gibt dem Leser nicht nur sehr viel Raum zu eigenen Interpretationen, es erzeugt auch ein bedrohliche Grundstimmung: denn die Situationen, die Claudia nicht versteht, die am Rande ihrer Wahrnehmung liegen, erschaffen in ihr eine latente Angst und Sorge, besonders hinsichtlich ihrer Mutter, die immer wieder mit psychischen Problemen zu kämpfen hat, die sie „Heuschnupfen“ nennt. Dadurch dass Claudia mit der familiären Situation, aber auch mit einem grundlegenden Verständnis der Lage ihrer Eltern überfordert ist, bleiben die erwachsenen Figuren recht mysteriös. Trotz aller Hintergrundinformationen zu Herkunft und Werdegang, die recht detailliert dargeboten werden, kommt Claudia ihren Eltern nie wirklich nahe – und so geht es dann auch dem Leser.
„Abgrund“ ist ein faszinierender Roman, der den Dschungel des Lebens dem Abgrund der Krankheit und des Todes gegenüberstellt und auf feinfühlige Weise einen Einblick in eine Kinderseele gewährt, die sich Sprachlosigkeit und einer depressiven Mutter gegenübersieht und mit der Problematik sehr allein gelassen wird. Eine authentische Erzählstimme in einer eindrücklichen Geschichte, die allerdings nicht vollends zu berühren vermag.