Ein Stillleben in Worten
Männer sterben bei uns nichtZum Tod der Großmutter kommen sie alle zusammen. Alle Frauen. Da ist Luise, der Augenstern der Großmutter, und die Erbin des Anwesens am See. Luise, die sich an vieles scheinbar nicht zu erinnern vermag, ...
Zum Tod der Großmutter kommen sie alle zusammen. Alle Frauen. Da ist Luise, der Augenstern der Großmutter, und die Erbin des Anwesens am See. Luise, die sich an vieles scheinbar nicht zu erinnern vermag, die vieles nicht zu wissen scheint. Und all die anderen Frauen, die sich nicht in der Gunst der Großmutter hatten sonnen dürfen. Verstoßene Frauen, verachtete Frauen und sogar verschwunden gewesene Frauen. Nur keine Männer.
Das Cover des Romans von Annika Reich schmückt ein prächtiges Stillleben, und ebenso erschien mir beim Lesen auch der Inhalt der Erzählung: Wie eine Anordnung prachtvoller Komponenten mit geheimnisvoller Bedeutung. Staunend betrachte ich nicht nur die Sujets auf der Bildkomposition, sondern auch die Parade der Frauen und deren Begegnungen und Gespräche in der Textkomposition. Und wie ein Stillleben leblose Gegenstände zeigt, fühlt es sich beim Lesen stellenweise an, als würden mir leblose Seelen gezeigt. Vieles bleibt rätselhaft, so wie Luises Gedächtnis, das ihr vieles unterschlägt oder sie Dinge anders sehen und bewerten lässt. Der Einfluss der Großmutter wirft lange Schatten. Bereitwillig hatte Luise zu deren Lebzeiten die Deutungshoheit an diese abgegeben. Oft frage ich mich beim Lesen, wie ihr die wahren Zusammenhänge entgehen konnten – doch auch mir entziehen sie sich beim Lesen nur allzu gerne, so dass mir stellenweise nur die staunende Betrachtung der geschilderten Momentaufnahmen bleibt. Und hinter allem thront im Hintergrund unheilverkündend und symbolträchtig das Anwesen am See.
Wer es schafft, diesen Kurzroman wie ein bildhaftes Kunstwerk als Gesamteindruck in sich aufzunehmen, wird mit Eindrücken und Andeutungen gefüllt. Wer sich eine klare Deutung wünscht, wird von der Geschichte enttäuscht sein.